Glasperlenreihe

Glasperlenreihe

Mike

Gina Hofmann


EUR 25,90
EUR 20,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 312
ISBN: 978-3-99130-274-2
Erscheinungsdatum: 17.05.2023
Mike hat sein altes Leben hinter sich gelassen, um anderen Menschen mit telepathischen Fähigkeiten zu helfen. Doch vor der Vergangenheit lässt sich nur selten lange flüchten und als er auf Phoebe trifft, beginnt ihn plötzlich alles wieder einzuholen …
1
Mike

Ungeduldig lief Mike, das Handy nicht aus den Augen lassend, in seinem Hotelzimmer auf und ab. Zwölf Minuten war es nun her, dass Tracys Notruf eingegangen war, und jede davon kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Kalte Angst hatte sich seiner bemächtigt und ließ ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen. Für einen Moment schloss er seine Augen, versuchte sich etwas zu beruhigen und gab sich seinen Erinnerungen hin. Nie würde er den Tag vergessen, als er schwer verletzt und blutend Hilfe und Unterschlupf bei Tracy gesucht hatte. Völlig selbstlos hatten sie und ihre Freunde seine Schusswunde versorgt, die Kugel entfernt und ihm so wahrscheinlich das Leben gerettet. Keine Bedenken waren geäußert und keine Fragen gestellt worden. Tracy und er hatten eine ziemlich leidenschaftliche Affäre gehabt, und ohne diesen Zwischenfall wäre vielleicht mehr daraus geworden. Doch so hatte er sie mit seinem Handeln in Gefahr gebracht, seine Verfolger auf sie aufmerksam gemacht, was er sich bis heute, dreizehn Monate später, nicht verzeihen konnte. Es hatte nur einen Weg gegeben, sie und auch sich selbst zu schützen. Er hatte New York den Rücken gekehrt und ihr damit das Herz gebrochen.
Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Seele, und er blickte sein Spiegelbild im Fenster nachdenklich an. Wusste er eigentlich noch, wer dieser Mann mit seinen kurzen, schwarzen Haaren und extrem dunklen Augen wirklich war? Zu tief hatte er seine wahre Identität in seinem Innersten vergraben, war mit jeder Faser seines Körpers zu Mike Chambers, 37, Single und erfolgreicher Geschäftsmann geworden. Energisch schüttelte er seinen Kopf. Schluss damit, jetzt ging es einzig und allein um das Wohlergehen Tracys. Warum dauerte das denn so lange? Mit jeder Sekunde wurden seine Bedenken größer, obwohl er wusste, dass seine Männer die besten auf ihrem Gebiet waren und nicht ruhen würden, bis sie Tracy geholfen hatten. Endlich zeigte ein Vibrieren eine eingehende Nachricht auf seinem Handy an. „Tracy und Freund aus brennendem Haus gerettet. Außer einer Rauchgasvergiftung keine offensichtlichen Verletzungen festgestellt.“
Erleichtert ließ sich Mike aufs Bett sinken und atmete einige Male tief durch. Erneut meldete sich sein Handy, und er stellte es auf Lautsprecher. „Hi, Joe, ich habe die Nachricht schon erhalten. Zum Glück ist es glimpflich ausgegangen.“ – „Ja, zuerst dachte ich nicht, dass es etwas mit dir zu tun hat. Aber da ist noch etwas, man hat dir eine Nachricht hinterlassen. Ich schicke dir gerade ein Foto davon.“ Mike öffnete die Bilddatei und las. „Das hier soll dir eine Warnung sein, Chambers! Wir haben die Kleine gefunden und werden auch dich finden!“ – „Die Jungs haben den Zettel direkt unter dem Fensterbrett, wo sie eingestiegen sind, entdeckt. Ich verstehe das nicht, wieso gerade jetzt? So viele Monate kein Zeichen von ihnen und nun drohen sie dir einfach so offen?“ Frustriert raufte sich Mike die Haare. „Ehrlich, Mann, ich bin genauso ratlos wie du, verstehe einfach den Sinn dahinter nicht. Fakt ist, wir müssen ab sofort wieder besonders auf der Hut sein. Ich werde Zoe kontaktieren, damit sie unsere Firewalls nochmals verstärkt und sich vorsichtshalber im Club umsieht.“
Er machte eine kurze Pause, bevor er flüsternd nachfragte: „Wie geht es den beiden, weißt du schon Näheres?“ – „Man hat sie ins Krankenhaus gebracht, aber beide waren bei Bewusstsein. Das Diner allerdings ist beinahe vollkommen abgebrannt. Es tut mir leid, Mike, ich weiß, wie sehr dich solche Vorfälle belasten.“ – „Es ist eben mein Fluch, durch mein Handeln immer wieder Menschen in Gefahr zu bringen.“ – „Was jedoch in keiner Relation dazu steht, wie vielen du bereits geholfen hast! Apropos, wie läuft es denn in Bismarck, hast du deinen nächsten Schützling bereits aufgespürt?“ – „Negativ, ich bin mir zwar sicher, dass es sich um eine Frau handelt, aber ich kann ihre Präsenz immer nur sehr vage wahrnehmen. Zu kurz, um ihr näherzukommen, vielleicht muss ich mir jemanden zur Unterstützung kommen lassen, wir werden sehen. Ich werde also noch ein paar Tage hierbleiben. Halte mich wegen Tracy bitte auf dem Laufenden, und schick ihr einen Blumenstrauß ins Krankenhaus.“ Man konnte deutlich Joes Schmunzeln am Telefon hören: „Kommt da wieder einmal der Softie in dir durch? Sie ist zwar bereits vergeben, aber ich werde tun, was du verlangst.“
Mit einem Schnauben kappte Mike die Verbindung. Er konnte es nicht leugnen, Tracy hatte mit ihrer wilden Art sein Herz berührt, dort einen fixen Platz eingenommen, und das würde sich auch nicht ändern. Über all die Monate ließ er seine Männer immer wieder einmal nach ihr schauen und wusste über ihr Leben Bescheid. Sie hatte sich ihm anvertraut, als ein fremder Mann, der sich später als ihr Großvater entpuppt hatte, ihre Gabe als Seherin erweckt hatte. Ein einziger, kurzer Moment hatte ihr Leben für immer verändert und Mike hatte sich nur zu gerne dazu bereit erklärt, den Fremden für sie ausfindig zu machen. Wusste er als Gedankenleser doch nur allzu gut, was es bedeutete, mit solchen Fähigkeiten sein Dasein zu fristen. Außer der immensen Verantwortung seinen Mitmenschen gegenüber brauchte es zudem jede Menge Selbstdisziplin, und, wie in seinem Fall, ein komplett neues Leben.
Viele Jahre wurde er nun bereits wegen seiner Besonderheit verfolgt und bedroht. Was darin gegipfelt hatte, dass er sein Heimatland und seine Familie in einer Nacht- und Nebelaktion hatte verlassen müssen, um deren Sicherheit zu gewährleisten. Er hatte alles hinter sich gelassen, seinen Beruf, den er mit Leidenschaft ausgeübt hatte, seine Liebsten und seine Identität. Mühevoll hatte er sich hier in Amerika ein neues Leben aufgebaut und eine neue Bestimmung gefunden. Er unterstützte Menschen mit den gleichen Fähigkeiten, von denen es tatsächlich ziemlich viele gab, lehrte und betreute sie. Manchen musste er ebenfalls helfen zu fliehen und gewährte ihnen Unterschlupf, bis sie wieder auf eigenen Beinen stehen konnten. Sich in den Dienst dieser Gleichgesinnten zu stellen erfüllte ihn zwar, allerdings vermisste er sein früheres Leben immer wieder schmerzlich.
Seine Hilfstätigkeit war auch der Grund, warum er gerade jetzt in diesem Hotel in Bismarck, der Hauptstadt North Dakotas, nur eineinhalb Stunden von seiner Farm entfernt, für einige Tage abgestiegen war. Seit ein paar Wochen empfing er immer wieder kurze, wütende oder ängstliche Gedanken und war deren Intensität bis hierher gefolgt. Doch jetzt stockte die Aktion, zu selten und vor allem zu kurz kamen die Eindrücke, als dass er sie einer bestimmten Person oder einem genauen Ort zuordnen konnte. Dass er aber in dieser Stadt richtig war, daran bestand kein Zweifel. Die Frauenstimme in seinem Kopf war nun wesentlich deutlicher und lauter zu hören, allerdings nur, wenn sie emotional sehr aufgewühlt war. Das typische Zeichen, dass sie von ihrer Gabe nichts wusste, und sie keinesfalls kontrollieren konnte. Eine durchaus gefährliche Situation für sie selbst und auch für Außenstehende. Außerdem hatte sie Angst, das war aus den Gedankenfetzen deutlich herauszuhören. Wieder seufzte Mike, vielleicht musste er sich wirklich Unterstützung holen. Aber einmal wollte er es noch versuchen. Er zog sich seine Sneakers an, verstaute sein Handy und die Schlüssel in der Hosentasche, schnappte sich seine Jacke und verließ das Hotel. So wie bereits in den letzten beiden Tagen würde er einen großzügigen Spaziergang durch die Stadt machen, in der Hoffnung, eine neuerliche Schwingung der Frau aufzunehmen.
Sein Weg führte ihn auf die Uferpromenade des Missouri Rivers, wo sich bei dem lauen Frühlingswetter viele Menschen tummelten, um frische Luft zu schnappen. Er musste sich konzentrieren, um einerseits nicht die Gedanken aller Passanten in seinen Kopf zu lassen, aber doch offenzubleiben für die gesuchte Person. Abrupt blieb er stehen, als der Aufschrei einer Frau durch sein Gehirn fuhr: „Tracy, nein!“ Es war ein gequälter Schrei, und Mike erstarrte mit schnell klopfendem Herzen. Jemand hier wusste noch über Tracy Bescheid, wie war das nur möglich? Von ganz alleine bewegten sich seine Beine auf den Ausgangsort des Schreies zu und führten ihn zu einem kleinen Café in einem angrenzenden Park. Entschlossen betrat er das Lokal und ließ seinen Blick suchend über die Gäste schweifen. Er brauchte nicht lange, bis er die Frau mit den roten Haaren weinend telefonieren sah, und erkannte sie sofort aus Tracys Erzählungen. Es handelte sich um ihre ehemalige Chefin, die ebenfalls über eine besondere Gabe verfügte. Zielstrebig ging er auf sie zu und räusperte sich vernehmlich, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. „Entschuldige bitte, Mina, ich möchte dich nicht erschrecken, aber wir beide haben eine gemeinsame Bekannte, Tracy, und ich weiß, was ihr heute widerfahren ist. Ich bin übrigens Mike.“ Er setzte sein charmantestes Lächeln auf und streckte ihr seine Hand entgegen.
Mit ungläubigen Augen starrte Mina den groß gewachsenen Mann mit der charismatischen Ausstrahlung an und stammelte ins Telefon: „Ich muss Schluss machen, Eileen, ich habe hier gerade so etwas wie eine Erscheinung. Ich melde mich später bei dir.“ Damit ließ sie das Handy sinken, schüttelte Mikes Hand und deutete, etwas zittrig, auf den Stuhl gegenüber. „Hallo Mike, setz dich bitte. Es tut mir leid, aber ich muss mich erst etwas sammeln. Du bist doch kein Traum, oder? Wie hast du mich hier gefunden?“ Sie putzte sich die Nase und wischte die letzten Tränen mit einem Taschentuch fort. Sanft nahm der fremde Mann ihre Hand in seine und lächelte sie an: „Ich bin sehr lebendig und wahrhaftig hier bei dir.“ Schon in der ersten Sekunde ihrer Berührung wurde die emotionale Verbindung zwischen ihnen hergestellt, die Mina als Energiewesen auszeichnete. Vertrauensvoll ließ es Mike zu, wusste er ja von Tracy über Minas Gabe Bescheid.
Mit Erleichterung spürte Mina seine Verbundenheit zu Tracy,
aber auch die Sicherheit, dass es ihr gut ging. Die Wärme auf ihrem Handgelenk ließ sie ihre Hand zurückziehen, und sie sah dabei zu, wie die letzten Glasperlen ihres Armbandes zersprangen. Also war er es, weswegen es sie hierhergezogen hatte. Völlig untypische Träume hatten sie dazu bewogen, den Besuch bei ihrer Tochter zu unterbrechen und einen Ausflug nach Bismarck zu machen. Sie hatte sich ein Armband umgelegt, das erste Mal, ohne genau zu wissen, wozu es dienen sollte, und trotzdem hatte es seine Aufgabe erfüllt. Aber da war noch etwas anderes an ihm, sie konnte es in seinen Augen sehen, trotz der Kontaktlinsen. Ihrem Instinkt folgend schickte sie ihre Gedanken los: „Es waren deine Männer, die Tracy und Henry gerettet haben, nicht wahr?“ Nun war es an Mike, die Brauen erstaunt hochzuziehen, als er laut antwortete: „Du bist wirklich gut, Mina. Ja, sie hat einen Notruf abgesetzt, und sie konnten die beiden ziemlich unbeschadet aus den Flammen holen. Wegen deines Diners tut es mir sehr leid.“ Mina machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist nichts, was man nicht wiederaufbauen könnte! Aber ein Menschenleben kann man nicht ersetzen, also vielen Dank für deine Hilfe! Außerdem gehört mir das Diner nicht mehr, Henry hat es gekauft.“ Mike nickte zum Verständnis. „Du hast mich gefragt, wie ich dich gefunden habe. Deine Sorge um Tracy war in meinem Kopf nicht zu überhören. Was hat dich nach Bismarck geführt?“ – „Allem Anschein nach du! Kann es sein, dass du vielleicht Hilfe benötigst?“
Die Kellnerin kam, servierte den bestellten Kaffee, und Mike nahm einen großen Schluck davon. Diese Situation brachte ihn mehr aus dem Gleichgewicht, als ihm lieb war. „Ich muss gestehen, dass du mich immer mehr erstaunst, obwohl ich schon so einiges gesehen und erlebt habe. Aber du hast recht, ich könnte wirklich etwas Unterstützung brauchen.“ – „Na, dann schieß mal los, ich bin zu fast jeder Schandtat bereit.“ Mike konnte ein Lachen nicht unterdrücken, diese Frau war absolut entwaffnend und vertrauenswürdig. „Ich bin auf der Suche nach einer Frau mit den gleichen Fähigkeiten, die auch ich mein Eigen nenne. Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas mache, doch bei ihr gestaltet sich die Sache um einiges schwieriger. Ihre Gabe ist nicht mehr als ein bruchstückhaftes, kurzes Aufflackern. Zu wenig, um tatsächlich ihre Spur aufzunehmen, aber sie hat Angst und braucht dringend Hilfe.“ Nachdenklich legte Mina ihren Kopf schief, betrachtete Mike einige Sekunden stumm und griff dann schließlich in ihre Handtasche. „Jetzt ergeben meine Träume der letzten Nächte tatsächlich einen Sinn. Die Frau, nach der du suchst, hat lange, schwarze Haare und blaugraue Augen, bei deren Anblick man glaubt, dass darin ein Sturm tobt. Mehr kann ich dir leider nicht sagen, aber ich habe dir zur Unterstützung etwas mitgebracht.“
Sie holte zwei Armbänder hervor und bedeutete Mike, seine rechte Hand auszustrecken, um ihm das Band mit den bernsteinfarbenen Glasperlen umzulegen. Mit großen Augen betrachtete er die Perlen und nahm danach Mina ins Visier, die nur mit den Schultern zuckte. „Du kannst dein wahres Aussehen vielleicht in der Realität verbergen, jedoch in meinen Träumen nicht. Dieses Armband soll dich, ähnlich wie ein Kompass, zu der Frau führen und dich in allen Belangen, was sie betrifft, unterstützen. Je näher du bist, umso wärmer werden die Perlen und zerspringen teilweise. Erst wenn die Letzte zersprungen ist, hat das Bändchen seine Aufgabe erfüllt.“ Fragend zeigte Mike auf das zweite Bändchen mit den grauen und blauen Glasperlen. „Das ist für die Frau. Ich selbst betreue immer Schützlinge mit meinen Fähigkeiten und weiß um ihre emotionale Verwirrtheit und Verzweiflung Bescheid. Es wird ihr helfen, die richtigen Entscheidungen in schwierigen Situationen zu treffen. Ach ja, du musst ihr das Armband links anlegen, sie ist Linkshänderin.“
Ehrfürchtig nahm Mike das zweite Armband entgegen. „Du bist eine wahrhaft erstaunliche Frau, Mina. Vielen Dank, ich werde es mit Stolz tragen.“ Kurz tätschelte Mina seine Hand und erhob sich lächelnd. „Ich wünsche dir viel Glück, Mike, und freue mich sehr, dich kennengelernt zu haben. Aber jetzt muss ich wieder los, ich möchte noch vor Einbruch der Dunkelheit bei meiner Tochter sein.“ Mike erhob sich galant und reichte ihr zum Abschied seine Hand und eine Visitenkarte: „Die Freude ist ganz meinerseits, Mina, und ich hoffe, dass dies nicht unser letztes Treffen war. Klingle doch später einmal bei mir durch, damit ich deine Nummer habe.“ – „Das mache ich auf jeden Fall, mein Lieber.“ Überraschenderweise trat sie an ihn heran, stellte sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Mike wünschte ihr eine gute Heimreise, bezahlte und machte sich auf, um weiter nach der unbekannten Frau zu suchen. Jetzt jedoch mit der Gewissheit, dass es ihm auch gelingen würde, sie zu finden.



2
Phoebe

Beinahe zwei Stunden später hatte Mike noch immer nichts von seiner Zielperson wahrgenommen, und langsam, aber sicher, knurrte ihm der Magen. Also hielt er Ausschau nach einem Supermarkt, um sich zwischendurch mit einem Snack zu stärken. Er überquerte die West Main Avenue und erspähte in einigen hundert Metern das Leuchtschild eines Daily Markets. Mit zügigen Schritten bewegte er sich darauf zu und wäre beinahe mit einer Straßenlaterne kollidiert, als die, mittlerweile vertraute, Stimme wütend durch seinen Kopf schimpfte. Es hörte sich so nahe und klar an, dass er, den Atem anhaltend, ehrfürchtig lauschte. Langsam drehte er sich um die eigene Achse und versuchte eine Frau, die auf Minas Beschreibung passte, unter den vielen Menschen ausfindig zu machen. Doch so einfach war es natürlich nicht, und er setzte sich abermals in Bewegung, versuchte es in verschiedenen Richtungen, um der Spur folgen zu können. Zeit war jetzt der wichtigste Faktor, brauchte er zu lange, verhallte die Stimme wieder, bevor seine Suche von Erfolg gekrönt wurde. Es wurde warm an seinem rechten Handgelenk, als er in eine Seitengasse blickte, und er dankte Mina im Stillen. Mit zügigen Schritten folgte er den Gedanken der Frau und dem führenden Armband im Zickzackkurs durch die Innenstadt von Bismarck.
Wütend warf Phoebe die Tür des Polizeirevieres hinter sich ins Schloss und rannte die paar Stufen leise vor sich hin schimpfend hinunter. „Elendes Polizistenpack! Was bildet sich dieser Schnösel eigentlich ein, mich derart abzukanzeln! Millionen von Steuergeldern verschwendet an nichtsnutzige Ignoranten!“ Ziellos stapfte sie mit langen Schritten durch die Straßen und ließ die letzten Minuten noch einmal Revue passieren. Voller Vertrauen hatte sie sich an das örtliche Polizeirevier gewendet, da sie sich seit einigen Wochen ständig verfolgt fühlte. Zu Beginn des Gespräches hatte sich der Beamte tatsächlich bemüht, ihre Daten aufgenommen und sich ihre Beobachtungen angehört. Alles hatte sie ihm erzählt, von den vertrockneten Blumen unter ihrem Scheibenwischer auf dem Supermarktparkplatz, den seltsamen Symbolen auf ihren Autoreifen, den Schritten, die sie im Park verfolgten, und niemand mehr zu sehen war, sobald sie sich umdrehte, und vor allem vom verschwundenen Halstuch, das sie Tage später an der Armlehne ihrer Lieblingsbank im Park blutverschmiert wiederentdeckt hatte. Natürlich hatte sie es an sich nehmen wollen, war aber zufälligerweise von einer Frau abgelenkt worden, die sie nach dem Weg gefragt hatte, und als sie nach dem Tuch hatte greifen wollen, war es wieder verschwunden.
Schweigend hatte der Mann zugehört und sich am Ende ihrer Ausführungen nach ihrem Beruf erkundigt. „Ich bin Schriftstellerin.“ – „Und welche Art von Büchern schreiben Sie?“ –„Fantasyromane!“ Sofort hatte sich sein Gesichtsausdruck verändert, und er hatte sie milde angelächelt. „Lady, ich möchte Ihnen ja nichts unterstellen, aber kann es sein, dass in dieser Sache ebenfalls die Fantasie mit Ihnen durchgegangen ist? Sie müssen schon zugeben, dass alles hört sich doch ziemlich verrückt an, und uns fehlt auch nur der kleinste Beweis. Vielleicht waren es nur etwas zu realistische Träume, nachdem Sie stundenlang an Ihren Büchern gesessen haben?“ Da war ihr der Geduldsfaden gerissen, und sie hatte ihn schreiend beschimpft, was bei ihm nicht besonders gut angekommen war und er sie ziemlich bestimmt aus dem Revier geworfen hatte. Allmählich verwandelte sich ihre Wut in Resignation. Er hatte ja nicht Unrecht, die Sache war schon ganz schön schräg, allerdings hatte sie eine Scheißangst, und an wen sollte sie sich sonst wenden? Sie hätte es besser wissen müssen. Ziemlich außer Atem blieb sie kurz stehen, um sich zu orientieren, wohin sie in ihrer Wut gelaufen war. Ein Hoch auf ihr Unterbewusstsein, sie stand genau vor ihrem Lieblingssupermarkt. Dort würde sie finden, was sie genau jetzt am dringendsten brauchte, Nervennahrung.
Auch Mike war ganz schön ins Schwitzen gekommen, bis die Stimme in seinem Kopf verstummte, und er sah erstaunt auf das Leuchtschild des Supermarkts, den er bereits vorher entdeckt hatte. Da waren sie wohl mit der Kirche ums Kreuz gelaufen. „Das hätten wir einfacher haben können!“, raunte er und schickte kurz seine Sinne aus, wieder ohne Erfolg. Doch ihre Präsenz war deutlich zu spüren, und er folgte ihr in das Geschäft, in dem sich jede Menge Kunden befanden. Langsam schritt er durch die Gänge und versuchte seine Gedanken zu ordnen, das Gehörte zu verstehen. Nur bruchstückhaft waren ihre Erinnerungen bei ihm angekommen, aber ohne Zweifel fühlte sie sich verfolgt. Ihre Furcht konnte er beinahe körperlich wahrnehmen, und darauf konzentrierte er sich jetzt. Er war ihr bereits so nahe und würde nicht ruhen, bis er endlich Kontakt zu ihr aufgenommen hatte.
Sein Armbändchen reagierte wieder, führte ihn zu einem Regal im hinteren Bereich des Supermarktes, und als die junge Frau mit den schwarzen, wirklich langen Haaren in sein Blickfeld kam, zersprangen einige Perlen. Erleichterung durchströmte ihn, er hatte sie endlich gefunden, jetzt durfte er nur keinen Fehler machen. Schnell zog er sein Handy aus der Hosentasche und machte heimlich einige Aufnahmen von ihr, während sie konzentriert vor dem Regal stand und nach etwas Ausschau hielt. Das gab ihm die Gelegenheit, seinen neuen Schützling etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Sie war sicherlich um einen Kopf kleiner als er und auch jünger, er schätzte sie auf Anfang dreißig. Ihre Haare hatte sie zu einem glänzenden Zopf gebunden, der ihr beinahe bis zur Hüfte reichte. Ihre Statur versteckte sie in bequemen Jeans und einem weiten Kapuzenpulli. Dazu trug sie Turnschuhe und eine große Handtasche in der gleichen Farbe. Sie richtete ihren Blick nach oben und seufzte theatralisch, was Mike die perfekte Möglichkeit bot, mit ihr ins Gespräch zu kommen.
Phoebe stöhnte innerlich, wenn ein Tag schon scheiße lief, dann aber gründlich. Natürlich gab es keine von ihr so sehr geliebten, frischen Kirschen in der Obstabteilung, und das Regal mit den Cocktailkirschen war wieder einmal leer. Das verdankte sie mit Sicherheit Eddie, einem Mitarbeiter des Ladens, der ein Auge auf sie geworfen hatte. Er schichtete die Gläser nicht nach, damit sie ihn um Hilfe bitten musste und er so die Gelegenheit hatte, ein wenig mit ihr zu flirten. Was an und für sich ganz süß war, aber zum Problem wurde, wenn er keinen Dienst hatte. Sehnsuchtsvoll schielte sie hoch, wo die Objekte ihrer Begierde in Reih und Glied zum Einräumen bereitstanden, und verfluchte wieder einmal die wenigen Zentimeter, die ihr mit ihren 1,65 m offensichtlich fehlten. Eine dunkle Männerstimme ließ sie erschrocken zusammenfahren und instinktiv einen Schritt zurückweichen: „Darf ich Ihnen behilflich sein?“ Argwöhnisch betrachtete sie den Fremden mit den schwarzen Haaren und extrem dunklen Augen, der sie fragend anlächelte. Er wirkte zwar freundlich, doch schien er von einer geheimnisvollen Aura umgeben zu sein und löste sofort einen Fluchtreflex in ihr aus. Ihre Gedanken überschlugen sich, wenn er nun einer ihrer Verfolger war, und seine Chance nutzte, um sie hier an Ort und Stelle zu eliminieren?

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