Eine jüdische Großmutter
Hans Günther Schimpf
EUR 16,90
EUR 10,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 222
ISBN: 978-3-95840-912-5
Erscheinungsdatum: 30.01.2020
Philip hat es nicht leicht. Er wird behindert in die raue Vorkriegszeit hinein geboren.Seine Eltern bekommen keine Hilfe und machen Fehler. Doch Philip hat einen Freund, der alles richtig macht, findet Hilfe, seine große Liebe und seine jüdische Großmutter.
1. Kapitel
Der lange, kalte Winter schien unerwartet zu Ende. Gestern noch graue Kälte, heute wärmende Sonnenstrahlen vom Himmel ohne Wolken. Lautes, übermütiges Vogelgezwitscher wirkte wie ein Messerstich in die Gedanken und Gefühle der kleinen Gruppe vor einer mit grünem Teppich ausgelegten Grube, in die soeben ein heller, blumengeschmückter Sarg für immer verschwand.
Es war der 3. März 1951, der letzte Akt einer lang dauernden Abschiedszeremonie – das Begräbnis von Philips einzigem, für ihn einzigartigen Freund Daniel. Der siebzehnjährige Philip war als Jugendlicher allein unter den dunkel gekleideten, eng beieinanderstehenden Männern und Frauen. Eingerahmt von Daniels Eltern, die ihm einen Arm um die Schulter legten, hätte er nicht entkommen können. Die Erde, nass und glitschig, machte durch die dünnen Sohlen der Sonntagsschuhe kalte Füße. Seine Augen von Tränen verschleiert, seine Gedanken im Chaos, war dieser Moment für ihn nicht wirklich. Er drohte zu rutschen, hielt sich an den Eltern fest. Ein still verzweifeltes Dreierbündnis. Herausgerissen aus einer Welt voller Lebens- und Zukunftsfreude.
Zuvor, in der Aussegnungskapelle, hatte sich die Schulklasse, unterstützt von Mitgliedern des großen Schulchores, mit einem Choral in Latein verabschiedet. Auf einen deutschen Text hatte man sich für diesen seltenen Anlass nicht einigen können. Philip saß versteinert bei den Eltern. In seinem Kopf lief ein Erinnerungsfilm ihrer so großartigen Freundschaft ab, der ihn in diesem Moment vor der unerträglichen Gegenwart schützte. Immer wieder musste er Gedanken verdrängen, die ihn zwingen wollten, sich Daniels Aussehen vorzustellen. Das Institut hatte den Eltern abgeraten, am offenen Sarg Abschied zu nehmen.
Durch ein rundes, buntes Rosetten-Fenster fielen von oben dünne, farbige Strahlenbündel der Sonne auf den Sarg, die Kapelle war nur schwach beleuchtet. Verbunden mit den leisen Klängen des Harmoniums, empfand Philip diese Erscheinung wie einen himmlischen Willkommensgruß.
Die Worte des Direktors kamen nur wellenartig bei ihm an. Philip hörte ihn mit der ihm eigenen, falsch betonenden Sprache, die er aus Reden in der Aula kannte. „… Und wir sind in der Pflicht, einem eurer Mitschüler die letzte Ehre zu erweisen. Wir sind in tiefer Trauer mit seiner Familie und seinen Freunden über den Verlust eines ganz dem Schulgeist entsprechenden jungen Lebens …“
Daniel hatte nur einen Freund, jeder wusste das. Philip fühlte sich verletzt. Er mochte diesen Direktor nicht. Der wirkte oft oberflächlich und teilnahmslos. Wenn man ihn grüßte, antwortete er oft nur mit „danke“. Jetzt hasste er ihn.
Wie anders war die Ansprache ihres Klassenlehrers Dr.?Berner, der nach Genesung von einer Kriegsverletzung die Klasse, als erste nach dem Krieg, übernommen hatte. Er war im Gesicht durch eine Narbe, vom Auge über die ganze Wange, gezeichnet. Er sprach leise, nach Worten ringend. Nach jedem Satz musste er eine Pause einlegen, um seine Betroffenheit zu beherrschen. Zur Klasse gewandt sagte er: „Dieses Unglück wird uns alle prägen. Es hat uns gezeigt, wie zerbrechlich das uns geschenkte Leben, gerade in der Kindheit und Jugend, sein kann. Ein junges Leben hat diesen furchtbaren Krieg überwunden und musste nun auf diese unfassbare Weise viel zu früh von uns, in eine andere Welt gehen. Einer eurer Mitschüler hat seinen einzigen Freund verloren. Bitte vergesst dies im zukünftigen Kontakt mit ihm nicht.“
Dann an die Eltern: „Das Leid der Eltern kann man nicht in Worte fassen. Ich bete zu Gott, ihnen die Kraft zu geben, nach der Zeit einer nur schwer zu ertragenden Trauer wieder in ein zumindest normales Leben zurückfinden zu können.“ Die Anspannung erstickte seine Stimme. Das, was er noch sagen wollte, blieb ungesagt. Philip liebte diesen Lehrer – nicht nur wegen seiner einfühlsamen Rede.
***
An den Tagen danach war Philip wie im Zustand einer leichten Betäubung. Er erledigte seine Pflichten – Schule, Hausaufgaben, Hilfe im Haus – ohne besondere Gefühlsregung. Man ließ ihn in Ruhe, sprach wenig mit ihm, um ihn zu schonen oder um Fehler im Umgang mit ihm zu vermeiden. Man wusste, wie empfindlich und zerbrechlich seine Gefühlswelt schon vorher war. Er wähnte sich beobachtet, zuhause, in der Schule, von Nachbarn, sogar von Leuten, die er gar nicht kannte. Seine Menschenscheu, die er seit dem Zusammensein mit Daniel glaubte überwunden zu haben, hatte ihn wieder eingeholt. Jeden Tag ging er zu Daniels Grab. Sprach leise mit ihm, war sich bewusst, dass er sich damit für viele in einer fragwürdigen Situation befand. Er wollte nicht wahr haben, dass alles wirklich und endgültig war. Die Ursache seines seit drei Jahren so wunderbar anderen Lebens war zerstört. Die Freundschaft zu Daniel stand für ihn über allem, über dem Zuhause mit seinen Eltern, über jeglichem Umgang mit Gleichaltrigen in der Nachbarschaft und auch über dem Kontakt zu den Mitschülern. Daniel war erkennbar intelligenter. Philip hatte dafür mehr Fantasie, die aber erst durch Daniel richtig zum Leben erweckt wurde. Wegen ihrer engen, als exklusiv erscheinenden Freundschaft wurden sie von ihrer Umgebung manchmal belächelt, sogar gehänselt. Das störte sie nicht, sie förderten es oft sogar. Philip war durch Daniel weniger angreifbar, weniger verletzlich geworden.
So weit Philip zurückdenken konnte, war Daniel neben seinen Eltern bisher der Einzige, für den seine Behinderung nicht existierte. Philip hatte auf der Oberlippe linksseitig eine aufgequollene Narbe und an dieser Stelle auch eine dickere Lippe. Er konnte nicht normal sprechen, da ihm die Aussprache einiger Konsonanten nicht deutlich genug gelang. Dazu konnte er auch nicht laut genug sprechen. In der frühen Kindheit war er darum oft dem Spott anderer Kinder ausgesetzt. Ebenso verletzend empfand Philip das mitleidige, schützende Verhalten der Erwachsenen, was ihn erwarten ließ, dass er nie als vollwertiger Mensch würde leben können. Philip wurde zum Außenseiter, der sich mehr und mehr in sich zurückzog und aus seiner selbst geschaffenen Isolation mit bewunderndem Neid auf Altersgenossen blickte, die beim Spielen und Toben schrien, lachten und sich auf weite Entfernungen verständigen konnten. Nicht sie haben ihn dabei ausgeschlossen. Er hat sich selbst ausgeschlossen, weil er seine Schwäche durch mögliches Versagen nicht noch deutlicher machen wollte.
Zuhause hatte Philip alle diese ihn belastenden Vorkommnisse verschwiegen, er wollte seinen Eltern, die unter seiner sprachlichen Benachteiligung gewiss litten, nicht noch mehr Kummer machen. Er wollte seinen Eltern ein ganz normales Kind sein. Wenn er beim Einkaufen im Laden bei einer Sache nicht verstanden wurde, ging er ohne diese nach Hause und gab vor, sie wäre nicht vorrätig. Wenn er in einer bestimmten Straße wieder einmal von einer Kinderhorde in einen Hausflur gedrängt und aufgefordert wurde, er solle mal was sagen und danach sichtlich betroffen nach Hause kam, hatte er dafür jedes Mal eine glaubhafte, aber erfundene Erklärung.
Einmal, in der Strasse zum Fleischerladen, stellte sich ihm ein rothaariger, etwa gleichaltriger Junge mit hässlicher Grimasse in den Weg. Seine jüngeren Spielkameraden grölten dazu Beifall. Immer wenn Philip ausweichen wollte, sprang er vor ihn. Philip musste einen überraschenden Spurt wagen, um ihm zu entkommen.
Philip glaubte, an ihm vorbeigekommen zu sein, als der Rote unvermutet mit Anlauf auf seinen Rücken sprang und ihm mit seinem Unterarm fast die Kehle abdrückte. Philip kam ins Straucheln, torkelte nach hinten und presste ihn ungewollt so heftig gegen die grob verputzte Hauswand, dass der Rote laut aufheulte und losließ. Philip flüchtete. Ein nur mit Unterhemd bekleideter Mann, auf einer Fensterbank ruhend, rief hinter ihm her: „Lass dich hier nicht mehr blicken, du Rotzbengel.“
Philip zog daraus und aus anderen Zwischenfällen die Konsequenz, dass er einige Strassen bei seinen Besorgungsgängen mied. Er legte seine Routen so, dass er Spielstrassen umging, dadurch aber weite Umwege in Kauf nehmen musste.
Immer, wenn er sich besonders verletzt und gedemütigt fühlte, ging er zu seinem Trost-Engel. In der Nähe seines Elternhauses war ein großer Friedhof. Der war in seinem Eingangsbereich parkähnlich angelegt. Hinter einem breiten, eisernen Eingangstor prunkte eine große Rasenfläche, vor einer erhöhten Kapelle in rotem Backstein. Wegen ihrer Größe und durch den Turm wirkte sie wie eine Kirche.
Seitlich der Grünfläche brüsteten sich mächtige Steingräber und Grüfte, die, nach den Inschriften zu schließen, wohlhabenden Familiendynastien der Stadt zugeordnet werden konnten. Eine dieser Stätten war Philips Zufluchtsort. Im Hintergrund dieser Anlage versteckte sich ein großes, buntes Mosaikbild. Auf einem tiefblauen See, umrahmt von Zypressen, fuhr ein trauergeschmücktes Boot mit einem verdeckten Sarg, der von einer verhüllten Gestalt bewacht wurde. Das Bild strahlte eine feierlich tröstende Ruhe aus, die Philip magisch anzog. Er setzte sich auf die Steinbank neben diesem Bild, sah auf einen menschengroßen Engel, der seine Hände nach ihm ausstreckte. Dessen wundersame Ausstrahlung bedeutete ihm Liebe, Verständnis, Trost und Verzeihen. Das alles erfuhr er, wenn er auf dieser Bank saß. Der steinerne Engel half ihm. War dabei aber nicht bedrückt oder traurig wie oft seine Mutter.
Er hörte den Engel sprechen: „Sei nicht traurig, sei nicht verzweifelt, wenn dir jemand weh getan hat. Kinder sind oft übermütig und haben noch nicht so viel Verstand. Die Großen finden nicht immer die richtigen Worte oder sind manchmal ungeduldig. – Gott hat alle gleich lieb. Ganz bestimmt auch dich.“
Nachdem der Engel so zu ihm gesprochen hatte, ging er ruhiger und getröstet in die Geborgenheit seines Elternhauses. Vorbei beim Pförtner am großen eisernen Tor, der Philips Besuche bei seinem Engel kannte und für ihn eine Ausnahme machte, denn Kinder in seinem Alter durften den Friedhof allein nicht betreten.
Nicht allen Dingen gab Philip nach. Seine Mutter schrieb ihm größere Besorgungen auf einen Zettel, den er im Laden vorzeigen sollte. Er benutzte ihn nur in Ausnahmefällen. Philip wollte jede Gelegenheit nutzen, seine Sprachverständigung zu verbessern und befürchtete, beim Vorzeigen des Zettels für dumm gehalten zu werden.
Für sein damaliges Alter hatte Philip seine Situation erstaunlich realistisch begriffen. Er hatte erkannt, dass, wenn man ihn nach wiederholten Rückfragen nicht verstand, er in eine extreme Unsicherheit geriet, die ihn total blockierte. Darum beschloss er, sich in solchen Fällen frühzeitig zu entschuldigen und sich zurückzuziehen.
In dieser Zeit war es auch, als er sein erstes Buch lesen konnte, als er zum ersten Mal ins Kino gehen durfte, dass er anfing, sich eine Traumwelt zu schaffen, in der er seine Probleme vergessen konnte. Die Folgen daraus wurden ihm ohne fremde Hilfe jedoch schnell bewusst. Die notwendige Rückkehr ins reale, unbarmherzige Leben glich einem Wechsel vom warmen ins eiskalte Wasser.
***
Die Kindheit wird als eine unbeschwerte Zeit des Lebens gelobt. Philip wurde dieses Privileg nicht geschenkt. Unbewusst musste er ständig dafür kämpfen.
Es gab Momente in der durch den Krieg sowieso schwierigen Zeit, die eigentlich ganz unverdächtig waren, in denen jedoch aber Dinge geschahen oder Worte gesprochen wurden, die für Philip unvergessen blieben und oft eine große Bedeutung bekamen.
Er saß mit seiner Mutter in einem muffigen, nach faulem Holz riechenden Luftschutz-Bunker, der unterhalb eines alten Stadtwalls ausgegraben war. Das warme und trockene Draußen, das gute Klima, wurde durch dicke stählerne Tore ausgesperrt.
Der Bunker war vollgestopft mit Menschen, von denen die meisten in der Stadt zum Einkauf unterwegs gewesen waren und wegen eines Bombenalarms diesen Ort hatten aufsuchen müssen. Die Leute saßen sich in langen Reihen auf schmalen Holzbänken gegenüber. Es wurde kaum gesprochen. Einige bewegten leise die Lippen. In diesen Betonmonstern herrschte immer eine Atmosphäre großer Angst. Man wartete auf das Krachen der Bomben oder auf das Signal der Entwarnung. Viele blickten mit leeren Augen vor sich hin. Die, welche Philip und seiner Mutter gegenübersaßen, starrten teils verhohlen, teils unverhohlen auf Philip, der immer näher an seine Mutter heranrückte. Die ihn betreffende Aufmerksamkeit hatte Philip bisher noch nirgends so deutlich erfahren.
„Hast du gesehen, wie die Leute mich angestarrt haben?“, fragte er auf dem Heimweg. „Einige haben sich sogar angerempelt, um mich zu begaffen.“
„Das musst du nicht so ernst nehmen. Die haben eine solche Narbe wie deine vielleicht noch nie gesehen.“ Und dann sagte seine Mutter: „Mach dir deshalb nicht so dumme Gedanken. Du bist doch ein gut aussehender Junge. Jeder Mensch hat irgendein besonderes Merkmal. Deins ist eben besonders auffällig.“
Es war für Philip das erste Mal, dass sich seine Mutter zu seinem Aussehen äußerte. Es war für ihn wie ein großes Geschenk. Selbst, wenn seine Mutter in ihrer besonderen Fürsorge etwas übertrieben haben sollte, sie hätte das so nicht gesagt, wenn es überhaupt nicht stimmen würde. Wahrscheinlich hat sie nie erkannt wie sehr sie ihm mit diesem einfachen Satz geholfen hat. Das Bunkererlebnis und die Aussage der Mutter danach brannten sich als Verbindung tief in sein Gedächtnis ein.
Solche Erlebnisse trieben Philip schon im frühen Kindesalter in eine zunehmende Isolation. Das übertrug sich dann auch auf die Schule. Er versuchte sehr geschickt den sprachlichen Problemen auszuweichen. In Arbeitsgruppen wirkte er engagiert, drückte sich aber vor der Präsentation der Ergebnisse. Er galt dann wegen seiner Zurückhaltung generell als unauffälliger Mitläufer und als nicht besonders intelligent. – Ein Teufelskreis.
Es gab auch Menschen, die ihn ohne Schwierigkeiten gut verstanden. Vielleicht, weil sie sich beim Zuhören mehr Mühe gaben. Er hatte dann jedes Mal Glücksgefühle und glaubte, sich vielleicht zu sehr zu sorgen. Bis dann andere so reagierten, als hätten sie überhaupt nichts verstanden. Es kam sogar vor, dass jemand unwirsch reagierte, was man an seiner missmutigen Miene ablesen konnte. Das zerstörte in wenigen Sekunden ein über eine lange Zeit mühsam aufgebautes, kleines Stück Selbstwertgefühl.
Die Schwierigkeit war, dass Philip einige Konsonanten, wie zum Beispiel das R, nicht oder nur unzureichend aussprechen konnte. In der Zeit nach der Grundschule hatte er sich eine Fähigkeit antrainiert, wie er Worte mit für ihn schwierigen Buchstaben schnell durch passende ersetzen konnte. Anstatt „Regenwetter“ benutzte er wegen des Rs dann besser den Begriff „nasses Wetter“. Er wurde dadurch Meister im Finden von Synonymen. Sein späterer Klassenlehrer, Dr.?Berner, hatte ihm das einmal gesagt.
***
Das letzte gravierende Ereignis während der Grundschulzeit widersprach Philips bisheriger Verhaltensweise grundlegend. Es prägte ihn wahrscheinlich mehr, als man damals hätte vermuten können.
Ein hyperaktiver Mitschüler hatte Philip als Schwächling eingeschätzt. Er drückte seine vermeintliche Überlegenheit durch Verhöhnung und Nachäffen aus. Die immer mehr zunehmende Belästigung, die durch andere ignoriert wurde, erzeugte in Philip, ganz entgegen seiner bisherigen Passivität, einen Wut- und Gewaltausbruch, der dem Belästiger einen Krankenhausaufenthalt bescherte.
Eltern und Lehrer hatten keine Erklärung. Philip schwieg, es gab keine Zeugen. Die Eltern des Verprügelten stellten Strafanzeige. Philips Vater wurde in die Schule bestellt. Es drohte ein Schulverweis.
Philip, als der Angreifer, verschwieg die Ursache, weil er spürte, dass sein Vater zum ersten Mal stolz auf ihn war. Er wollte seinen Vater nicht enttäuschen und keinen Zusammenhang mit seiner Sprachbehinderung zulassen. Die Situation erzeugte in ihm sogar eine bisher nicht gekannte Selbstachtung.
Er musste zunächst dem Unterricht fernbleiben. Die Untersuchung ging aber weiter. Der Auslöser für Philips Gewaltausbruch fand Verständnis in der Lehrerschaft. Es gab also doch Zeugen, die geschwiegen hatten.
Philip freute sich nicht darüber. Er war das Mitleid erregende Opfer.
***
Alles änderte sich auf der Oberschule, in der siebten Klasse, mit der Ankunft eines neuen Schülers. Er wurde Philip als Banknachbar zugeteilt. Sein Name: Daniel Delconte. Sie hätten Brüder sein können. Beide hellblond, große dunkle Augen. Im Gegensatz zum bisherigen Bankpartner verhielt sich Daniel Philip gegenüber wohltuend offen und zugänglich. Beide waren, ohne besondere gegenseitige Erklärungen, schon nach wenigen Wochen von einer dauerhaften, tiefen Freundschaft überzeugt.
Daniel war einige Zentimeter größer, obwohl einige Monate jünger. Er hatte eine aufrechte, Stolz ausdrückende Sitzhaltung. Schon darin erkannte Philip Daniels große Persönlichkeit und Selbstsicherheit. Er war er. Sein Profil ähnelte dem eines griechischen Jünglings, durch einen längeren, geschwungenen Nasenrücken und einem längeren Hals, der sein besonderes Profil noch mehr hervorhob. Nur seine hellblonden Haare passten nicht dazu. Er war ein gut aussehender blonder Grieche. Philip war von seiner Erscheinung und seinem Auftreten beeindruckt und sicher, von ihm viel lernen zu können.
Die endgültige Besiegelung ihrer Freundschaft geschah in einer Englisch-Stunde. Philip musste aus dem Lehrbuch vorlesen. Der Lehrer bemängelte seine Aussprache, besonders das englische „th“. Er musste es zehnmal wiederholen. Es wurde dadurch noch schlechter. „Wieso bist du eigentlich auf dieser Schule?“, griff der Lehrer, vom Alter her schon pensionsreif, ihn an. Als Daniel sah, wie Philip mit feuchten Augen, blass, wie versteinert dastand, sprang er auf: „Sie sollten sich schämen, Sie hören doch, dass Philip es nicht besser kann. Das ist doch kein Grund, ihm die Schule zu verwehren.“ Einige in der Klasse waren peinlich betroffen. Ein Neuer hatte sie in ihrer bisherigen Gleichgültigkeit bloßgestellt. Daniel musste sofort den Raum verlassen.
Philip folgte ihm: „Du sollst wegen mir keine Schwierigkeiten bekommen. Er wird sich rächen.“ „Und du sollst dir keine Sorgen machen. Ich tue das, was ich tun muss. Dieser Kerl ist ein altes Arschloch.“
Die letzte Bemerkung hatte der Direktor gehört, der auf dem langen Flur näher kam. „Wer ist hier ein Arschloch? Und warum steht ihr hier draußen auf dem Flur?“ Philip hätte kein Wort herausgebracht. Daniel blieb ruhig und gelassen. Er berichtete den Vorfall sachlich korrekt. Der Lehrer wurde herausgerufen und stellte seine Maßnahme als Lappalie hin. Dem Direktor war anzusehen, dass der Vorgang für ihn noch nicht als erledigt galt.
Philip war verunsichert und beschämt. Er hatte Daniel in seine Probleme hineingezogen und befürchtete, dass er sich jetzt abwenden könnte. Nach Schulschluss wurde Daniel von seiner Mutter abgeholt. Philip durfte wieder eine Strecke auf seinem Weg mitfahren. Daniel plauderte lebhaft über den Schultag. Den Vorfall erwähnte er nicht. Von da ab wurde beiden von den Anführern der Klasse großer Respekt entgegengebracht.
Philip hatte diese Ehrerweisung auch nötig. Ein Ereignis, das viele Wochen zurücklag, noch vor Daniels Ankunft, hatte sein Image total ramponiert.
Damals suchte Philip, wenn auch zaghaft, immer wieder Möglichkeiten, um sich in die Klasse besser einzugliedern. Es war ihm bis dahin nicht gelungen. Durch seine Verschlossenheit galt er für die anderen als Eigenbrödler.
Es ergab sich noch eine Gelegenheit, bei der er allen Mut zusammennahm. Mehrere Klassen der Schule hatten Fußballmannschaften gebildet, die in der Freizeit auf dem Sportplatz Turniere austrugen. Dafür benötigten sie Helfer.
Zum Mitspielen war Philip, weil zu schwach, abgelehnt worden. Darum bewarb er sich als Schiedsrichter.
„Hast du überhaupt Ahnung vom Fußball?“ – „Kennst du die Regeln?“ – „Weißt du zum Beispiel was ein Abseits ist?“ Sie bombardierten ihn mit Fragen. Philip wurde unsicher, gab aber nicht auf. Am Ende waren sie doch einverstanden, da sie Philip wegen seiner Zurückhaltung als neutral und damit geeignet befanden.
Sein innerer Jubel wurde aber schnell gebremst, als ihm einfiel, dass er sich bei Nutzung einer Trillerpfeife stets die Nase zuhalten musste. So konnte er nicht auftreten. Die Kommentare der Fußballgruppen trafen ihn wie Giftpfeile. Philips Bemühen um Anerkennung und Freundschaft schien damals unerfüllbar.