Dort wo die Ziegen sind

Dort wo die Ziegen sind

Kunibert Horwat


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 50
ISBN: 978-3-99107-031-3
Erscheinungsdatum: 20.07.2020

Leseprobe:

Sechs Tage soll man arbeiten. Am siebten Tag ruhen. So wurde es uns befohlen von jemandem, den niemand kennt. Den niemand je gesehen hat.
Die Menschen sind überzeugt von seiner Existenz. 65 Prozent von ganzem, das keine Materie ist und keinen physikalischen Gesetze unterworfen ist.
Sie spüren seine Gesetze, innerhalb derer die ganze Natur existieren muss. Nicht nur jene Gesetze vom Berg Sinai.
Täglich werden neue entdeckt.
Nehmen wir das Gesetz der menschlichen Arbeit:
Das vorgeschossene Kapital (für Rohstoffe + Produktionsmittel + Arbeitskraft) = Produkt + Profit.
Das vorgeschossene Kapital von 100 Euro (für Rohstoffe + Produktionsmittel + Arbeitskraft) = Produkt von 100 Euro + Profit, z. B. 20 Euro.
Das Ziel der menschlichen Arbeit ist der Profit. Der Profit ist die unbezahlte Arbeit der Arbeitenden.
Der Profit ist für die Materialisation von Ideen nötig.
Eine Idee ist nichts Materielles. Wenn jemand keinen Profit produziert ist er nicht nur zur Stagnation verdammt, sondern dem Untergang geweiht, weil sein Leben zwecklos geworden ist.
Der Tribut des Menschen ist die Arbeit – die Produktion von Profiten und die Materialisation von Ideen.
Andere Lebewesen produzieren keine Profite. Sie materialisieren keine Ideen. Sie bezahlen ihren Tribut mit sich selbst.
Der Mensch ist gezwungen zu existieren, er ist gezwungen geboren zu werden und zu sterben.
Der Mensch ist gezwungen zu arbeiten, Profite zu produzieren und Ideen zu materialisieren, um ein uns unbekanntes Ziel zu erreichen.
Für etwas, was niemand kennt.
Deswegen sind wir da.
Der Mensch ist nicht Zweck seiner selbst.




Mit Proviant vollbeladenen Flechtkörben in ihren Händen im kleinen, schmalen Flur der Wohnung schrie eine kleine, dickleibige Frau nach ihrem Sohn, als ob er meilenweit entfernt wäre: Isiid, wir müssen gehen! Komm!“
Isid streckte seinen runden, lockigen Kopf durch die Türspalte seines Zimmers, machte die Tür weit auf und starrte die Mutter erstaunlich an: „Ich hasse Samstage und Sonntage! Fährt denn Mati nicht mit?“
Sein Gesicht erstrahlte, als er erfuhr, dass auch die Freundin seines älteren Bruders mitfuhr, denn dann gäbe es keinen Platz für ihn im Wagen.
„Ich bleibe lieber zu Hause“, sagte er und zwinkerte der Mutter zu. Sie wies ihn darauf hin, dass sie für ihn kein Essen gekocht hatte und er in dieser kleinen, stickigen Wohnung ersticken würde und dass er über das Wochenende frische Luft in der Natur brauche. Doch er meinte nur, er komme zurecht und außerdem möchte er heute Abend ausgehen.
Die Mutter schaute ihn an und flüsterte neugierig: „Hast du eine Freundin?“ „Wenn ich jedes Wochenende mit euch in den Bergen im Wochenendhaus verbringen und arbeiten muss, werde ich nie eine haben. Bald sind alle vergeben!“
Die Mutter ließ ihre Flechtkörbe zu Boden gleiten und kniff ihn in den Babyspeck seiner runden Wange: „Im Kühlschrank und in der Kühltruhe wirst du schon etwas Essbares finden“, sagte sie, nahm ihre Flechtkörbe und verließ watschelnd die Wohnung.
Izid legte sich auf seine alte, verschlissene Liege. Durch das offene Fenster zum Hof floss der Duft des blühenden Aprikosenbaumes ins Zimmer. Irgendwo in einer Wohnung des Blocks übte jemand Flöte.
In Izid brodelte es.
Durch das Wohnzimmerfenster schaute er auf die Straße hinab: Der Nachbar stopfte seinen kleinen Wagen mit unbrauchbaren Gegenständen voll. Seine kleinen Kinder liefen um den Wagen, kreischten und winkten ihm zu. Dann schaute er auf die Unordnung im Zimmer seiner Eltern und in das Zimmer seines Bruders. Auf die Reste des frisch gebackenen Kuchens in der Küche hatte er keinen Appetit. Die innere Unruhe trieb ihn, die Wohnung zu verlassen.
Eine warme Frühlingsbrise strich durch die Straßen. Es duftete nach den Gesetzen der Liebe – nach den Gesetzen der Reproduktion, ohne denen das Leben unmöglich wäre. Durch sein Studium hatte er sie in den Hintergrund gedrängt.
An Feiertagen fühlte er sich einsam. Neue Gefühle ließen ihm keine Ruhe. Immer wieder versuchten die Mädchen seine Zuneigung zu gewinnen. Dass die Richtige noch nicht erschienen war, war seine Überzeugung.
An der Eingangstür eines Gebäudes hinter der Oper sah er die Ankündigung für eine Tanzveranstaltung für Schüler und Studenten am heutigen Abend. In seinen Gedanken erschien das große, schlanke Mädchen mit den dunklen, langen Haaren und den blauen Augen, das sein Lächeln schon einige Male erwidert hatte. „Heute Abend werde ich sie ansprechen“, nahm er sich vor.
In Gedanken ging er mit ihr bereits die Straßen entlang und fuhr mit ihr in der Drahtseilbahn zur Altstadt. Von der Terrasse des Dachcafés schauten sie auf die Dächer der Stadt und auf die Spitztürme der gotischen Kathedrale. Er setzte sich auf die Bank unterhalb eines riesigen Kastanienbaumes und erwachte.
Zu Hause konnte er weder etwas essen noch einschlafen. Immer wieder zog er aus Verzweiflung vor dem Spiegel eine Haarlocke in die Länge und ließ sie wieder los. Er probierte mehrere alte Hosen, Hemden und Pullis an. Alle waren verschlissen. Er blieb bei einer weißen Jeans, einem schwarzen Hemd und einem gelben Pulli, aus denen er schon längst herausgewachsen war.
Die Bewegungen der Jungen und Mädchen heute Abend auf der Treppe zur Eingangstür des Tanzsaals waren geschmeidig, voll des Lebens. Sorglos, strahlend und lachend, gezwungen, am Wettbewerb teilzunehmen, gezwungen, sich ineinander zu verlieben, das anziehende Gegenstück zu entdecken, die Anziehungskräfte zu genießen, um bessere Nachkommen zu produzieren. Die Anziehungskraft ist die Quelle der Liebe. Der Antagonismus ist die Quelle des Hasses. Gegensätzliche Richtungen soll man gar nicht anfangen, wenn man der Strafe entkommen möchte. So ist das Gesetz! Hass produziert ja Hass, er ist nicht Zweck seiner selbst.
Die Bücher sind voll von solchen Berichten.
Isids Freunde und Freundinnen haben es nicht mehr nötig, hierherzukommen. Sie waren schon gebunden. Isid fühlte sich einsam wie ein Außenseiter.
Auf der hell beleuchteten Bühne der Eingangstür gegenüber stimmten die Musiker ihre Instrumente. Durch die bunte Verglasung der großen Kuppel über der Mitte des Saals drangen die letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne. Ringsherum zwischen den tragenden Pfeilern der hölzernen Galerie standen oder saßen – unruhig – auf alten wackligen Stühlen die Jungen und Mädchen, laut wie am Wochenmarkt.
Schwere Schritte eines Ordnungshüters auf den groben Holzbrettern der nicht beleuchteten Galerie konnte man von unten hören und sehen – das Zeichen, dass man eine Schlägerei um der Mädchen willen gar nicht erst anfangen sollte. Isid stellte sich in den Schutz eines Holzpfeilers links neben der Eingangstür und sah tatsächlich das große, schlanke Mädchen mit den blauen Augen und dem langen, dunklen Haar auf der gegenüberliegenden Seite. Seine unbewusst künstlich erzeugten ausdauernden Blicke quittierte sie mit einem strahlenden Lächeln.
Vehement setzten die Trommeln ein und die Jungen stürzten auf dem kürzesten Weg über die noch leere Tanzfläche zu ihren Auserwählten.
Zurück auf der Tanzfläche zeigten sie schon ihr tänzerisches Können.
Isid war zu spät. Ein großer Junge war schneller. Sie sah Isid an und lächelte: „Ich kann nichts dafür. Du musst schneller laufen.“ Beim nächsten Mal verpasste der große Junge die ersten Musikklänge. Aber Isid wurde aufgehalten und wieder war sie in den Händen des großen Jungen. Sie schaute ihn böse an: „Bist du dumm! Kannst du nicht näher kommen?“ Gedemütigt stieg er die hölzerne Treppe zur dunklen Galerie hinauf, stützte sich auf das wacklige Geländer und schaute auf das Tanzparkett. Bei der nun folgenden Damenwahl schaute das Mädchen umher und wählte niemanden. Außer dem Ordnungshüter unter dessen Schritten der hölzerne Boden der Galerie nachgab und quietschte, war kein Mensch auf der Galerie zu sehen. Umso mehr war er überrascht, als ihn ein Junge umarmte und ihn auf das Mädchen ansprach.
„Welches Mädchen?“, fragte Isid verlegen und schaute in die leuchtenden, hellblauen Augen des anderen.
„Das große, das schlanke, mit dem langen, dunklen Haar.“ Mit dem Finger zeigte er auf das Mädchen.
„Wie kommst du darauf, dass sie mir gefällt?“
Der Junge umarmte ihn noch fester und schaute auf seine schwarz schimmernden Locken: „Ich habe dich beobachtet, wie du versucht hast, sie zum Tanz aufzufordern.“
Isid richtete sich auf, lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer, steckte seine Hände in die Jeanstaschen und schaute den Jungen überrascht an. Der Junge richtete sich auch auf und zeigte mit dem Kopf in die Richtung des Mädchens: „Guck mal, sie sucht dich!“
„Was hast du hier oben zu suchen? Amüsierst du dich über andere?“ „Ganz genau! Ich bin doch nicht blöd und laufe mir für dumme Mädchen meine Füße kaputt!“
„Wo sonst möchtest du dann dein Mädchen kennenlernen?“
„Es wird sich schon von selbst ergeben. Ich glaube an das Schicksal!“
„Da bin ich anderer Meinung!“
„Glaubst du nicht an das Schicksal?“
„Nein! Die übersinnlichen Mächte haben schon lange, bevor wir überhaupt angefangen haben zu existieren, ihre Arbeit beendet. Und ich glaube nicht, dass die übersinnlichen Mächte Einfluss auf unsere Gegenwart haben. Unsere Gegenwart ist durch die gegebenen Gesetze bestimmt, innerhalb welcher wir leben müssen. Auf die Programme, mit denen wir geboren sind, haben wir kaum einen Einfluss. Anders ist es mit erworbenen Programmen. Über diese bestimmen wir selbst.“
Der Junge lachte: „Sind angeborene Programme nicht doch unser Schicksal?“ Dann trat er dicht an ihn heran: „Ist es nicht Schicksal, dass wir uns hier getroffen haben?“
„Nein! Das ist Zufall!“
„Geh, hol dir das Mädchen“, sagte der Junge ärgerlich, lehnte sich auf das Geländer und schaute auf den Tanzsaal.
„Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt will“, erwiderte Izid unbehaglich und lehnte sich neben ihn.
Die betäubende Musik ließ sie verstummen.
Der große Junge stellte sich in die Nähe des Mädchens. Er tanzte jeden Tanz mit ihr. Auch ihre ablehnende Haltung schüchterte ihn nicht ein.
„Welches Mädchen gefällt dir?“, brüllte Isid dem Jungen ins Ohr. „Komm! Zeig es mir!“
Der Junge schaute in seine schwarzen Augen, als ob er seine Pupillen entdecken wollte: „Alle sind schön! Mir gefällt aber keine.“
„Eine bestimmt! Komm, zeig mir deinen Geschmack.“
Missmutig zeigte der Junge auf eine Gruppe von Mädchen: „Jenes in der Mitte.“
„Die Dicke?“
„Sie hat einen prallen Busen.“
Izid richtete sich auf. Der Junge folgte ihm.
„Warst du mit ihr im Bett?“
„Nein!“ Während des Tanzes spürte ich ihre Brüste. Sie ist sympathisch und nett.“
„Warst du schon mit einem Mädchen im Bett?“
„Neee“, gestand der Junge. „Du?“
„Ich auch nicht!“
„Du kannst doch haben, welche du willst!“
„Du kannst dich aber auch nicht beklagen!“
Als die Musiker eine Pause einlegten, gingen beide die Treppe hinunter und machten eine Runde durch den Saal. Der Junge wechselte einige Worte mit dem molligen Mädchen. Während Isid und sein Mädchen einander anlächelten, versuchte ihn der Junge zum Bleiben zu überreden, sie wäre tatsächlich schön und sie würde auf ihn warten.
„Nein! Ich habe keine Lust!“
Sie erreichten die Eingangstür und verließen den Tanzsaal.
Eine leichte Brise aus den im Norden gelegenen Bergen erfrischte sie.
Die Tulpen in ihren Beeten neben dem Operngebäude waren im Liebesrausch. Sie schützten ihre Reproduktionsorgane vor dem Auskühlen. Die Sitzbänke am Springbrunnen vor dem Operngebäude waren von küssenden Liebespaaren besetzt.
Unter der riesigen Platane vor dem Universitätsgebäude blieben sie stehen.
„Wie heißt du eigentlich?“
Der Junge lächelte: „Ich heiße Rocco. Und du?“
„Ich heiße Isidor. Meine Eltern nennen mich Isid.“ Sie gingen in Richtung des Zentralplatzes.
Die Stille auf den Straßen wurde hin und wieder von widerhallenden Schritten unterbrochen. Am Zentralplatz warteten einige Menschen auf ihre Straßenbahnen.
Am Hügel auf der Nordseite des Zentralplatzes, durch die Festungsmauer und Festungstürme geschützt, ragten die beleuchteten Türme des gotischen Domes zum Himmel empor.
Das Zeichen der Macht jener, die Gott dienen und das Volk mit der Androhung der Gottesstrafe zum Gehorsam zwingen.
„Ist unser Dom nicht majestätisch und gottesfürchtig“ Unterbrach Rocco das Schweigen.
„Jaa, gottesfürchtig! Und die Priester sind fürchterlich erwiderte Isid. Sie drohen mit der Strafe Gottes. Mit ewigem Feuer. Millionen Unschuldige haben sie bei lebendigem Leibe verbrannt. Sie tun es heute noch in ihren Köpfen: In ewigem Feuer werdet ihr schmoren, ihr Sünder!“
„Was für ein Sadismus!“
„Es ist beschämend anzusehen, wie die Priester von hohen Türmen und in geschlossenen Räumen das einfache Volk falsch programmieren. Wie sie mit uralten Erzählungen aus uralten Zeiten, mit Gold und Silber verzierten Büchern ihre Hirne implementieren. Wie sie diese Bücher hoch über den Köpfen des Volkes präsentieren. Die Bücher, die für die Menschen geschrieben wurden, die vor Tausenden von Jahren gelebt hatten. Die Leute glauben an diese Erzählungen, weil sie sich mit den neuesten Kenntnissen nicht selbst programmiert haben oder keine Möglichkeit hatten, zu den neuesten Kenntnissen zu gelangen. Sie besitzen kein Wissen, das man diesen Erzählungen gegenüberstellen könnte, um den Unsinn der Erzählungen zu erkennen.“
„Glaubst du nicht an Gott?“
„Doch! Aber nicht an solch einen primitiven, wie sie ihn darstellen. Ich glaube und halte mich nicht an die Glaubensgesetze, welche die Priester durch Jahrhunderte in ihrem eigenen Interesse entworfen haben. Als die heutigen Religionen entstanden sind, gab es wenig Wissen, mit dem man ihre Hirne hätte füttern können. Solange es primitive Menschen gibt, bleiben diese uralten Religionen bestehen. Einige lecken an den Bildern, die anderen an Statuen. Sie kriechen auf den Knien oder sitzen auf eigenen Fersen, verbeugen sich bis auf den schmutzigen Boden und präsentieren ihre stinkenden Hintern dem Himmel empor. Oder baden in dreckigem Wasser voller Spucke, Pisse und Kot. Und wenn du dich als Mensch der Gegenwart dagegen wehrst und die Kritik vom Standpunkt des heutigen Menschen auszuüben versuchst, wirst du von den Priestern öffentlich zum Gotteslästerer erklärt und durch von Priestern implementierte, primitive Menschen gesteinigt. Implementierte kann man gut erkennen: durch schwarze Hüte, lange Haare, schwarze Locken und lange Bärte; durch schwarze Kutten, lange Kleider und Kopftücher; durch Turbane auf dem Kopf und rote, weiße oder bunte Käppchen.
Diesen kann man nicht helfen. Diese Menschen sind entweder implementiert oder besitzen, selbst verschuldet oder nicht selbst verschuldet, nur primitives, uraltes Wissen in ihren Hirnen. Über ihre angeborenen Programme hinaus besitzen sie kaum eigene Programme. Sie sind den Tieren viel näher als dem gegenwärtigen Menschen. Sie leben nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit.
Die Jugend! Junge Hirne soll man mit breitem und gegenwärtigem Wissen füttern, sodass sie die Implementatoren erkennen können und sich von diesen nicht implementieren lassen müssen. Die implementierten Implementatoren und primitive oder nicht primitive Implementierte muss man dulden, keinesfalls berühren. Sie sind gefährlicher als wilde Tiere. Wehe, wenn sie in den Besitz der modernen Technik kommen.“
„Gehst du nicht mehr in die Kirche?“ Wurde Rocco neugirig.
„Doch! Nur, ich glaube nicht, was se erzählen. Mein Glaube ist frei denkend, individuell, auf der Wissenschaft basierend, ritualfrei und traditionsfrei, allen Menschen in der Gegenwart gemeinsam.
Was für ein Unheil, alte Religionen alte Kulturen und Traditionen, über Tausende von Jahren,vrursacht haben. Mord und Totschlag zwischen den unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Traditionen sind noch heute an der Tagesordnung.“
Auf der Treppe, die auf der Ostseite des Doms auf den Hügel führte, zeigte Izid auf die Domtürme: „Glaubst du alles, was sie da erzählen?“
Rocco überrascht diese Frage: „Um Gottes willen, nein!“
„Sie haben sich hinter diesen dicken Mauern verbarrikadiert. Sie wissen nicht, was draußen vorgeht. In ihren Köpfen existiert noch immer das Altertum.“
Die Akazienbäume neben der Treppe waren noch im Winterschlaf.
Die Blüten anderer Sträucher dufteten.
Rocco setzte sich auf eine Treppenstufe und fragte, wo Isid wohne.
„Nicht weit von der Oper. Und du?“
„Am Ostberg!“
Am Plateau des Hügels in einem dunklen Park mit einem Blumenrondell in der Mitte und Sitzbänken unter den Bäumen, zwischen den Krankenhausgebäuden im Westen und der medizinischen Fakultät auf der Nordseite, ließ sich Rocco nieder und zeigte auf den Platz neben sich. Isid setzte sich auf das Mauerwerk des Blumenrondells auf sein ausgebreitetes Taschentuch Rocco gegenüber, sah seine verschlissenen engen Jeans und die Jeansjacke an und fragte, wo er arbeite.
„Ich arbeite nicht. Ich studiere noch.“
„Schau da hinten, das ist die medizinische Fakultät, an der ich studiere.“
Isid schüttelte sein Taschentuch von Staub aus, steckte es in die Jeanstasche und setzte sich neben ihn: „Ich studiere Wirtschaft., sagte er leise und betrachtete die Silhouette von Roccos hübschem Gesicht. „Weißt du“, begann Rocco, „in Bezug auf die alten, ignoranten, führenden Köpfe bin ich der gleichen Meinung wie du. Sie bilden sich ein, sie würden eine besondere Rolle auf dieser Welt spielen. Alles dreht sich um die Menschen wie damals die Sonne um die Erde. Sie bilden sich ein, sie würden eine Seele besitzen und nach dem Tode weiterleben. Diese Möglichkeiten sehen sie bei anderen Lebewesen nicht.Die Menschen beten für ein besseres Leben in der Gegenwart, sie bitten um Vergebung, um ins Paradies zu gelangen, wo man nicht arbeiten brauche und kein Leid erdulden müsse. Sie sollen einmal schauen, wie wir gebaut sind. Ebenso, dass wir gut arbeiten können. Und wenn wir verbraucht sind, sterben wir wie jedes andere Gerät. Das ist auch durch das Gebet nicht zu ändern. Sonst wären wir anders konstruiert. Ich glaube an die Gesetze der Kräfte, die Menschen ‚Gott‘ nennen. Alle jene Kräfte, die wir während unserer Ausbildung kennengelernt haben, und auch die, die wir nicht kennengelernt haben.“
Er streckte sich, verschränkte die Hände hinter seinem Hinterkopf und atmete tief die Frühlingsluft ein: „Da drin im Krankenhausgebäude sind die Reparationswerkstätten für die Menschen! Es riecht nach Desinfektionsmittel und Medikamenten.“
„Junge Lebewesen ziehen natürliche Kräfte an, die uns noch nicht erklärbar sind, um sich reproduzieren zu können. Sie haben unbeschreibliche Gefühle, wenn sie sich lieben murmelte Isid träumerisch.“ „Bist du verliebt?“Fragte Rocco.

Sechs Tage soll man arbeiten. Am siebten Tag ruhen. So wurde es uns befohlen von jemandem, den niemand kennt. Den niemand je gesehen hat.
Die Menschen sind überzeugt von seiner Existenz. 65 Prozent von ganzem, das keine Materie ist und keinen physikalischen Gesetze unterworfen ist.
Sie spüren seine Gesetze, innerhalb derer die ganze Natur existieren muss. Nicht nur jene Gesetze vom Berg Sinai.
Täglich werden neue entdeckt.
Nehmen wir das Gesetz der menschlichen Arbeit:
Das vorgeschossene Kapital (für Rohstoffe + Produktionsmittel + Arbeitskraft) = Produkt + Profit.
Das vorgeschossene Kapital von 100 Euro (für Rohstoffe + Produktionsmittel + Arbeitskraft) = Produkt von 100 Euro + Profit, z. B. 20 Euro.
Das Ziel der menschlichen Arbeit ist der Profit. Der Profit ist die unbezahlte Arbeit der Arbeitenden.
Der Profit ist für die Materialisation von Ideen nötig.
Eine Idee ist nichts Materielles. Wenn jemand keinen Profit produziert ist er nicht nur zur Stagnation verdammt, sondern dem Untergang geweiht, weil sein Leben zwecklos geworden ist.
Der Tribut des Menschen ist die Arbeit – die Produktion von Profiten und die Materialisation von Ideen.
Andere Lebewesen produzieren keine Profite. Sie materialisieren keine Ideen. Sie bezahlen ihren Tribut mit sich selbst.
Der Mensch ist gezwungen zu existieren, er ist gezwungen geboren zu werden und zu sterben.
Der Mensch ist gezwungen zu arbeiten, Profite zu produzieren und Ideen zu materialisieren, um ein uns unbekanntes Ziel zu erreichen.
Für etwas, was niemand kennt.
Deswegen sind wir da.
Der Mensch ist nicht Zweck seiner selbst.




Mit Proviant vollbeladenen Flechtkörben in ihren Händen im kleinen, schmalen Flur der Wohnung schrie eine kleine, dickleibige Frau nach ihrem Sohn, als ob er meilenweit entfernt wäre: Isiid, wir müssen gehen! Komm!“
Isid streckte seinen runden, lockigen Kopf durch die Türspalte seines Zimmers, machte die Tür weit auf und starrte die Mutter erstaunlich an: „Ich hasse Samstage und Sonntage! Fährt denn Mati nicht mit?“
Sein Gesicht erstrahlte, als er erfuhr, dass auch die Freundin seines älteren Bruders mitfuhr, denn dann gäbe es keinen Platz für ihn im Wagen.
„Ich bleibe lieber zu Hause“, sagte er und zwinkerte der Mutter zu. Sie wies ihn darauf hin, dass sie für ihn kein Essen gekocht hatte und er in dieser kleinen, stickigen Wohnung ersticken würde und dass er über das Wochenende frische Luft in der Natur brauche. Doch er meinte nur, er komme zurecht und außerdem möchte er heute Abend ausgehen.
Die Mutter schaute ihn an und flüsterte neugierig: „Hast du eine Freundin?“ „Wenn ich jedes Wochenende mit euch in den Bergen im Wochenendhaus verbringen und arbeiten muss, werde ich nie eine haben. Bald sind alle vergeben!“
Die Mutter ließ ihre Flechtkörbe zu Boden gleiten und kniff ihn in den Babyspeck seiner runden Wange: „Im Kühlschrank und in der Kühltruhe wirst du schon etwas Essbares finden“, sagte sie, nahm ihre Flechtkörbe und verließ watschelnd die Wohnung.
Izid legte sich auf seine alte, verschlissene Liege. Durch das offene Fenster zum Hof floss der Duft des blühenden Aprikosenbaumes ins Zimmer. Irgendwo in einer Wohnung des Blocks übte jemand Flöte.
In Izid brodelte es.
Durch das Wohnzimmerfenster schaute er auf die Straße hinab: Der Nachbar stopfte seinen kleinen Wagen mit unbrauchbaren Gegenständen voll. Seine kleinen Kinder liefen um den Wagen, kreischten und winkten ihm zu. Dann schaute er auf die Unordnung im Zimmer seiner Eltern und in das Zimmer seines Bruders. Auf die Reste des frisch gebackenen Kuchens in der Küche hatte er keinen Appetit. Die innere Unruhe trieb ihn, die Wohnung zu verlassen.
Eine warme Frühlingsbrise strich durch die Straßen. Es duftete nach den Gesetzen der Liebe – nach den Gesetzen der Reproduktion, ohne denen das Leben unmöglich wäre. Durch sein Studium hatte er sie in den Hintergrund gedrängt.
An Feiertagen fühlte er sich einsam. Neue Gefühle ließen ihm keine Ruhe. Immer wieder versuchten die Mädchen seine Zuneigung zu gewinnen. Dass die Richtige noch nicht erschienen war, war seine Überzeugung.
An der Eingangstür eines Gebäudes hinter der Oper sah er die Ankündigung für eine Tanzveranstaltung für Schüler und Studenten am heutigen Abend. In seinen Gedanken erschien das große, schlanke Mädchen mit den dunklen, langen Haaren und den blauen Augen, das sein Lächeln schon einige Male erwidert hatte. „Heute Abend werde ich sie ansprechen“, nahm er sich vor.
In Gedanken ging er mit ihr bereits die Straßen entlang und fuhr mit ihr in der Drahtseilbahn zur Altstadt. Von der Terrasse des Dachcafés schauten sie auf die Dächer der Stadt und auf die Spitztürme der gotischen Kathedrale. Er setzte sich auf die Bank unterhalb eines riesigen Kastanienbaumes und erwachte.
Zu Hause konnte er weder etwas essen noch einschlafen. Immer wieder zog er aus Verzweiflung vor dem Spiegel eine Haarlocke in die Länge und ließ sie wieder los. Er probierte mehrere alte Hosen, Hemden und Pullis an. Alle waren verschlissen. Er blieb bei einer weißen Jeans, einem schwarzen Hemd und einem gelben Pulli, aus denen er schon längst herausgewachsen war.
Die Bewegungen der Jungen und Mädchen heute Abend auf der Treppe zur Eingangstür des Tanzsaals waren geschmeidig, voll des Lebens. Sorglos, strahlend und lachend, gezwungen, am Wettbewerb teilzunehmen, gezwungen, sich ineinander zu verlieben, das anziehende Gegenstück zu entdecken, die Anziehungskräfte zu genießen, um bessere Nachkommen zu produzieren. Die Anziehungskraft ist die Quelle der Liebe. Der Antagonismus ist die Quelle des Hasses. Gegensätzliche Richtungen soll man gar nicht anfangen, wenn man der Strafe entkommen möchte. So ist das Gesetz! Hass produziert ja Hass, er ist nicht Zweck seiner selbst.
Die Bücher sind voll von solchen Berichten.
Isids Freunde und Freundinnen haben es nicht mehr nötig, hierherzukommen. Sie waren schon gebunden. Isid fühlte sich einsam wie ein Außenseiter.
Auf der hell beleuchteten Bühne der Eingangstür gegenüber stimmten die Musiker ihre Instrumente. Durch die bunte Verglasung der großen Kuppel über der Mitte des Saals drangen die letzten Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne. Ringsherum zwischen den tragenden Pfeilern der hölzernen Galerie standen oder saßen – unruhig – auf alten wackligen Stühlen die Jungen und Mädchen, laut wie am Wochenmarkt.
Schwere Schritte eines Ordnungshüters auf den groben Holzbrettern der nicht beleuchteten Galerie konnte man von unten hören und sehen – das Zeichen, dass man eine Schlägerei um der Mädchen willen gar nicht erst anfangen sollte. Isid stellte sich in den Schutz eines Holzpfeilers links neben der Eingangstür und sah tatsächlich das große, schlanke Mädchen mit den blauen Augen und dem langen, dunklen Haar auf der gegenüberliegenden Seite. Seine unbewusst künstlich erzeugten ausdauernden Blicke quittierte sie mit einem strahlenden Lächeln.
Vehement setzten die Trommeln ein und die Jungen stürzten auf dem kürzesten Weg über die noch leere Tanzfläche zu ihren Auserwählten.
Zurück auf der Tanzfläche zeigten sie schon ihr tänzerisches Können.
Isid war zu spät. Ein großer Junge war schneller. Sie sah Isid an und lächelte: „Ich kann nichts dafür. Du musst schneller laufen.“ Beim nächsten Mal verpasste der große Junge die ersten Musikklänge. Aber Isid wurde aufgehalten und wieder war sie in den Händen des großen Jungen. Sie schaute ihn böse an: „Bist du dumm! Kannst du nicht näher kommen?“ Gedemütigt stieg er die hölzerne Treppe zur dunklen Galerie hinauf, stützte sich auf das wacklige Geländer und schaute auf das Tanzparkett. Bei der nun folgenden Damenwahl schaute das Mädchen umher und wählte niemanden. Außer dem Ordnungshüter unter dessen Schritten der hölzerne Boden der Galerie nachgab und quietschte, war kein Mensch auf der Galerie zu sehen. Umso mehr war er überrascht, als ihn ein Junge umarmte und ihn auf das Mädchen ansprach.
„Welches Mädchen?“, fragte Isid verlegen und schaute in die leuchtenden, hellblauen Augen des anderen.
„Das große, das schlanke, mit dem langen, dunklen Haar.“ Mit dem Finger zeigte er auf das Mädchen.
„Wie kommst du darauf, dass sie mir gefällt?“
Der Junge umarmte ihn noch fester und schaute auf seine schwarz schimmernden Locken: „Ich habe dich beobachtet, wie du versucht hast, sie zum Tanz aufzufordern.“
Isid richtete sich auf, lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer, steckte seine Hände in die Jeanstaschen und schaute den Jungen überrascht an. Der Junge richtete sich auch auf und zeigte mit dem Kopf in die Richtung des Mädchens: „Guck mal, sie sucht dich!“
„Was hast du hier oben zu suchen? Amüsierst du dich über andere?“ „Ganz genau! Ich bin doch nicht blöd und laufe mir für dumme Mädchen meine Füße kaputt!“
„Wo sonst möchtest du dann dein Mädchen kennenlernen?“
„Es wird sich schon von selbst ergeben. Ich glaube an das Schicksal!“
„Da bin ich anderer Meinung!“
„Glaubst du nicht an das Schicksal?“
„Nein! Die übersinnlichen Mächte haben schon lange, bevor wir überhaupt angefangen haben zu existieren, ihre Arbeit beendet. Und ich glaube nicht, dass die übersinnlichen Mächte Einfluss auf unsere Gegenwart haben. Unsere Gegenwart ist durch die gegebenen Gesetze bestimmt, innerhalb welcher wir leben müssen. Auf die Programme, mit denen wir geboren sind, haben wir kaum einen Einfluss. Anders ist es mit erworbenen Programmen. Über diese bestimmen wir selbst.“
Der Junge lachte: „Sind angeborene Programme nicht doch unser Schicksal?“ Dann trat er dicht an ihn heran: „Ist es nicht Schicksal, dass wir uns hier getroffen haben?“
„Nein! Das ist Zufall!“
„Geh, hol dir das Mädchen“, sagte der Junge ärgerlich, lehnte sich auf das Geländer und schaute auf den Tanzsaal.
„Ich weiß nicht, ob ich das überhaupt will“, erwiderte Izid unbehaglich und lehnte sich neben ihn.
Die betäubende Musik ließ sie verstummen.
Der große Junge stellte sich in die Nähe des Mädchens. Er tanzte jeden Tanz mit ihr. Auch ihre ablehnende Haltung schüchterte ihn nicht ein.
„Welches Mädchen gefällt dir?“, brüllte Isid dem Jungen ins Ohr. „Komm! Zeig es mir!“
Der Junge schaute in seine schwarzen Augen, als ob er seine Pupillen entdecken wollte: „Alle sind schön! Mir gefällt aber keine.“
„Eine bestimmt! Komm, zeig mir deinen Geschmack.“
Missmutig zeigte der Junge auf eine Gruppe von Mädchen: „Jenes in der Mitte.“
„Die Dicke?“
„Sie hat einen prallen Busen.“
Izid richtete sich auf. Der Junge folgte ihm.
„Warst du mit ihr im Bett?“
„Nein!“ Während des Tanzes spürte ich ihre Brüste. Sie ist sympathisch und nett.“
„Warst du schon mit einem Mädchen im Bett?“
„Neee“, gestand der Junge. „Du?“
„Ich auch nicht!“
„Du kannst doch haben, welche du willst!“
„Du kannst dich aber auch nicht beklagen!“
Als die Musiker eine Pause einlegten, gingen beide die Treppe hinunter und machten eine Runde durch den Saal. Der Junge wechselte einige Worte mit dem molligen Mädchen. Während Isid und sein Mädchen einander anlächelten, versuchte ihn der Junge zum Bleiben zu überreden, sie wäre tatsächlich schön und sie würde auf ihn warten.
„Nein! Ich habe keine Lust!“
Sie erreichten die Eingangstür und verließen den Tanzsaal.
Eine leichte Brise aus den im Norden gelegenen Bergen erfrischte sie.
Die Tulpen in ihren Beeten neben dem Operngebäude waren im Liebesrausch. Sie schützten ihre Reproduktionsorgane vor dem Auskühlen. Die Sitzbänke am Springbrunnen vor dem Operngebäude waren von küssenden Liebespaaren besetzt.
Unter der riesigen Platane vor dem Universitätsgebäude blieben sie stehen.
„Wie heißt du eigentlich?“
Der Junge lächelte: „Ich heiße Rocco. Und du?“
„Ich heiße Isidor. Meine Eltern nennen mich Isid.“ Sie gingen in Richtung des Zentralplatzes.
Die Stille auf den Straßen wurde hin und wieder von widerhallenden Schritten unterbrochen. Am Zentralplatz warteten einige Menschen auf ihre Straßenbahnen.
Am Hügel auf der Nordseite des Zentralplatzes, durch die Festungsmauer und Festungstürme geschützt, ragten die beleuchteten Türme des gotischen Domes zum Himmel empor.
Das Zeichen der Macht jener, die Gott dienen und das Volk mit der Androhung der Gottesstrafe zum Gehorsam zwingen.
„Ist unser Dom nicht majestätisch und gottesfürchtig“ Unterbrach Rocco das Schweigen.
„Jaa, gottesfürchtig! Und die Priester sind fürchterlich erwiderte Isid. Sie drohen mit der Strafe Gottes. Mit ewigem Feuer. Millionen Unschuldige haben sie bei lebendigem Leibe verbrannt. Sie tun es heute noch in ihren Köpfen: In ewigem Feuer werdet ihr schmoren, ihr Sünder!“
„Was für ein Sadismus!“
„Es ist beschämend anzusehen, wie die Priester von hohen Türmen und in geschlossenen Räumen das einfache Volk falsch programmieren. Wie sie mit uralten Erzählungen aus uralten Zeiten, mit Gold und Silber verzierten Büchern ihre Hirne implementieren. Wie sie diese Bücher hoch über den Köpfen des Volkes präsentieren. Die Bücher, die für die Menschen geschrieben wurden, die vor Tausenden von Jahren gelebt hatten. Die Leute glauben an diese Erzählungen, weil sie sich mit den neuesten Kenntnissen nicht selbst programmiert haben oder keine Möglichkeit hatten, zu den neuesten Kenntnissen zu gelangen. Sie besitzen kein Wissen, das man diesen Erzählungen gegenüberstellen könnte, um den Unsinn der Erzählungen zu erkennen.“
„Glaubst du nicht an Gott?“
„Doch! Aber nicht an solch einen primitiven, wie sie ihn darstellen. Ich glaube und halte mich nicht an die Glaubensgesetze, welche die Priester durch Jahrhunderte in ihrem eigenen Interesse entworfen haben. Als die heutigen Religionen entstanden sind, gab es wenig Wissen, mit dem man ihre Hirne hätte füttern können. Solange es primitive Menschen gibt, bleiben diese uralten Religionen bestehen. Einige lecken an den Bildern, die anderen an Statuen. Sie kriechen auf den Knien oder sitzen auf eigenen Fersen, verbeugen sich bis auf den schmutzigen Boden und präsentieren ihre stinkenden Hintern dem Himmel empor. Oder baden in dreckigem Wasser voller Spucke, Pisse und Kot. Und wenn du dich als Mensch der Gegenwart dagegen wehrst und die Kritik vom Standpunkt des heutigen Menschen auszuüben versuchst, wirst du von den Priestern öffentlich zum Gotteslästerer erklärt und durch von Priestern implementierte, primitive Menschen gesteinigt. Implementierte kann man gut erkennen: durch schwarze Hüte, lange Haare, schwarze Locken und lange Bärte; durch schwarze Kutten, lange Kleider und Kopftücher; durch Turbane auf dem Kopf und rote, weiße oder bunte Käppchen.
Diesen kann man nicht helfen. Diese Menschen sind entweder implementiert oder besitzen, selbst verschuldet oder nicht selbst verschuldet, nur primitives, uraltes Wissen in ihren Hirnen. Über ihre angeborenen Programme hinaus besitzen sie kaum eigene Programme. Sie sind den Tieren viel näher als dem gegenwärtigen Menschen. Sie leben nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit.
Die Jugend! Junge Hirne soll man mit breitem und gegenwärtigem Wissen füttern, sodass sie die Implementatoren erkennen können und sich von diesen nicht implementieren lassen müssen. Die implementierten Implementatoren und primitive oder nicht primitive Implementierte muss man dulden, keinesfalls berühren. Sie sind gefährlicher als wilde Tiere. Wehe, wenn sie in den Besitz der modernen Technik kommen.“
„Gehst du nicht mehr in die Kirche?“ Wurde Rocco neugirig.
„Doch! Nur, ich glaube nicht, was se erzählen. Mein Glaube ist frei denkend, individuell, auf der Wissenschaft basierend, ritualfrei und traditionsfrei, allen Menschen in der Gegenwart gemeinsam.
Was für ein Unheil, alte Religionen alte Kulturen und Traditionen, über Tausende von Jahren,vrursacht haben. Mord und Totschlag zwischen den unterschiedlichen Religionen, Kulturen und Traditionen sind noch heute an der Tagesordnung.“
Auf der Treppe, die auf der Ostseite des Doms auf den Hügel führte, zeigte Izid auf die Domtürme: „Glaubst du alles, was sie da erzählen?“
Rocco überrascht diese Frage: „Um Gottes willen, nein!“
„Sie haben sich hinter diesen dicken Mauern verbarrikadiert. Sie wissen nicht, was draußen vorgeht. In ihren Köpfen existiert noch immer das Altertum.“
Die Akazienbäume neben der Treppe waren noch im Winterschlaf.
Die Blüten anderer Sträucher dufteten.
Rocco setzte sich auf eine Treppenstufe und fragte, wo Isid wohne.
„Nicht weit von der Oper. Und du?“
„Am Ostberg!“
Am Plateau des Hügels in einem dunklen Park mit einem Blumenrondell in der Mitte und Sitzbänken unter den Bäumen, zwischen den Krankenhausgebäuden im Westen und der medizinischen Fakultät auf der Nordseite, ließ sich Rocco nieder und zeigte auf den Platz neben sich. Isid setzte sich auf das Mauerwerk des Blumenrondells auf sein ausgebreitetes Taschentuch Rocco gegenüber, sah seine verschlissenen engen Jeans und die Jeansjacke an und fragte, wo er arbeite.
„Ich arbeite nicht. Ich studiere noch.“
„Schau da hinten, das ist die medizinische Fakultät, an der ich studiere.“
Isid schüttelte sein Taschentuch von Staub aus, steckte es in die Jeanstasche und setzte sich neben ihn: „Ich studiere Wirtschaft., sagte er leise und betrachtete die Silhouette von Roccos hübschem Gesicht. „Weißt du“, begann Rocco, „in Bezug auf die alten, ignoranten, führenden Köpfe bin ich der gleichen Meinung wie du. Sie bilden sich ein, sie würden eine besondere Rolle auf dieser Welt spielen. Alles dreht sich um die Menschen wie damals die Sonne um die Erde. Sie bilden sich ein, sie würden eine Seele besitzen und nach dem Tode weiterleben. Diese Möglichkeiten sehen sie bei anderen Lebewesen nicht.Die Menschen beten für ein besseres Leben in der Gegenwart, sie bitten um Vergebung, um ins Paradies zu gelangen, wo man nicht arbeiten brauche und kein Leid erdulden müsse. Sie sollen einmal schauen, wie wir gebaut sind. Ebenso, dass wir gut arbeiten können. Und wenn wir verbraucht sind, sterben wir wie jedes andere Gerät. Das ist auch durch das Gebet nicht zu ändern. Sonst wären wir anders konstruiert. Ich glaube an die Gesetze der Kräfte, die Menschen ‚Gott‘ nennen. Alle jene Kräfte, die wir während unserer Ausbildung kennengelernt haben, und auch die, die wir nicht kennengelernt haben.“
Er streckte sich, verschränkte die Hände hinter seinem Hinterkopf und atmete tief die Frühlingsluft ein: „Da drin im Krankenhausgebäude sind die Reparationswerkstätten für die Menschen! Es riecht nach Desinfektionsmittel und Medikamenten.“
„Junge Lebewesen ziehen natürliche Kräfte an, die uns noch nicht erklärbar sind, um sich reproduzieren zu können. Sie haben unbeschreibliche Gefühle, wenn sie sich lieben murmelte Isid träumerisch.“ „Bist du verliebt?“Fragte Rocco.

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