Katja - Leben, und wie weiter

Katja - Leben, und wie weiter

Stephan Kracht


EUR 26,90
EUR 16,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 498
ISBN: 978-3-903271-86-9
Erscheinungsdatum: 18.01.2021

Kundenbewertungen:

5 Sterne
Meine Meinung - 08.07.2021
René Müller

Stephan Kracht`s Buch hat mich sehr positiv überrascht. Eine Bekannte von mir hat es mir geliehen, ich solle es unbedingt lesen. Naja es lag dann ein paar Wochen bei mir „vergessen“ herum. Aber meine Freundin ließ nicht locker. Nach einer Familienfeier habe ich es dann endlich gelesen. Was soll ich sagen, irgendwann konnte ich es nicht mehr weglegen und lese es jetzt ein zweites Mal. Ich finde immer wieder Neues, was ich beim ersten Mal einfach überlesen habe. Das Buch ist spannend bis zur letzten Seite und hat keine ewig ausschweifenden Selbstdarstellungen. Wer Herzschmerz, feinen Humor und eine spannende Story möchte, der sollte zugreifen.René

5 Sterne
Super - 14.02.2021
Stephan

„Katja“, bedeutet mir sehr viel, da ich die Möglichkeit hatte bei der Entstehung dabei gewesen sein zu dürfen. Ich kann dieses Buch jedem empfehlen.Viel Spaß beim Lesen, Stephan

1

Ein Wochentag wie ungezählte andere. Fußgänger hasten, Fahrräder klingeln und Autos hupen. Alltägliche Hektik in der großen Stadt. Keiner scheint Zeit zu haben zwischen Arbeit, Einkauf oder Schule. Nur wenige, vor allem Ältere, sitzen im Straßencafé und gönnen sich eine kleine Auszeit.

Früher Nachmittag. Die alleinstehende Sandra steht mit ihrem Kleinwagen aus zweiter Hand vor der Schule, in die ihre achtjährige Katja geht. Sie ist, wie häufig, etwas zu früh angekommen, weil sie direkt von der Arbeitsstelle hergefahren ist. In wenigen Minuten wird ihre quirlige und aufgeregte Tochter ins Auto steigen. Besser hineinstürzen und versuchen, in einer Minute den ganzen Schultag zu erzählen. Sandra nutzt die kurze Wartezeit, um noch einmal tief durchzuatmen. Sie holt tief Luft. Geht im Kopf durch, was heute noch ansteht.
Sie ist heilfroh, dass Katja die Trennung und die anschließende Scheidung vom Vater so gut verkraftet hat. Diesen Entschluss bereut sie nicht. Ihr Ex war oft sehr demoralisiert und schlug dann schon mal zu. Über die Jahre ist es allmählich schlimmer geworden. Begebenheiten sind zunehmend häufiger eskaliert. Er hatte seine Aggressionen längst nicht mehr im Griff. In ihr nagte stets die Angst, dass er irgendwann auch die gemeinsame Tochter schlägt, diesen kleinen schusseligen Wirbelwind. Sie sah sich gezwungen, den Kollegen in der Firma gegenüber öfter Ausreden für blaue Flecken, ein geschwollenes Auge oder eine aufgeplatzte Lippe zu erfinden. Nur glaubte dort niemand mehr recht diese Geschichten. Tausendmal hatte er sich entschuldigt, versprochen, dass es nie wieder passiert. Sie hat ihm viel zu oft geglaubt und er vergessen. Neue Entschuldigungen und erneutes Vergessen. Immer wieder Bitten um Vergeben und Verzeihen. Eine scheinbar nie enden wollende Spirale aus Angst, Entschuldigungen, Verzeihung, Verzweiflung, Schuldgefühlen, Verletzungen, Ohnmacht – verbal und körperlich. Streiten, versöhnen, verschweigen, fürchten, bereuen, schämen. Begleitet von dieser unsäglich lähmenden Heidenangst …
Am Ende hatte er sogar eine Antigewalttherapie angefangen. Die Termine hatte er nur sporadisch besucht und sie als Alibi benutzt. Während einer angeblichen Sitzung hatte er ihr vermummt aufgelauert und sie überfallen. Auch hatte er sich selbst verletzt, um sie dafür bei der Polizei anzuzeigen. Fortwährend versuchte er, sie unglaubwürdig darzustellen: Sie würde sich alles nur einbilden, hatte er ihr und anderen versucht einzureden. Alles hat sich, dank engagierter Nachbarn, aufklären lassen. Eine langjährige Haftstrafe war das Resultat für ihn. Sie hat die Scheidung aus Härtegründen eingereicht und das alleinige Sorgerecht erhalten. Nun lebt sie mit Katja allein und ist damit mal mehr, mal weniger zufrieden. Obwohl sie sich schon manchmal einen Partner und für ihr kleines Mädchen einen Vater wünscht, es gab ja nicht nur schlimme Zeiten.
Vollkommen in Gedanken versunken schreckt sie auf, als die Beifahrertür geöffnet wird. Eine kurze Umarmung, ein flüchtiger Kuss auf die Wange, worauf sich ein Redeschwall über sie ergießt. Aus Katja sprudelt es nur so heraus, ohne Punkt, Komma und Atempause. Sie wundert sich immer wieder darüber. Wann holt ihre Tochter eigentlich Luft? Wiederholt vergisst sie dabei das Anschnallen. Da sie nicht zu Wort kommt, lächelt sie nur, denn ihrem kleinen Mädchen geht es gut und damit auch ihr. Was würde sie nur ohne diese überschäumende Lebensfreude anfangen?
„Katja, bitte schnall dich an!“ Erst nachdem der Gurt angelegt ist, startet sie den Motor und fährt los. Das kurze Stück zum Supermarkt und eine halbe Stunde später nach Hause.

Sie fährt ruhig und sicher, eher zu langsam als zu schnell. An einer roten Ampel bleibt sie stehen. Die abschüssige Straße ist sehr eng, so dass die Räder der Fahrerseite auf dem Streifen dunklen Kopfsteinpflasters, welches die geteerte Fahrbahn vom Gleis trennt, neben den Straßenbahnschienen stehen. Anders kann man hier nicht halten, außer man riskiert, einem der wartenden Fahrgäste auf dem Bürgersteig zu nahe zu kommen. Ihre Tochter redet immer noch, wenn auch nicht mehr ganz so überschwänglich. Im Rückspiegel erkennt sie einen sich nähernden PKW, der hinter ihr stehenbleibt. Auch die sich nähernde Straßenbahn nimmt sie flüchtig wahr. Es ist ein Haltestellenbereich. Sie konzentriert sich wieder auf die Ampel und auf die Menschen, die vor ihr die Kreuzung überqueren. Unerwartet ist hinter ihr ein gewaltiger Krach. Für einen Blick in den Rückspiegel reicht die Zeit nicht mehr. Metall schiebt sich über Metall, schreit schmerzend schrill beim Zerfetzen. Etwas Titanisches trifft ihr Fahrzeug. Klirrend splittern Scheiben. Das Sicherheitsglas der beiden Autos rieselt mit einem Geräusch zu Boden, als wären es kleine Kieselsteine. Frauen, Kinder und Männer, die auf die Tram warten, weichen aufschreiend zurück oder bleiben schreckensstarr gelähmt stehen.
Eine penetrant nach verbranntem Gummi stinkende Wolke strömt die abschüssige Straße hinunter. Breitet sich schnell aus. Aus dem aufgerissenen Kofferraum rollen Äpfel und Tomaten bis über die Mitte der Kreuzung. Dort kommt die Straßenbahn endlich zum Stehen.



4

Zehn Stunden Bahnfahrt mit mehrmaligem Umsteigen liegen hinter ihm. Endlich fährt sein Zug auf Gleis 15 seiner Heimatstadt ein. Langsam geht er am Zug entlang Richtung Ausgang. Dass ihn fast alle überholen, stört ihn nicht, er hat es nicht eilig. Den ihn umgebenden Lärm nimmt er zwar deutlich wahr, kann ihn aber recht gut filtern. Was weiter weg geschieht, blendet er aus seinem Bewusstsein aus, nur die unmittelbare Umgebung ist wichtig. Der ganze Zug, aber besonders der Triebwagen, strömt einen unangenehm stechenden Geruch nach verbrannter Bremsflüssigkeit und heißen Schmiermitteln aus. Ausschließlich diese lästigen Begleiterscheinungen lassen ihn weiterlaufen. Viel lieber würde er sich auf die nächste Bank setzen, das Gefühl genießen, wieder zu Hause angekommen zu sein.
Am Übergang zum Querbahnsteig befindet sich ein Bäckerkiosk. Im lärmenden Trubel der dahineilenden Menschen bleibt er müde und unschlüssig mit seinem Rollkoffer stehen. Kauft er hier einen Kaffee, muss er ihn im Stehen trinken. Zwei Etagen tiefer, nur ein paar Schritte vom Supermarkt entfernt, in dem er sowieso noch ein paar Lebensmittel einkaufen möchte, könnte er den Kaffee an einem für Bahnhofsverhältnisse ruhigen Platz im Sitzen genießen. Es wartet ohnehin niemand auf ihn.
Etwas streift ihn an seiner hinteren Hosentasche. Er greift unbewusst, reflexartig nach seinem Portemonnaie und hat das Handgelenk eines Kindes erhascht. Eher verblüfft und erstaunt als verärgert dreht er sich langsam um. Ein Mädchen, dessen Haarschopf sich zwei Handbreit unterhalb seiner Schulter befindet, so dass er erst einmal nach unten schauen muss, steht vor ihm. Er hält sie weiter. Nicht sehr fest. Sie könnte ihre Hand mit einem kleinen plötzlichen Ruck sicherlich einfach befreien und weglaufen.
Sie steht wie gelähmt, der Griff kam zu plötzlich. Noch nie hat jemand so schnell bemerkt, wie ihre kleinen, flinken Finger nach einer Brieftasche fassten. Schon gar nicht so ein erschöpft aussehender Typ. Es ist anders als sonst. Ein interessierter Blick, der beim Kopf beginnt, dann langsam zu den schäbigen Turnschuhen herabsinkt und sich genau so langsam wieder zum Kopf hocharbeitet. Wo bleibt das laute Schimpfen? Die Rufe nach der Polizei? In der Vergangenheit schon oft gehört, ehe sie wegrannte. Ihre Umgebung versinkt, als wäre sie nie vorhanden gewesen. Nach oben sehen, seine Hand an ihrem Arm spüren, das ist im Augenblick die ganze Welt. Warum schreit der nicht: Polizei, Polizei? Oder hält mir eine Standpauke? Der steht einfach nur da und gafft mich an.
Sein Blick fällt auf Haare, die wie abgebrochene Strohhalme nach dem Herbststurm aussehen, in einer undefinierbar blonden Farbe und ungewaschen. Ein schmales Gesicht mit uferlos aufgerissenen Augen. Geweitete, starre Pupillen blicken ihn an. Er kann die Angst buchstäblich riechen. Auch den rasenden Puls an ihrem Handgelenk spüren, deshalb löst er seinen Griff.
Aufflackernde Angst schnürt ihr den Atem ab, lässt sie weiter wie angewurzelt vor ihm stehen. Aber diese Augen hinter der dunklen Brille wirken nicht böse oder vorwurfsvoll. Sie scheinen einfach aus dem Himmel auf sie hinunter zu schauen. Durchleuchten sie. Wissen alles von ihr und strahlen dabei eine atemberaubende Ruhe aus. Sie ziehen sie so in ihren Bann, dass sie ihre Angst vergisst. Der Gedanke zu fliehen ist ihr in dem Moment entfallen.
Der Geruch nach schierer Angst ist so schnell verflogen, wie er gekommen ist. Das kleine Mädchen scheint in ihm etwas zu sehen, was eine ausführliche Betrachtung lohnt. Voll gespannter Unentschlossenheit und Neugierde steht sie da.
Beide stehen so mehrere Sekunden. Für sie eine abgeschlossene Oase der Ruhe. Kein Laut dringt an ihre Ohren. Nur diese Augen, die im Himmel schwebend auf sie hinunterblicken, sind noch vorhanden.
Völlig überraschend: „Wen habe ich mir denn da eingefangen? Hast du Hunger?“
Diese Worte lösen ihre Trance. Der Bahnhof ist wieder da mit all seinem chaotischen Lärm, seinen wirren Düften, kunterbuntem Trubel und in alle Himmelsrichtungen laufenden Menschen. Jetzt könnte ich einfach wegrennen. Sie bleibt stehen. Ganz ist die surreale Magie noch nicht gebrochen.
Da sie nicht reagiert, mit mehr Nachdruck: „Du siehst hungrig aus. Kann ich dir etwas zu essen anbieten? Ich glaube, du könntest etwas vertragen.“ Er gibt einem Bettler sonst nie auch nur einen Cent, mit Ausnahme von Straßenmusikern, die in ihm etwas berühren. Aber diesem kleinen Mädchen gegenüber handelt er einfach, ohne auch nur einen Gedanken an so etwas wie Geld zu vergeuden.
Sie nickt automatisch, ohne die Augen von ihm abzuwenden. Die Bedeutung seiner Worte erfasst sie nicht sofort. Zu unerwartet ist deren Inhalt. Kommt jetzt das dicke Ende? Nein, der lächelt ja sogar. Was hat der gesagt? Verwirrung, Zweifel stehen ihr kurz ins Gesicht geschrieben.
Er bemerkt das Zögern und lässt ihr keine weitere Zeit für lange Überlegungen. „Was möchtest du haben?“, wobei er mit einer Handbewegung auf die verführerisch duftenden Auslagen des Bäckerstandes weißt.
Meint der das ernst? Ungläubig, zögerlich deutet sie auf den Käsekuchen.
„Ein Stück genügt dir? Willst du nicht lieber zwei?“ Da sie weiter zögert, hakt er nach: „Vielleicht noch etwas für später?“
Es folgt ein etwas deutlicheres Nicken. Der meint das wirklich. Kuchen, da ist ja wie Sonntag. Ihre Bewegung erfolgt eher wie: Eigentlich will ich ja gar nicht, aber ich möchte ihn auch nicht enttäuschen. Sie deutet noch zaghafter auf die Pfannkuchen.
Die Verkäuferin erkundigt sich bei ihm: „Mit Zuckerstreusel oder Glasur?“
Die Stimme der Verkäuferin, obwohl nicht direkt an sie gerichtet, bricht den suggestiven Zauber. Ihre kleinen Finger zeigen sofort auf die mit Glasur.
Er lächelt über diese plötzlich aufflammende Willensbekundung. Er kauft sich seinen Pott Kaffee im Pappbecher mit Plastikdeckel und ihr den Kuchen. Da er mit der anderen Hand nach seinem Koffer greift, gibt die Verkäuferin ihr die Kuchentüte. „Hast du noch Lust, mir ein wenig Gesellschaft zu leisten, während ich meinen Kaffee trinke?“
Sie nickt nur stumm. Ich muss mir schnell was einfallen lassen. Du dumme Gans, hau jetzt endlich ab. Er kann seine Hände nur nutzen, wenn er Koffer oder Kaffee aufgibt. Außerdem dreht er mir den Rücken zu. Eine innere Stimme flüstert: „Folge ihm! Der ist anders, folge ihm!“ Ihre Beine gehen einfach los.
„Komm!“
Er ist bereits drei Schritte fort. Aber sie nickt erneut, obwohl er das ja nicht sehen kann, und läuft, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, neben ihm her. Ich könnte doch einfach weglaufen. Außerdem was soll das heißen, „komm“? Wohin und, noch wichtiger, warum? Der hat mir nichts getan. Wieso? Das ist mir noch nie passiert. Der Typ ist ganz schön groß. Weshalb kauft der mir überhaupt etwas? Will der irgendwas von mir? Nein, der hat gefragt. Keine Spur einer Forderung. Ich bin doch eigentlich nichts für ihn. Viele Fragen und keine Antworten. Ihr ist weder klar noch bewusst, was sie veranlasst neben ihm zu bleiben. Da ist etwas in ihr, das ihr ständig wortlos zuflüstert: „Bleib, bleib.“
Kurze Zeit später sitzen sie eine Etage tiefer nebeneinander auf einer Bank ohne Lehne, mitten im lebhaften Treiben des nachmittäglichen Bahnhofs- und Einkaufsrummels. Sein Koffer an der Stirnseite der Sitzgelegenheit. Kaffee und Kuchen zwischen ihnen. Einzelne und kleinere Gruppen von Menschen, mit und ohne Gepäck, laufen schlendernd oder hastig vor und hinter ihnen vorüber. Bis jetzt hat sie noch kein Wort gesprochen, schaut ihn nur an. Die Hände im Schoß sieht sie aus wie ein wohlerzogenes braves Mädchen, auch wenn ihr sonstiges Äußeres einen krassen Gegensatz dazu bietet. Da ist kein sauberes adrettes Kleidchen, sondern ungewaschene, verschlissene und zerrissene Sachen. Das Oberteil schmutzig, mit Löchern wie aus der Mülltonne. Die Jeans und Schuhe sehen auch nicht besser aus. Gesicht und Hände wirken ungewaschen. Und das frische Backwerk duftet verlockend. Sie berührt es nicht. Im Wohnheim gibt es so leckeren Kuchen nur bei besonderen Anlässen. Dort müssen alle warten bis die Betreuerin ausspricht, dass alle anfangen dürfen. So sitzt sie wartend, jede verstreichende Sekunde qualvoll.
Erst als er sagt „Das ist dein Kuchen oder wartest du noch auf jemanden?“, beginnt sie zu essen.
Sie schlingt den Käsekuchen hastig, gierig hinunter. Bekommt prompt einen Schluckauf. Zu Hause, das was offiziell so heißt, dort wo sie ein Zimmer hat und meistens schläft, da versucht der dicke Hans, weil sie klein und schwächlich ist, wenn die Helferin kurz woanders hinsieht, ihr immer etwas vom Teller zu stibitzen.
Er sagt nur: „Iss langsam, den nimmt dir niemand weg. Außerdem verdaust du auch besser.“ Dann gibt er ihr einen Schluck Mineralwasser aus seiner mitgeführten Reiseverpflegung, damit der Schluckauf weggeht.
Das erste Wort von ihr ist: „Dankeschön!“
„Nanu, ich dachte schon, du bist stumm.“
Sie schüttelt nur den Kopf, weil sie inzwischen herzhaft in den Berliner gebissen hat, und etwas Erdbeermarmelade ihr am Mundwinkel hinunterläuft. Sie versucht mit der Zunge, den süßen Leckerbissen zu erreichen. Ein Bild, welches ihm abermals ein Lächeln abfordert. Sie isst jetzt aber wesentlich langsamer. Er schaut ihr zu und schlürft dabei schlückchenweise den schwarzen ungesüßten Kaffee.
Aus dem Umgebungslärm hebt sich auf einmal das winselnde Quietschen von Kofferrollen ab. Gepolter, gemischt mit einem metallischen Geräusch, folgt. Irgendetwas fällt zu Boden. Ein Mann flucht: „Können Sie nicht aufpassen?“ Eine stolpernde Schrittfolge ist zu hören und eine Person fällt auf ihn. In Wirklichkeit mehr über ihn. Aber er hat schon kurz vorher den Kopf etwas eingezogen. Sich minimal nach hinten gelegt. Dabei hat er eine viertel Drehung mit dem Oberkörper in Richtung des Lärms begonnen. Gleichzeitig greift er zu und hat eine junge Frau im Arm, die er gerade noch vor dem endgültigen Hinfallen bewahren kann. Das Ganze ging so schnell, das Katja nicht einmal bemerkt hat, wann er den Kaffeebecher abgestellt hat.
„Nanu? Eine zweite junge Dame, an einem Tag?“
„Mist. T’schuldigung, wollt ich nicht.“
„Haben Sie sich verletzt?“
„Nein. Sorry, ist mir unangenehm“, schon eilt sie davon. Entschwindet zwischen Reisenden und neugierig in die Schaufensterauslagen sehenden Menschen.
Die Kleine klaubt mit nach vorn geneigtem Kopf auch das letzte Krümelchen vom Pappteller.
„Sind Sie Polizist oder so was?“, fragt sie mit gesenktem Kopf.
„Nein. Auch nicht so was.“ Für einen kurzen Moment sehen diese Augen in sie hinein. Scheinen ihre Gedanken lesen zu können.
Ihr wird mulmig. Hat er mich durchschaut? Doch dann ist alles wieder genau wie zuvor. War das jetzt Einbildung?
Während sie noch grübelt, fragt er scheinbar belustigt: „Nun, der größte Hunger gestillt?“
Sie nickt, gedanklich leicht abwesend.
„Bist du öfter im Bahnhof?“
„Ab und zu“, sagt sie ausweichend nickend.
So beginnt ein recht einseitiges Gespräch. Er möchte keine zu tief gehenden Fragen stellen, und etwas sagt ihr: „Lüge ihn nicht an. Lügen sind überhaupt nicht gut.“
Eine Dreiviertelstunde nach ihrem Aufeinandertreffen verabschieden sie sich. „Es hat mich gefreut, dich kennenzulernen. Wenn du mich wieder mal siehst, sprich mich an und greif nicht nach meinem Geld.“
Es klingt für sie überhaupt nicht vorwurfsvoll, sondern wie eine ehrlich gemeinte Aufforderung. Sofort schießt ihr durch den Kopf: Er hat es bemerkt. Mit gesenktem Kopf sagt sie: „Dankeschön, der Kuchen war lecker.“
„Bedanke dich bei der Verkäuferin. Ich habe ihn nicht gebacken. Mach’s gut!“, sagt er freundlich, dabei wendet er sich bereits ab. Geht zügig mit seinem Gepäck in Richtung Rolltreppe.
Sie schaut hinter ihm her, bis er die schiefe Ebene soweit heruntergerollt ist, dass er aus ihrem Blickfeld verschwunden ist. War das jetzt ein Traum? Nein, den Kuchen habe ich gegessen, bin wirklich satt. Ob ich den noch mal wiedersehe? Ist er zurück- oder als Besucher gekommen? Ein Gefühl als hätte sie einen für sie wichtigen Menschen getroffen und wieder verloren beherrscht für kurze Zeit ihre Gedanken. Der hat was.

Er kauft im Bahnhofssupermarkt noch ein paar Grundnahrungsmittel wie Brot und Käse. Anschließend läuft er nach Hause. Nach wenigen Minuten angekommen räumt er seinen Koffer aus, sortiert sofort die Schmutzwäsche und packt die ersten Sachen in die Waschmaschine. Später setzt er sich ins Wohnzimmer, denkt noch ein wenig über die vergangenen Tage nach. Der Begegnung auf dem Bahnhof widmet er ebenfalls eine Weile. Obwohl er innerlich lächelnd an die Episode denkt, geht er nicht davon aus, dass er das Mädchen wiedersieht. Dann kehrt er endgültig in seinen Alltag zurück. Sieht die Post durch, setzt sich anschließend an den Computer, liest und beantwortet E-Mails, trägt Termine in den Kalender ein, bereitet den kommenden Tag vor. Zu vorgerückter Stunde hängt er noch die Wäsche auf und schaut ein Video. Etwas Leichtes zum Entspannen und Abschalten. Weit nach Mitternacht geht er zu Bett. Für ihn ein Abend wie schon ungezählte zuvor. Oh, das ist nicht ganz richtig, er könnte auf Anhieb sagen, wie viele Tage und Nächte es schon so abläuft. Er hat sich in seinem Alleinsein gut eingerichtet.

5 Sterne
Meine Meinung - 08.07.2021
René Müller

Stephan Kracht`s Buch hat mich sehr positiv überrascht. Eine Bekannte von mir hat es mir geliehen, ich solle es unbedingt lesen. Naja es lag dann ein paar Wochen bei mir „vergessen“ herum. Aber meine Freundin ließ nicht locker. Nach einer Familienfeier habe ich es dann endlich gelesen. Was soll ich sagen, irgendwann konnte ich es nicht mehr weglegen und lese es jetzt ein zweites Mal. Ich finde immer wieder Neues, was ich beim ersten Mal einfach überlesen habe. Das Buch ist spannend bis zur letzten Seite und hat keine ewig ausschweifenden Selbstdarstellungen. Wer Herzschmerz, feinen Humor und eine spannende Story möchte, der sollte zugreifen.René

5 Sterne
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Stephan

„Katja“, bedeutet mir sehr viel, da ich die Möglichkeit hatte bei der Entstehung dabei gewesen sein zu dürfen. Ich kann dieses Buch jedem empfehlen.Viel Spaß beim Lesen, Stephan

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