Helen und die Maßhaltigkeit

Helen und die Maßhaltigkeit

Elfriede Waitz


EUR 15,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 184
ISBN: 978-3-99003-151-3
Erscheinungsdatum: 12.08.2010
Helen ist eine attraktive, intelligente und erfolgreiche Endvierzigerin. Mit viel Liebe und unter großen Anstrengungen eröffnet sie nach der Wende in Berlin ihr eigenes schickes Dessousgeschäft. Nach zehn Jahren muss sie ihr Geschäft aufgeben, schwere Demütigungen und hilflose Ohnmacht überstehen. Basierend auf Elfriede Waitz’ eigenen Erfahrungen, die dem Roman Authentizität verleihen.
Helen schleppte ihre schweren Einkaufsbeutel die vier Treppen zu ihrer Dach­geschoss­wohnung hoch, stellte sie ab, zog ihre hochhackigen Schuhe aus und schlüpfte in ihre bequemeren Hausschuhe.
„Jetzt koche ich mir erst einmal einen schönen starken Kaffee“, dachte Helen, als ihr Telefon läutete und sich eine Männerstimme auf ihrem Anrufbeantworter meldete, die um Rückruf bat. Helen ging zu ihrem Telefon und hörte den Anruf nochmals ab, um sich zu vergewissern, sich nicht verhört zu haben.
Es stimmte: Ihre erste große Liebe – Alex – hatte soeben angerufen und, nach über vierzig Jahren des Schweigens, um Rückruf gebeten. Sie lauschte abermals der Stimme auf ihrem Anrufbeantworter. „Helen, hier spricht Alex. Ich bin nach all den Jahren wieder in Berlin. Nachdem ich von deiner Nichte erfuhr, dass du in Berlin lebst und unter dieser Telefonnummer zu erreichen bist, habe ich es gewagt, dich anzurufen. Leider bist du zur Zeit nicht erreichbar, aber ich rufe später wieder an. Ich möchte dich unbedingt sprechen. Bis dann. Alex.“
Alexander war achtzehn Jahre alt gewesen, als er nach Rosenthal kam, um nach bestandenem Abitur ein Praktikum in Helens Heimatstadt zu absolvieren. Er bezog das Gästezimmer in der Wohnung von Helens Großmutter, welche die obere Etage des geräumigen Zweifamilienhauses bewohnte. Helen war erst sechzehn Jahre alt gewesen. Es war Liebe auf den ersten Blick, und Alex wollte in Rosenthal bleiben, dort in der Kurklinik arbeiten und sein Medizinstudium so lange verschieben, bis Helen achtzehn Jahre alt sein würde. Dann wollten sie heiraten und nach Berlin ziehen.
Nach einem Jahr traf Alex’ Vater in Rosenthal ein. Helen spürte trotz der freundlichen Gestimmtheit, dass ein schreckliches Ereignis seine Schatten vorausschickte. Sie und ihre Eltern – insbesondere ihre Mutter – bemühten sich sehr um die Freundschaft von Alex’ Vater, aber er blieb unnahbar und kalt. Er wohnte im Hotel in der Kreisstadt und traf sich dort mit Alex. Helen spürte stets ein sehr unangenehmes Gefühl in der Brust und Unwohlsein im Magen, wenn Alex zurückkam und mit ihr redete. Nach seiner Meinung wollte sein Vater unbedingt erreichen, dass er sofort mit nach Berlin fuhr, um umgehend sein Studium aufzunehmen. Alex wollte aber noch ein weiteres Jahr als Praktikant im Kreiskrankenhaus arbeiten.
Letztendlich kehrte Alex doch mit seinem Vater nach Berlin zurück mit dem Versprechen, spätestens zu Helens achtzehntem Geburtstag wieder bei ihr zu sein; niemand und nichts könne sie mehr trennen.
Viele Monate lang schrieb Helen täglich Briefe, die durch Alex ebenso täglich beantwortet wurden. Einen Telefonanschluss gab es in Rosenthal nicht, nur in der Kreisstadt konnte man ein Ferngespräch anmelden und aus einer Telefonzelle auf dem Postamt telefonieren. Da es aber nur ein einziges Mal gelang, Alex ans Telefon zu bekommen, und beide nur ihre Trauer und Verzweiflung noch stärker spürten, rief Helen nie mehr an.
Plötzlich traf auch keine Post mehr von Alex ein. Helens Briefe kamen zurück mit einem Vermerk von der Post: „Nicht zustellbar.“
Nach langer Zeit schrieb ihr Alex, er lebe jetzt mit seinem Vater in Kapstadt/Südafrika, da seine Mutter in Berlin verstorben sei. Es war ein sehr trauriger Abschiedsbrief. Helen war, als ob sie ertrinken würde. Ihr Leben schien keinen Sinn mehr zu haben. Ihre Mutter war ständig bei ihr und half ihr, den tiefen Schmerz zu überstehen.
Helen ging nach erfolgreichen Abiturprüfungen zum Studium nach Berlin. Sie suchte die Straße, in der Alex mit seiner Familie gelebt hatte, und erkundigte sich bei den jetzigen Mietern, aber keine Spur führte mehr zu Alex, auch die neue Anschrift konnte Helen nicht in Erfahrung bringen. Somit war also ihre erste große Liebe zerbrochen und für immer unerreichbar.
Während ihres Studiums war es Karl, der ständig an ihrer Seite war und sich sehr um sie bemühte. Helen lernte Karl lieben und schenkte ihm einen über alles geliebten Sohn. Sie hatten einundzwanzig Jahre eine glückliche Ehe geführt. Gemeinsam mit ihrem Exgatten arbeitete Helen im selben Betrieb und hatte sehr viele Freunde. Während Helen im Außendienst tätig war, leitete Karl eine ökonomische Abteilung im Innendienst. Durch wochen- und monatelange Außeneinsätze war Helen sehr häufig unterwegs und bemerkte zu spät, dass sie sich beide auseinandergelebt hatten.
Jetzt war Helen seit vielen Jahren geschieden, und plötzlich, nach all den Jahren, rief Alex wieder an. Helen war, als ob sie träumte. „woher hat Alex meine Telefonnummer?“, ging es Helen durch den Kopf. Bevor sie noch eine Antwort finden konnte, hörte sie ihre Nichte Babs aus Rosenthal auf den Anrufbeantworter sprechen, ebenfalls mit der Bitte um Rückruf, aber bitte dringend, und Helen spürte, dass sie diesen Rückruf umgehend tätigen sollte.
So erzählte ihr Babs dann auch, dass ein Herr Thaler in Rosenthal sei und sich an alle Details des alten Hauses, das zwischenzeitlich aus- und umgebaut worden war, erinnern könne und wissen wolle, wie er Helen erreichen könne. Da Babs wusste, dass Helen ungern ihre Adresse preisgab, gab sie Herrn Thaler wenigstens Helens Telefonnummer und sorgte sich nun doch, ob das richtig war.
„Ja, ja, liebe Babs“, antwortete ihr Helen, „es war absolut richtig.“ Doch Helen wusste nicht, wie es weitergehen sollte.
Alex wohnte im Hotel im Stadtzentrum und bat um Rückruf. Helen hatte noch immer ihre Einkaufsbeutel nicht ausgepackt. Ihr Sohn Max wollte gerne gegen Mittag kommen, sie musste sich also sputen, um das Mittagessen bis 12.30 Uhr fertig zu haben.
„Also, jetzt an das tägliche Abarbeiten machen und dann weitersehen“, entschied sie.
Max war Maler und Grafiker und sehr begabt. Das Verhältnis zu Helen war hervorragend: Wann immer sie ihn brauchte, war er für sie da und nahm dankbar auch ihre Unterstützung an.
Max’ Vater Karl war längst wieder verheiratet, hatte aber, nach Klärung in seiner Ehe, durchsetzen können, dass er sich einmal monatlich mit Max und Helen traf.
Helen fragte sich, was sie Max über Alex erzählen sollte – oder sollte sie noch warten, bis sie mit Alex gesprochen hatte? Sie entschied sich für Letzteres.
Als Mittagessen bereitete sie Buletten mit Mischgemüse zu. Max genoss das liebevoll angerichtete Essen und war sehr freudiger Stimmung, da er einen Ausstellungstermin in einer beliebten und seit längerer Zeit umkämpften Galerie bekommen hatte.
Helen war glücklich, dass es Max wieder gut ging, hatte er doch sehr viel Leid erlebt und sich davon dennoch nicht unterkriegen lassen. Einige Zeit hatte er von Sozialhilfe leben müssen. Max hatte unmittelbar nach erfolgreichem Abschluss eines großen Auftrages als Bauleiter einen schweren Unfall erlitten. Jetzt bezog er eine Rente und sicherte sich durch den guten Ruf seiner Bilder einen zwar bescheidenen, aber willkommenen Hinzuverdienst.
Helen hatte in der Zeit, als Max ein Eigentumsbüro als Bauplaner und Baubetreuer betrieb, ein Geschäft mit wunderschönen Dessous gehabt. Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft – finanziell und materiell – hatte Max für seine Mutter einen Abstellraum zu einem ca. 90?m2 großen extravaganten Geschäft ausgebaut.
Leider konnten Helens liebe Eltern nicht bei der Eröffnung anwesend sein. Helens Mutter verstarb ganz plötzlich im Alter von 69 Jahren und ihr Vater kurze Zeit danach. Helen war durch den schweren Verlust ihrer Eltern total verzweifelt. Oft glaubte sie sich in einem Albtraum und wollte endlich aufwachen. Ihre große Stütze war ihr Sohn, Max. Durch die äußerst stressige Zeit im Dessousgeschäft und die damit verbundenen verschiedenartigen Aktivitäten konnte Helen sich ablenken und fühlte sich immer besser. Das Geschäft fand unter der Kundschaft hohen Zuspruch und erforderte somit auch Helens gesamte Aufmerksamkeit und Kraft.
Max hatte mit seinem Büro ebenfalls große Erfolge, sodass er drei Zeichner beschäftigen konnte. Seine Verlobte Nele machte es zur schönen Gewohnheit, schicke und sehr oft wechselnde Dekorationen in Helens Dessousgeschäft zu gestalten.
Auf einer Messe traf Helen schließlich ihren alten Schulfreund Peter wieder und verliebte sich in ihn. Beide zogen in eine größere Wohnung, deren Mietzins allerdings auch ziemlich hoch war, aber für zwei gut Verdienende war das schon in Ordnung. Helen war glücklich.
Leider währte ihr Glück nicht lange.
Und jetzt, nach all den Jahren, rief Alex an. „Wir werden uns überhaupt nicht mehr erkennen“, schoss es Helen durch den Kopf, doch zugleich wusste sie: „Ich rufe ihn heute noch an.“
Mittlerweile war es gegen 18.00 Uhr. Helen ging zum zigsten Mal zum Telefon. In diesem Moment läutete es, und Helen spürte, dass Alex anrief. Sie nahm ab und erkannte Alex’ Stimme als dieselbe wieder, die sie vor vielen Jahren gekannt und geliebt hatte. „Gott sei Dank“, dachte Helen, „kann er mich jetzt nicht sehen.“ Sie zitterte und fühlte sich schwach. „Ja, bitte?“ Mehr brachte sie nicht heraus. „Helen, oh Helen!“, das war alles, was Alex sagte. Er war mindestens so aufgeregt wie sie. Sofort war die alte Vertrautheit wieder da. „Können wir uns bitte sehen?“, fragte Alex. „Ja, gerne“, hörte sich Helen sagen. „Helen, ich bin so froh, deine Stimme zu hören. Ich hatte große Angst, du würdest nicht zurückrufen. Bitte sage mir, dass es dir gut geht.“ „Ja Alex, mir geht es gut. Aber ich glaubte zu träumen, als ich deinen Anruf erhielt.“ „Helen, ich habe dich niemals vergessen können und sehr oft überlegt, ob und wie ich dich erreichen könne. Jetzt da ich weiß, dass es dich noch gibt, bin ich sehr glücklich. Ich freue mich sehr auf morgen.“ „Ich auch Alex. Also bis morgen.“ „Ja Helen, bis morgen“
Morgen um 15.00 Uhr im Café Olivenbaum würde Helen Alex wiedersehen. Was sollte sie anziehen, sollte sie sich noch die Haare färben? Neue attraktive Kleidungsstücke konnte sich Helen nicht mehr leisten, denn ihre finanziellen Mittel waren äußerst knapp bemessen. Ihr ganzes Geld, das Ersparte und selbst die Lebensversicherungen hatte Helen in ihr elegantes Geschäft gesteckt in der Hoffnung, ihre Kredite rechtzeitig tilgen zu können und dann genügend Geld zum Leben zu haben.
1989 erlebte sie die Wende in Deutschland. Bis dahin war sie als diplomierte Ökonomin im Außenhandel tätig gewesen. Ihre Arbeit war sehr anspruchsvoll und bereitete ihr viel Freude. Insbesondere mit ihren vielen Kolleginnen und Kollegen fühlte sie sich wohl, deren Abteilungsleiterin sie war. Ja, es gab auch Probleme, wenn eine der Mitarbeiterinnen unbedingt besser zu wissen glaubte, dass Helens Entscheidung nicht gerechtfertigt sei, aber nach längeren Diskussionen wurde stets ein Kompromiss gefunden, sodass gute Arbeitsergebnisse erzielt werden konnten. Anerkennungen blieben auch nie aus. Aber das Außenhandels­unternehmen, in welchem Helen arbeitete, wurde aufgelöst; ihre Arbeitskraft wurde dort nicht mehr benötigt, sodass Helen arbeitslos wurde.
Bis dahin unbekannte und furchtbar unangenehme Gefühle hatte sie jetzt zu überwinden.
Noch setzte sie volles Vertrauen in ihr Können, ihre Kraft und ihr Durchsetzungsvermögen.
Helen meldete sich arbeitslos und kümmerte sich um eine Weiterbildung zur Bilanz­buchhalterin. Nach ihrer Weiterbildung fand sie eine gut bezahlte Tätigkeit in einer Finanzabteilung einer kleinen Firma. Ihre Freude und Begeisterung wurden jedoch jäh getrübt, als ihr älterer Chef durch einen sehr jungen Mann ersetzt wurde, der mit Helens Arbeitsweise nicht konform ging. Gegen ihre inhaltlichen Arbeiten konnte ihr neuer Chef nicht angehen, da er diese zur Aufrechterhaltung seines Geschäftes unbedingt benötigte. So konzentrierte er sich auf unwichtige, belanglose Tätigkeiten, die er von Helen mit massivem Nachdruck einforderte. Sie sollte sofort zu ihrer bisherigen Arbeit die gesamte Ablage neu ordnen. Alle Akten wurden aufgelöst, lagen nunmehr in Kartons im Nebenraum und sollten nach einem „besseren“ System zusammengestellt werden. „Was verstehen sie unter einem besseren System?“ fragte Helen. „Nach Datum des jeweiligen Schreibens“ lautete die Antwort. Helen schwieg und nickte. Wusste sie doch dass es sich um eine würdelose Beschäftigung handelte, da die bisherige Ablage nach Betreff der Schreiben sowieso datumsorientiert erfolgt war.
Ein regelrechtes Mobbing begann, und Helen erlebte zum ersten Mal, dass tiefe Demütigungen ihr Arbeitsleben bestimmten. Ihre bislang immer optimistische Lebens­einstellung wurde schwer angegriffen. Sie konnte sich einfach nicht verstellen, und ihre freundliche und verständnisvolle Art wurde demonst­rativ zunichtegemacht. Was da mit ihr geschah, konnte sie nur allmählich begreifen und kaum verarbeiten. Dadurch, dass sie nicht ausreichend schlafen konnte – an Einschlafen war überhaupt nicht zu denken, da sie immer wieder aufstand, um ihre trüben Gedanken zu vertreiben –, fühlte sie sich abgespannt und ausgelaugt.
Mit ihrem älteren Chef hatte Helen sehr gut zusammengearbeitet. Sie verstanden sich sehr gut und konnten sich aufei­nander verlassen. Da sie die einzige Finanzkraft in der Firma war, übernahm sie sämtliche Arbeiten, die in der Buchhaltung, im Versand, bei der Bestellannahme und ebenso in der Auftragsvergabe anfielen. Es gab nie irgendwelche Probleme. Nach der Abstimmung mit ihm führte sie die Arbeiten eigenständig und umsichtig aus, wofür sie Anerkennung erhielt.
Als der neue Chef in die Firma kam, sich vorstellte und mitteilte, jetzt das Sagen zu haben, glaubte Helen, ihre bisherige Arbeit in gewohnter Weise weiterführen zu können. Doch es kam anders: Der neue Chef wollte zwar die gleichen Ergebnisse sehen, aber das bisherige System sollte sofort umgestellt werden; wie das erfolgen sollte, könne er nicht sagen, das sei schließlich Helens Aufgabe. Helen versuchte mit ihrer höflichen und zurückhaltenden Art, ihm zu vermitteln, das vorhandene System sei das effektivste. Er hingegen stellte seine Forderungen in immer aggressiverem Ton und beorderte Helen zeitweise in ein Sekretariat einer befreundeten Firma, um sich selbst der Umgestaltung der eigenen zu widmen.
Helen war verzweifelt: Da sie zu der Sekretariatsarbeit der befreundeten Firma auch noch die Buchhaltungsarbeiten in ihrer Firma zu erledigen hatte, musste sie sehr viele Überstunden leisten, die jedoch nicht bezahlt wurden, und diese abzubummeln, war nicht möglich. Helen befand sich in einem Teufelskreis.
Nach Rückkehr zu ihrem eigentlichen Arbeitsplatz hoffte sie, Vorschläge seitens des neuen Chefs hinsichtlich der Arbeitsgestaltung vorzufinden, aber er verlor kein Wort darüber, und Helen spürte instinktiv, dass sie nicht fragen sollte. Er ließ sie wie bisher weiterarbeiten, aber kritisierte ständig an ihr herum mit fadenscheinigen Argumenten, die sich auf Sekretariatsarbeiten bezogen und nicht zu Helens Arbeitsgebiet gehörten. Was zu ihrem Aufgabengebiet gehöre, entscheide schließlich er, ließ er Helen wissen, und er werde hier alles umkrempeln. Außerdem warf er Helen Arbeitsunlust vor, da sie keine Vorschläge zum Umbau der Arbeitsgebiete unterbreitete.
Helen konnte sich nicht vorstellen, was er eigentlich wollte. Andererseits wusste sie auch, dass sie ihre Arbeit sehr gut ausführte, denn es gab in dieser Hinsicht keinerlei Beanstandungen, ganz im Gegenteil: Der Chef und die Mitarbeiter der befreundeten Firma arbeiteten sehr gerne mit Helen zusammen, und es herrschte ein gutes Betriebsklima. Aber von ihrem neuen Chef wurde ihr das Leben zur Hölle gemacht. Er schleuderte ihr Schriftstücke auf ihren Schreibtisch mit der Aufforderung, sofort Farbkopien anfertigen zu lassen, obwohl sich nur ein Schwarz-Weiß-Kopierer im Büro befand. Helen musste einen Copyshop finden, um den Auftrag zu erledigen. Sie fühlte sich schikaniert, da es sich bei der zu kopierenden Unterlage um ein Schriftstück handelte, welches lediglich mit blauem Kugelschreiber verfasste Unterschrift aufwies, ansonsten in Schwarz-Weiß vorlag.
Helen besorgte eine Farbkopie.
„Wie soll das nur weitergehen?“, fragte sie sich.
Helen bat ihren neuen Chef um eine Aussprache, aber die Meinungsverschiedenheiten waren so gravierend, dass ihr nur die Kündigung blieb.
Wieder wandte sich Helen ans Arbeitsamt, aber eine weitere Arbeit für sie konnte nicht gefunden werden: Helen war für die knappen Stellen zu alt.
In der gleichen Zeit schlossen viele ehemalige Konsumgeschäfte mit Nebengelass in ihrer unmittelbaren Umgebung, sodass einige vorteilhaft gelegene Räumlichkeiten für einen geschäftlichen Neuanfang vorhanden waren.
So bekam Helen auch schnell einige Besichtigungstermine für ein eventuell aufzubauendes eigenes Geschäft.
Max begleitete sie.
Die dritte Räumlichkeit war ca. 90?m2 groß, ziemlich quadratisch geschnitten und besaß eine lange Fensterfront zur Straßenseite hin. Verhangen waren diese Fenster mit knallroten Tüchern. „Das soll doch nicht etwa ein rotes Tuch sein?“, ulkte Max. Beim Aufschließen fiel ihnen die große Holzeingangstür in die Arme, und beide bemerkten erschrocken, dass sowohl die Tür- als auch die gesamte Fensteranlage nur ganz lose in den Holzrahmen hingen. Die Holzrahmen waren total vom Wetter zerstört worden und die Fensterscheiben eingestoßen. Eine weitere Überraschung stellte sich ein: Als Helen und Max im Raum ankamen, konnten sie nichts erkennen, denn die elektrischen Leitungen waren aus den Wänden gerissen und baumelten als wirre Fäden im Raum umher. Max mahnte zur Vorsicht, und beide waren äußerst bemüht, nicht an die herabhängenden Kabel zu kommen. Helen stand wie erstarrt da. Aber Max war nicht unterzukriegen. Er riss die dicken roten Tücher von den Fenstern, und Tageslicht durchflutete den Raum mit so viel Freundlichkeit und Wärme, dass Helen sich sofort wohlfühlte. Max stellte sich neben Helen, und beide schauten schweigend auf die Straße. Dort stand auf der gegenüberliegenden Seite am Rande eines kleinen Parks eine alte, dicke große Buche. Dieser Baum war so schön in seinem Stolz, seiner Kraft und Standhaftigkeit, dass er ein grenzenloses Vertrauen ausstrahlte. Max räusperte sich und sagte optimistisch: „Das ist aber ein besonders schönes Exemplar! Und jetzt sieh dir mal die Räumlichkeiten an: Aus denen ist wirklich etwas zu machen.“ „Oh ja, das sehe ich ebenso“ sagte Helen „ich glaube, wir sollten diese Räumlichkeiten zur Verwirklichung unseres Zieles auswählen.“
Abgesehen vom katastrophalen Zustand des großen Raumes – riesigen Löchern in den Wänden und der Decke, feuchten Stellen rund um die Abflussrohre, zerschlagenen rückwärtigen Fenstern und widerlichster Toilette – war der Raum herrlich geschnitten und ebenso herrlich gelegen.
Es war also jetzt eine Frage des Herrichtens. Max maß die Räumlichkeiten aus und zeichnete den Grundriss. Da Helen zwei Tage Zeit hatte, um die Schlüssel zur Verwaltung zurückzubringen, und sechs Wochen Bedenkzeit bekam, begann eine hektische Zeit, in der Angebote von Handwerkern eingeholt wurden, die für den Ausbau infrage kamen. Helen und Max waren von früh bis spät unterwegs. Sie fuhren zu Handwerkern, besprachen die Situation an Ort und Stelle und holten sich Preisangebote ein. Das Teuerste war allerdings die komplette Fensterfront und Ladeneinrichtung. Alles in allem kam unweigerlich eine hohe Summe zusammen, die es galt abzusichern und über einen Kredit zu finanzieren, aber es war machbar.
Helen war von unbändiger Energie. Sie ging zu Veranstaltungen von Banken und besorgte sich das nötige Wissen für die Beantragung eines Kredites in nicht unbeträchtlicher Höhe. Neben den Sicherheiten, die die Bank forderte, musste Helen über einen Wirtschaftsberater die Effektivität des Geschäftes nachweisen. Tagelang ging Helen die Straße, in der ihr Geschäft entstehen sollte, auf und ab und registrierte in ihrem kleinen Notizheft, wie viele und welche Leute hier lebten und die Straße passierten und welche Geschäfte mit welchem Profil und welcher Frequenz es hier bereits gab und welche entstehen würden.
Helen beabsichtigte, ein exklusives Dessousgeschäft zu eröffnen, das in diese noble Gegend passte. Als der Wirtschaftsberater seinen Bericht fertig hatte, kam er zu dem Schluss eines höheren finanziellen Bedarfs, als Helen bereits bei ihrer Hausbank angemeldet hatte, da er einen wesentlich höheren Warenbestand einkalkulierte. Also musste Helen bei ihrer Bank um eine Aufstockung des Kredites bitten.

06.05.2011Helen und die Maßhaltigkeit

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