Jakobsweg - Pilgern beflügelt
Eugen Spirig
EUR 27,90
EUR 16,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 204
ISBN: 978-3-99038-873-0
Erscheinungsdatum: 27.04.2015
Die Geschichte, wie ein winziger Gedanke so stark wird, bis alles weitere sich wie von selbst fügt und wir plötzlich durch ein Tor zum Praza do Obradoiro schreiten und mit überwältigendem Gefühl vor der Kathedrale dankbar auf die Knie fallen.
Vorwort
Es ist ein Jahr später. Am 07.06.2011 morgens um 7:00 Uhr holt uns Emanuel, unser Schwiegersohn, zu Hause ab und fährt uns routiniert und sicher nach Zürich zum Busbahnhof. Dieser befindet sich gleich neben dem Landesmuseum. Dort wartet bereits ein Alsa-Bus, der uns nach Burgos bringen wird. Für die Anreise wählen wir den Bus, weil es mit dem Flugzeug keine vernünftige Verbindung gibt und es mit dem Zug um ein Vielfaches komplizierter und auch teurer wäre.
Ohne einmal umzusteigen erreichen wir Burgos. Das ist der Ort, wo wir letztes Jahr zwangsgestoppt wurden. In Zürich waren wir bloß drei Passagiere, nun, nach 12 Aufpick-Stopps in Bern, Fribourg, Lausanne, Genève usw., sind alle Plätze besetzt.
Das Wetter letzte Nacht war abwechslungsreich, so hat es zum Beispiel um 1:10 Uhr in Bordeaux sehr heftig geregnet. Regen löste sich mit noch mehr Regen ab mit unregelmäßigen Unterbrüchen. Wir sind also mental auf unbeständiges Wetter eingestellt.
Nach 1500 Kilometern und 22 Stunden Fahrt, mit pünktlichen Pausen alle drei Stunden, erreichen wir um 7:55 Uhr, genau fünf Minuten vor der angegebenen Zeit, unser Ziel. Wir staunen!
Nach dem Umziehen im Busbahnhof, den wir ja schon kennen, sind wir bereit, um loszugehen.
08.06.2011, Mittwoch
Burgos ñ Tardajos
Heute, am ersten Pilgertag, wollen wir die Sache relativ vorsichtig angehen und planen deshalb nur ungefähr 10 Kilometer weit zu gehen. Zuerst führt uns der Weg zur berühmten Kathedrale, ungefähr einen Kilometer weit. Dort ist gleich nebenan eine Herberge, von der wir einen Stempel für unseren Credencial del peregrino abholen möchten. Um diese Zeit ist aber leider die Herberge nicht geöffnet und deshalb geben wir uns mit dem Burgos-Stempel, welchen wir exakt heute vor einem Jahr vom Hotel Cordon, in dem wir eine Woche lang wohnten, bekommen haben, zufrieden. Das ist nicht so schlimm, aber ein bisschen schade. Was auch nicht schlimm ist und kein bisschen schade, sehen wir am Himmel. Das Wetter hat sich dramatisch gebessert. Beim herrlichen Frühstück, das wir in einem uns bekannten Café einnehmen, werden unsere Verwandten und einige Freunde per SMS darüber informiert, dass wir in Burgos gut angekommen sind und gleich aufbrechen werden. So geschieht das auch.
Es ist schon fast unglaublich, wie schnell sich das Caminogefühl wieder einstellt. Der Balsam für Geist und Seele fängt bereits leise an zu wirken. Ist es die Ausstrahlung einer geheimnisvollen Kraftquelle? Macht das vielleicht dieser Weg aus, der für uns gleichzeitig auch Ziel ist, und es für viele Millionen von Pilgern schon war? Es ist mit einem Wort gesagt wahrlich rätsel- und zauberhaft zugleich.
Schon bald hält neben uns ein Velo fahrender Italiener kurz an, um uns mitzuteilen, dass er vor Kurzem in der Schweiz, in St. Gallen im dortigen Gallusmarkt einen super Schuh zum Radfahren bekommen hat. Er freut sich offensichtlich, dieses Bekenntnis hier loszuwerden und ergänzt noch, dass er vom Chef persönlich bedient und hervorragend beraten wurde. Schwups, und schon ist er wieder mit einem kräftigen „Forza svizzera“ weg. Die Schweizerfahne an meinem Rucksack hat offenbar wieder gewirkt. Bald darauf begegnet uns eine Frau im mittleren Alter und klärt uns dankenswerterweise darüber auf, dass weiter vorne der Wegweiser für den Camino von einem Halunken, der eine Spelunke betreibt, so gedreht wurde, dass man bei ihm vorbeikommen muss. Sie beschwört uns, ja nicht darauf reinzufallen und wir sollen ihren Ratschlag an der entscheidenden Stelle befolgen. Wir haben uns an der Stelle daran erinnert und ihren Ratschlag nicht befolgt. Wir ignorieren den vermeintlichen Ratschlag natürlich nicht, ohne zuerst eine genaue Inspektion der Tafel und der allfälligen Spuren, die das Verdrehen mit sich bringen würde, vorzunehmen. Ich glaube, die ganze Sache hätte im Sinne der Dame mit dem Hund eher umgekehrt laufen sollen. Wir haben die erste Unterkunft jedenfalls problemlos, ohne überfallen worden zu sein, gefunden. Die von außen gesehen mickrige Herberge im kleinen mickrigen Dorf ist noch geschlossen und auf einem Zettel ist die Öffnungszeit mit 16:00 Uhr angegeben. Lisi zückt den Heil bringenden Wundermagneten, den wir dankenswerterweise auf Probe mitnehmen durften, und setzt zur ersten Behandlung gegen die aufkommenden Schmerzen in der Hüfte, an. Diese Behandlung findet in einer Gartenwirtschaft, der einzigen im Dorf, vis-à-vis
der Unterkunft, statt.
Punkt 15:30 Uhr, also eine halbe Stunde eher als erwartet, und das in Spanien, kommt doch ein älterer Mann daher und schließt die Herberge auf. Wir dürfen uns anmelden und bekommen den ersten Stempel nach einem Jahr Unterbrbruch in Tardajos.
Dieses Dorf ist etwas verlottert, mindestens dort wo wir vorbeikommen. Ich habe den komischen Eindruck, als hörten wir die Mäuse in den Häusern beim Nagen an den Türen und Fenstern bis auf die Straße heraus. Allerdings gibt es immerhin eine Apotheke, eine Bar und ein Restaurant und einen Tante Emma Laden in diesem Dorf. Das Restaurant, wo wir hoffentlich etwas zu Essen kriegen, öffnet leider erst in vier Stunden um 19:30 Uhr.
Die Zimmer in dieser Herberge sind sehr einfach gehalten und sehr eng. Ich hätte nicht gedacht, dass sich hier jemand einquartiert, so nahe bei Burgos, aber am Abend ist die Bude doch voll. Wir kommen mit einem Deutschen aus Frankfurt ins Gespräch. Er hat seinen Wohnsitz zurzeit in Spanien bei Granada. Er ist verheiratet und zum dritten Mal auf dem Camino. Dieses Mal ist er alleine, früher hatte er auch seine Frau dabei, wie er sagt. Auf dieser Reise will er bis nach León, sollte er das schaffen, fehlen ihm nur noch wenige Kilometer auf dem Weg von Roncesvalles bis nach Santiago de Compostela. Er ist sehr gesprächig und hilft uns für den morgigen Tag Proviant zu kaufen. Er hat gute Ratschläge zur Hand und weiß, was günstig ist. Unter anderem empfiehlt er uns eine vakuumverpackte Apfelwähe, die für zwei Personen ausreicht und 1 Euro kostet. Die Verkäuferin meint, er spreche sehr gut spanisch. Unser interimistischer Guide ist von Haus aus groß, aber nach diesem Kompliment scheint er nochmals etwas gewachsen zu sein und verdoppelt spontan seine vorläufige Bestellung bei der Frau hinter dem Tresen.
Später, nach dem erstaunlich guten Nachtessen, welches wir in einem Nebenraum zur normalen Wirtsstube in guter Gesellschaft mit einem in einem Kleinstkäfig gehaltenen Riesenpapagei genießen durften, fallen wir um 21:00 Uhr ins Bett. Wir genießen es sehr, weil das Übernachten in der letzten Nacht im Bus doch etwas speziell war. Mit dem Gedanken, dass uns der Einstieg in die neue Pilgerschaft gelungen ist, schlafe ich selig ein. Es wird trotzdem eine unruhige Nacht. Die aufkeimenden Schmerzen in Lisis Hüften und Füßen, trotz der sehr intensiven, im Vorfeld der Reise getätigten prophylaktischen ärztlichen Betreuung und allerlei anderer Hilfen wie Schuheinlagen, Magnetbehandlungen usw., machen mir unterschwellig Sorgen.
09.06.2011, Donnerstag
Tardajos ñ Hornillos del Camino
Das Packen am frühen Morgen geht mangels Routine noch nicht so gut. Die Handgriffe sitzen noch nicht wie gewünscht und die Reihenfolge der Bestückung des Rucksackes ist zweifelsfrei noch verbesserungswürdig. Das hat zur Folge, dass der Hüttenwart uns ein wenig und nonverbal drängt. Wir schaffen es kurz vor 8:00 Uhr, also dem Zeitpunkt, an welchem man hier draußen sein muss. Wir begeben uns zum Papagei von gestern Abend und bekommen einen Kaffee und ein mit Schokolade gefülltes Croissant. Die heutige Etappe führt uns auf die Meseta, die vom Duero entwässerte und etwa 650 bis 900 Meter hohe Ebene. Sie umfasst historische Landschaften Altkastiliens und Leóns. In ihr wird auf großen Flächen Getreide angebaut, aber auch Weinbau betrieben. Die Schafzucht spielt ebenfalls eine gewisse Rolle.
Bei der Ankunft in Hornillos del Camino müssen wir bei großer Hitze warten, bis auch diese Herberge aufmacht. Glücklicherweise sehen das Dörfchen und die Herberge bei Weitem freundlicher aus als die von gestern. Alle Pilger sind irgendwie aufgestellt und man kann sich draußen unter Sonnenschirmen hinsetzen und etwas trinken bis zum Abendessen. Beim Abendessen kommen Elisabeth und Christian zu uns an den Tisch. Es ist kein Ehepaar, sie sind nur ein Stück weit miteinander gelaufen. Er ist aus Wien und sie kommt aus der Nähe von Bielefeld in Ostwestfalen. Da Christian etwas später eingetroffen ist, hat er keinen Platz mehr in der Unterkunft und muss in einer umfunktionierten Turnhalle in der Nähe übernachten. Lisi geht es besser und wir schlafen gut in dieser Nacht.
10.06.2011, Freitag
Hornillos del Camino ñ Castrojeriz
Nach dem Gelage von gestern Abend, zusammen mit Christian und Elisabeth, geht es ohne Frühstück auf die heutige Reise. Eine Reise über 20 Kilometer. Bei leichter innerlicher und äußerlicher Bewölkung kein leichtes Unterfangen. Trotzdem starten wir und sind wirklich gespannt auf das Dörfchen, welches gemäß der Beschreibung unseres Führers plötzlich sozusagen aus dem Nichts auftauchen soll, weil es in einer uneinsehbaren Senke liegt. contacto@puntido.com Es handelt sich um das pittoreske Dörfchen Hontanas, welches tatsächlich nach einer Absenkung urplötzlich erscheint. Dort wollen wir uns endlich verpflegen, deshalb genießen wir neben der Kirche auf dem Vorplatz des Puntidos unser verspätetes Frühstück. Bald kommt, wie ferngesteuert, Christian daher und meint, er müsse was Richtiges zum Futtern haben. Er holt sich ein riesiges Eingeklemmtes mit einer noch riesigeren Paprikaschote. Er ist nicht so gesprächig wie noch gestern am Abend. Es ist lustig zu schauen, wie nach und nach Pilger eintreffen, vorbeimarschieren und den obligaten Gruß: „Buen Camino“ durchgeben oder ebenfalls einkehren. Viele sind mit dem Velo unterwegs. Plötzlich taucht auch Elisabeth aus Bielefeld auf. Sie setzt sich ebenfalls zu uns an den Tisch und ich glaube, dass allen Beteiligten der letzte Abend nochmals durch den Kopf geht. Der fing ganz harmlos an. Elisabeth fragt uns, ob sie und Christian sich zu uns setzen dürfen. Klar dürfen sie das. Nach einer mehr oder weniger formellen Vorstellungsrunde, wobei ich mir schon dachte, das wird so nichts mit lustig, weil es ungefähr wie folgt begann: „Ich bin der Christian, komme aus Wien und bin selbstständiger Unternehmer. Ich habe sechs Angestellte, wir sind im IT-Business als Consultants erfolgreich unterwegs“ usw. Zwischendurch wurde auch das Pilgermenü bestellt und parallel erörtert, warum man sich entschlossen hatte, sich auf diesen mühsamen Pilgerweg zu begeben. Jetzt ging es anscheinend mal darum, die Karten noch nicht aufzudecken, sondern erst mal bloß etwas oberflächlich darüber zu reden. Christian hat sich zu seinem Fünzigsten ein Geschenk gemacht. Elisabeth hat zusammen mit ihrem Mann viel auf dem Bauernhof aufgebaut, dabei wäre ihnen das Ganze beinahe über den Kopf gewachsen, hätten sie das nächste Projekt nicht gecancelt. Anstatt Projekt nun Pilgerreise. Ich habe wahrheitsgemäß berichtet, dass dieser Camino nach meiner Pensionierung fällig wurde, alleine, weil ich seit längerer Zeit diesen Entscheid für mich gefällt habe. Da Lisi schon seit bald 25 Jahren ununterbrochen Religionsunterricht erteilt, kam ihr der Gedanke, eine Auszeit zu nehmen, damit wir gemeinsam diesen Weg begehen konnten, und zwar aus Dankbarkeit für das gute Leben, welches wir bis anhin führen durften mit allem Drum und Dran. Sei es die gute Gesundheit, der Beruf, in dem wir Befriedigung fanden und Lisi immer noch findet, die Familie mit unseren gut geratenen Kindern und deren Liebsten und den zwei entzückenden Enkelkindern. Heute darf ich sagen, zum Glück ist Lisi mit dabei, denn die anfallenden Arbeiten, die dem Unterhalt von Kleidern dienen, erledigt sie gerne und ich habe Zeit, um die nötigen Notizen aufzuschreiben.
Christian vertritt die Theorie, oder anders gesagt, er neigt aus Erfahrung zu der Ansicht, dass bei einer Frage, welche dreimal gestellt wird, in der Regel drei verschiedene Antworten gegeben werden. Das macht das Schildern dieses interessanten Gesprächs insofern einfacher, als dass ich das Geplänkel weglassen darf und nur das Resultat des dritten Anlaufes hier wiedergebe. Der Wein schmeckt vor allem uns, das heißt Christian und mir, hervorragend. Also, Elisabeth ist auf dem Jakobsweg, weil ihr Ehemann eine andere Frau liebt, mit der Angabe, diese sei im Bett besser als sie. Bei jener bekomme er alles, auch wirklich gar alles, was guten Sex ausmache … Elisabeth hat mit ihrem Mann dessen Bauernhof zu einer Großanlage entwickelt. Zu dieser Leistung, um sie zu managen, war Elisabeth in der Lage, weil sie ein entsprechendes Wirtschafts-Studium abgeschlossen hat. Sie hat drei Kinder. Der Ältere, 21-jährig, ist zurzeit in den USA und die Zwillinge haben gerade vor ihrer Abreise das Abi gemacht. Die mündlichen Prüfungen haben sie bestanden, das ist schon gewiss. Christian hat den Glauben verloren und möchte ihn auf dem Jakobsweg wiederfinden. Er hat seinen Schwager, der Priester ist, gefragt, wie er diese Suche angehen sollte. Offenbar hat sich das Unternehmen Jakobsweg als das potenziell tauglichste Mittel herauskristallisiert. Natürlich musste er mit seiner Frau und seinem co-owner, gerade in der schwierigen finanziellen Lage, in der das Geschäft steckte, zuerst klarkommen und einiges regeln. Der Wille, diese Reise zu machen, ließen Christian einen Weg finden, der allen Beteiligten gerecht wurde. Er hat klar gespürt, dass er eine Auszeit benötigt, weil er eigentlich nur noch stereotyp roboterhaft funktionierte. Das eindeutige Bekenntnis, sich auf dem Jakobsweg neu zu orientieren, wird ihm sicher helfen, das gesteckte Ziel zu erreichen. Christian ist ein harter Bursche, er hat früher Marathonläufe bestritten. Seine persönliche Bestzeit, die er in New York aufgestellt hatte, hat mich beeindruckt. Lisi bestätigt ihrerseits das oben Erwähnte und gibt nochmals zum Ausdruck, dass ihre Hüfte und die Füße halten mögen und es theoretisch an nichts mehr fehlt, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Wir haben ja auch dieses Mal zu Hause den Reisesegen von unserem Pfarrer erhalten. Ebenfalls haben wir von Claudia, unserer Pastoralassistentin, zur moralischen Unterstützung ein Gebet in schriftlicher Form mit auf den Weg bekommen. Damit es immer erreichbar ist, habe ich es in meiner Schirmmütze zwischen zwei Nähte gesteckt.
Unterdessen sind wir am Rande eines fruchtbaren Tales vorbei an Schafherden weitergewandert, zusammen mit Christian. Bald kommen wir in San Antón an. Das ist eine Ruinenstätte mit integrierter Herberge. Das Kloster San Antón geht auf das
12 Jh. zurück, die sichtbaren Reste stammen aber aus dem 14 Jh. Es gehörte zum Orden von San Antón, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Pilger zu heilen, die damals an Lepra litten.
Es ist ein Jahr später. Am 07.06.2011 morgens um 7:00 Uhr holt uns Emanuel, unser Schwiegersohn, zu Hause ab und fährt uns routiniert und sicher nach Zürich zum Busbahnhof. Dieser befindet sich gleich neben dem Landesmuseum. Dort wartet bereits ein Alsa-Bus, der uns nach Burgos bringen wird. Für die Anreise wählen wir den Bus, weil es mit dem Flugzeug keine vernünftige Verbindung gibt und es mit dem Zug um ein Vielfaches komplizierter und auch teurer wäre.
Ohne einmal umzusteigen erreichen wir Burgos. Das ist der Ort, wo wir letztes Jahr zwangsgestoppt wurden. In Zürich waren wir bloß drei Passagiere, nun, nach 12 Aufpick-Stopps in Bern, Fribourg, Lausanne, Genève usw., sind alle Plätze besetzt.
Das Wetter letzte Nacht war abwechslungsreich, so hat es zum Beispiel um 1:10 Uhr in Bordeaux sehr heftig geregnet. Regen löste sich mit noch mehr Regen ab mit unregelmäßigen Unterbrüchen. Wir sind also mental auf unbeständiges Wetter eingestellt.
Nach 1500 Kilometern und 22 Stunden Fahrt, mit pünktlichen Pausen alle drei Stunden, erreichen wir um 7:55 Uhr, genau fünf Minuten vor der angegebenen Zeit, unser Ziel. Wir staunen!
Nach dem Umziehen im Busbahnhof, den wir ja schon kennen, sind wir bereit, um loszugehen.
08.06.2011, Mittwoch
Burgos ñ Tardajos
Heute, am ersten Pilgertag, wollen wir die Sache relativ vorsichtig angehen und planen deshalb nur ungefähr 10 Kilometer weit zu gehen. Zuerst führt uns der Weg zur berühmten Kathedrale, ungefähr einen Kilometer weit. Dort ist gleich nebenan eine Herberge, von der wir einen Stempel für unseren Credencial del peregrino abholen möchten. Um diese Zeit ist aber leider die Herberge nicht geöffnet und deshalb geben wir uns mit dem Burgos-Stempel, welchen wir exakt heute vor einem Jahr vom Hotel Cordon, in dem wir eine Woche lang wohnten, bekommen haben, zufrieden. Das ist nicht so schlimm, aber ein bisschen schade. Was auch nicht schlimm ist und kein bisschen schade, sehen wir am Himmel. Das Wetter hat sich dramatisch gebessert. Beim herrlichen Frühstück, das wir in einem uns bekannten Café einnehmen, werden unsere Verwandten und einige Freunde per SMS darüber informiert, dass wir in Burgos gut angekommen sind und gleich aufbrechen werden. So geschieht das auch.
Es ist schon fast unglaublich, wie schnell sich das Caminogefühl wieder einstellt. Der Balsam für Geist und Seele fängt bereits leise an zu wirken. Ist es die Ausstrahlung einer geheimnisvollen Kraftquelle? Macht das vielleicht dieser Weg aus, der für uns gleichzeitig auch Ziel ist, und es für viele Millionen von Pilgern schon war? Es ist mit einem Wort gesagt wahrlich rätsel- und zauberhaft zugleich.
Schon bald hält neben uns ein Velo fahrender Italiener kurz an, um uns mitzuteilen, dass er vor Kurzem in der Schweiz, in St. Gallen im dortigen Gallusmarkt einen super Schuh zum Radfahren bekommen hat. Er freut sich offensichtlich, dieses Bekenntnis hier loszuwerden und ergänzt noch, dass er vom Chef persönlich bedient und hervorragend beraten wurde. Schwups, und schon ist er wieder mit einem kräftigen „Forza svizzera“ weg. Die Schweizerfahne an meinem Rucksack hat offenbar wieder gewirkt. Bald darauf begegnet uns eine Frau im mittleren Alter und klärt uns dankenswerterweise darüber auf, dass weiter vorne der Wegweiser für den Camino von einem Halunken, der eine Spelunke betreibt, so gedreht wurde, dass man bei ihm vorbeikommen muss. Sie beschwört uns, ja nicht darauf reinzufallen und wir sollen ihren Ratschlag an der entscheidenden Stelle befolgen. Wir haben uns an der Stelle daran erinnert und ihren Ratschlag nicht befolgt. Wir ignorieren den vermeintlichen Ratschlag natürlich nicht, ohne zuerst eine genaue Inspektion der Tafel und der allfälligen Spuren, die das Verdrehen mit sich bringen würde, vorzunehmen. Ich glaube, die ganze Sache hätte im Sinne der Dame mit dem Hund eher umgekehrt laufen sollen. Wir haben die erste Unterkunft jedenfalls problemlos, ohne überfallen worden zu sein, gefunden. Die von außen gesehen mickrige Herberge im kleinen mickrigen Dorf ist noch geschlossen und auf einem Zettel ist die Öffnungszeit mit 16:00 Uhr angegeben. Lisi zückt den Heil bringenden Wundermagneten, den wir dankenswerterweise auf Probe mitnehmen durften, und setzt zur ersten Behandlung gegen die aufkommenden Schmerzen in der Hüfte, an. Diese Behandlung findet in einer Gartenwirtschaft, der einzigen im Dorf, vis-à-vis
der Unterkunft, statt.
Punkt 15:30 Uhr, also eine halbe Stunde eher als erwartet, und das in Spanien, kommt doch ein älterer Mann daher und schließt die Herberge auf. Wir dürfen uns anmelden und bekommen den ersten Stempel nach einem Jahr Unterbrbruch in Tardajos.
Dieses Dorf ist etwas verlottert, mindestens dort wo wir vorbeikommen. Ich habe den komischen Eindruck, als hörten wir die Mäuse in den Häusern beim Nagen an den Türen und Fenstern bis auf die Straße heraus. Allerdings gibt es immerhin eine Apotheke, eine Bar und ein Restaurant und einen Tante Emma Laden in diesem Dorf. Das Restaurant, wo wir hoffentlich etwas zu Essen kriegen, öffnet leider erst in vier Stunden um 19:30 Uhr.
Die Zimmer in dieser Herberge sind sehr einfach gehalten und sehr eng. Ich hätte nicht gedacht, dass sich hier jemand einquartiert, so nahe bei Burgos, aber am Abend ist die Bude doch voll. Wir kommen mit einem Deutschen aus Frankfurt ins Gespräch. Er hat seinen Wohnsitz zurzeit in Spanien bei Granada. Er ist verheiratet und zum dritten Mal auf dem Camino. Dieses Mal ist er alleine, früher hatte er auch seine Frau dabei, wie er sagt. Auf dieser Reise will er bis nach León, sollte er das schaffen, fehlen ihm nur noch wenige Kilometer auf dem Weg von Roncesvalles bis nach Santiago de Compostela. Er ist sehr gesprächig und hilft uns für den morgigen Tag Proviant zu kaufen. Er hat gute Ratschläge zur Hand und weiß, was günstig ist. Unter anderem empfiehlt er uns eine vakuumverpackte Apfelwähe, die für zwei Personen ausreicht und 1 Euro kostet. Die Verkäuferin meint, er spreche sehr gut spanisch. Unser interimistischer Guide ist von Haus aus groß, aber nach diesem Kompliment scheint er nochmals etwas gewachsen zu sein und verdoppelt spontan seine vorläufige Bestellung bei der Frau hinter dem Tresen.
Später, nach dem erstaunlich guten Nachtessen, welches wir in einem Nebenraum zur normalen Wirtsstube in guter Gesellschaft mit einem in einem Kleinstkäfig gehaltenen Riesenpapagei genießen durften, fallen wir um 21:00 Uhr ins Bett. Wir genießen es sehr, weil das Übernachten in der letzten Nacht im Bus doch etwas speziell war. Mit dem Gedanken, dass uns der Einstieg in die neue Pilgerschaft gelungen ist, schlafe ich selig ein. Es wird trotzdem eine unruhige Nacht. Die aufkeimenden Schmerzen in Lisis Hüften und Füßen, trotz der sehr intensiven, im Vorfeld der Reise getätigten prophylaktischen ärztlichen Betreuung und allerlei anderer Hilfen wie Schuheinlagen, Magnetbehandlungen usw., machen mir unterschwellig Sorgen.
09.06.2011, Donnerstag
Tardajos ñ Hornillos del Camino
Das Packen am frühen Morgen geht mangels Routine noch nicht so gut. Die Handgriffe sitzen noch nicht wie gewünscht und die Reihenfolge der Bestückung des Rucksackes ist zweifelsfrei noch verbesserungswürdig. Das hat zur Folge, dass der Hüttenwart uns ein wenig und nonverbal drängt. Wir schaffen es kurz vor 8:00 Uhr, also dem Zeitpunkt, an welchem man hier draußen sein muss. Wir begeben uns zum Papagei von gestern Abend und bekommen einen Kaffee und ein mit Schokolade gefülltes Croissant. Die heutige Etappe führt uns auf die Meseta, die vom Duero entwässerte und etwa 650 bis 900 Meter hohe Ebene. Sie umfasst historische Landschaften Altkastiliens und Leóns. In ihr wird auf großen Flächen Getreide angebaut, aber auch Weinbau betrieben. Die Schafzucht spielt ebenfalls eine gewisse Rolle.
Bei der Ankunft in Hornillos del Camino müssen wir bei großer Hitze warten, bis auch diese Herberge aufmacht. Glücklicherweise sehen das Dörfchen und die Herberge bei Weitem freundlicher aus als die von gestern. Alle Pilger sind irgendwie aufgestellt und man kann sich draußen unter Sonnenschirmen hinsetzen und etwas trinken bis zum Abendessen. Beim Abendessen kommen Elisabeth und Christian zu uns an den Tisch. Es ist kein Ehepaar, sie sind nur ein Stück weit miteinander gelaufen. Er ist aus Wien und sie kommt aus der Nähe von Bielefeld in Ostwestfalen. Da Christian etwas später eingetroffen ist, hat er keinen Platz mehr in der Unterkunft und muss in einer umfunktionierten Turnhalle in der Nähe übernachten. Lisi geht es besser und wir schlafen gut in dieser Nacht.
10.06.2011, Freitag
Hornillos del Camino ñ Castrojeriz
Nach dem Gelage von gestern Abend, zusammen mit Christian und Elisabeth, geht es ohne Frühstück auf die heutige Reise. Eine Reise über 20 Kilometer. Bei leichter innerlicher und äußerlicher Bewölkung kein leichtes Unterfangen. Trotzdem starten wir und sind wirklich gespannt auf das Dörfchen, welches gemäß der Beschreibung unseres Führers plötzlich sozusagen aus dem Nichts auftauchen soll, weil es in einer uneinsehbaren Senke liegt. contacto@puntido.com Es handelt sich um das pittoreske Dörfchen Hontanas, welches tatsächlich nach einer Absenkung urplötzlich erscheint. Dort wollen wir uns endlich verpflegen, deshalb genießen wir neben der Kirche auf dem Vorplatz des Puntidos unser verspätetes Frühstück. Bald kommt, wie ferngesteuert, Christian daher und meint, er müsse was Richtiges zum Futtern haben. Er holt sich ein riesiges Eingeklemmtes mit einer noch riesigeren Paprikaschote. Er ist nicht so gesprächig wie noch gestern am Abend. Es ist lustig zu schauen, wie nach und nach Pilger eintreffen, vorbeimarschieren und den obligaten Gruß: „Buen Camino“ durchgeben oder ebenfalls einkehren. Viele sind mit dem Velo unterwegs. Plötzlich taucht auch Elisabeth aus Bielefeld auf. Sie setzt sich ebenfalls zu uns an den Tisch und ich glaube, dass allen Beteiligten der letzte Abend nochmals durch den Kopf geht. Der fing ganz harmlos an. Elisabeth fragt uns, ob sie und Christian sich zu uns setzen dürfen. Klar dürfen sie das. Nach einer mehr oder weniger formellen Vorstellungsrunde, wobei ich mir schon dachte, das wird so nichts mit lustig, weil es ungefähr wie folgt begann: „Ich bin der Christian, komme aus Wien und bin selbstständiger Unternehmer. Ich habe sechs Angestellte, wir sind im IT-Business als Consultants erfolgreich unterwegs“ usw. Zwischendurch wurde auch das Pilgermenü bestellt und parallel erörtert, warum man sich entschlossen hatte, sich auf diesen mühsamen Pilgerweg zu begeben. Jetzt ging es anscheinend mal darum, die Karten noch nicht aufzudecken, sondern erst mal bloß etwas oberflächlich darüber zu reden. Christian hat sich zu seinem Fünzigsten ein Geschenk gemacht. Elisabeth hat zusammen mit ihrem Mann viel auf dem Bauernhof aufgebaut, dabei wäre ihnen das Ganze beinahe über den Kopf gewachsen, hätten sie das nächste Projekt nicht gecancelt. Anstatt Projekt nun Pilgerreise. Ich habe wahrheitsgemäß berichtet, dass dieser Camino nach meiner Pensionierung fällig wurde, alleine, weil ich seit längerer Zeit diesen Entscheid für mich gefällt habe. Da Lisi schon seit bald 25 Jahren ununterbrochen Religionsunterricht erteilt, kam ihr der Gedanke, eine Auszeit zu nehmen, damit wir gemeinsam diesen Weg begehen konnten, und zwar aus Dankbarkeit für das gute Leben, welches wir bis anhin führen durften mit allem Drum und Dran. Sei es die gute Gesundheit, der Beruf, in dem wir Befriedigung fanden und Lisi immer noch findet, die Familie mit unseren gut geratenen Kindern und deren Liebsten und den zwei entzückenden Enkelkindern. Heute darf ich sagen, zum Glück ist Lisi mit dabei, denn die anfallenden Arbeiten, die dem Unterhalt von Kleidern dienen, erledigt sie gerne und ich habe Zeit, um die nötigen Notizen aufzuschreiben.
Christian vertritt die Theorie, oder anders gesagt, er neigt aus Erfahrung zu der Ansicht, dass bei einer Frage, welche dreimal gestellt wird, in der Regel drei verschiedene Antworten gegeben werden. Das macht das Schildern dieses interessanten Gesprächs insofern einfacher, als dass ich das Geplänkel weglassen darf und nur das Resultat des dritten Anlaufes hier wiedergebe. Der Wein schmeckt vor allem uns, das heißt Christian und mir, hervorragend. Also, Elisabeth ist auf dem Jakobsweg, weil ihr Ehemann eine andere Frau liebt, mit der Angabe, diese sei im Bett besser als sie. Bei jener bekomme er alles, auch wirklich gar alles, was guten Sex ausmache … Elisabeth hat mit ihrem Mann dessen Bauernhof zu einer Großanlage entwickelt. Zu dieser Leistung, um sie zu managen, war Elisabeth in der Lage, weil sie ein entsprechendes Wirtschafts-Studium abgeschlossen hat. Sie hat drei Kinder. Der Ältere, 21-jährig, ist zurzeit in den USA und die Zwillinge haben gerade vor ihrer Abreise das Abi gemacht. Die mündlichen Prüfungen haben sie bestanden, das ist schon gewiss. Christian hat den Glauben verloren und möchte ihn auf dem Jakobsweg wiederfinden. Er hat seinen Schwager, der Priester ist, gefragt, wie er diese Suche angehen sollte. Offenbar hat sich das Unternehmen Jakobsweg als das potenziell tauglichste Mittel herauskristallisiert. Natürlich musste er mit seiner Frau und seinem co-owner, gerade in der schwierigen finanziellen Lage, in der das Geschäft steckte, zuerst klarkommen und einiges regeln. Der Wille, diese Reise zu machen, ließen Christian einen Weg finden, der allen Beteiligten gerecht wurde. Er hat klar gespürt, dass er eine Auszeit benötigt, weil er eigentlich nur noch stereotyp roboterhaft funktionierte. Das eindeutige Bekenntnis, sich auf dem Jakobsweg neu zu orientieren, wird ihm sicher helfen, das gesteckte Ziel zu erreichen. Christian ist ein harter Bursche, er hat früher Marathonläufe bestritten. Seine persönliche Bestzeit, die er in New York aufgestellt hatte, hat mich beeindruckt. Lisi bestätigt ihrerseits das oben Erwähnte und gibt nochmals zum Ausdruck, dass ihre Hüfte und die Füße halten mögen und es theoretisch an nichts mehr fehlt, um das gesteckte Ziel zu erreichen. Wir haben ja auch dieses Mal zu Hause den Reisesegen von unserem Pfarrer erhalten. Ebenfalls haben wir von Claudia, unserer Pastoralassistentin, zur moralischen Unterstützung ein Gebet in schriftlicher Form mit auf den Weg bekommen. Damit es immer erreichbar ist, habe ich es in meiner Schirmmütze zwischen zwei Nähte gesteckt.
Unterdessen sind wir am Rande eines fruchtbaren Tales vorbei an Schafherden weitergewandert, zusammen mit Christian. Bald kommen wir in San Antón an. Das ist eine Ruinenstätte mit integrierter Herberge. Das Kloster San Antón geht auf das
12 Jh. zurück, die sichtbaren Reste stammen aber aus dem 14 Jh. Es gehörte zum Orden von San Antón, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Pilger zu heilen, die damals an Lepra litten.