Die Seemannstochter
Viktoria Prodinger
EUR 14,90
EUR 8,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 144
ISBN: 978-3-99048-883-6
Erscheinungsdatum: 19.04.2017
Als Emi Ann vier Jahre alt ist, verliert sie ihren Vater an die See - der unter dem Namen Silver Joe bekannte Pirat verlässt die Familie, um erneut die sieben Weltmeere zu plündern. 13 Jahre später bricht Emi Ann auf, um ihn erneut ausfindig zu machen.
Meine Kindheit
Ich bin eine Seemannstochter, eine Heldin der Meere!
Wenn ich mich vorstellen darf: Mein Name ist Emilia Ana Laura von Larenz oder kurz: Emi Ann. Ich weiß, dies ist kein üblicher Name für ein Kind wie mich, das zeit seiner Kindheit bis ins Teenageralter nur vom Meer träumte und sich nichts inniger wünschte, als ein Leben auf und mit dem Meer zu verbringen und allen Abenteuern und Gefahren zu trotzen, und außerdem von nichts anderem mehr redete, als wie sehr es das Meer sehen und erleben wolle. Durch die Welt zu fahren als ein freier Mensch, der keine Lasten und Pflichten mehr auf den Schultern zu tragen hat.
Geboren wurde ich auf einer Insel mitten im Atlantischen Ozean, also irgendwo im Nirgendwo. Das heißt, ich bin eine Bewohnerin auf Sand, Stein und Erde gewesen, doch wünschte ich mir nichts sehnlicher, als endlich von diesem Ort wegzukommen. Die Insel ist zwar wunderschön, aber auch so klein. Nach mittlerweile siebzehn Jahren, das könnt ihr mir glauben, kenne ich diese Landschaften in- und auswendig. Ich weiß, wo welcher Stein steht, ich weiß, wo die schönsten Blumen blühen und auch wann sie blühen, ich weiß sogar, wo welcher Inselbewohner wohnt, egal ob Mensch oder Tier. Ich bin sogar genau in Kenntnis darüber, dass das Gras an manchen Stellen schneller und grüner wächst als an anderen. Also, ihr merkt, auf diesem Stück Land, das auf unserer großen Erde zu besichtigen ist, kennt sich keiner besser aus als ich.
Ich liebe die Landschaften, die Berge, die Flüsse und Blumen und jedes einzelne Lebewesen hier, doch am meisten liebe ich die Frau, die sich immer um mich kümmerte, die immer an meiner Seite war und mich unterstützte, bei allem, was ich tat; selbst wenn es eine völlig hirnrissige Idee war, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war, unterstützte und half sie mir, so gut es ging, die Idee in die Tat umzusetzen.
Zu dieser Zeit war meine Mutter einfach die großartigste Frau für mich und sie ist es heute noch, aber meine Entscheidung war, denke ich, die beste, die ich je treffen konnte.
Meine Mutter Lady Sophia ist eine Adelstochter und eine ganz feine Dame. Aus diesem Grund hatte ich auch die große Ehre, einen Namen von hoher Bedeutung zu tragen. Denn wie hätte es gewirkt, wenn ich einen normalen Namen bekommen hätte, den auch die Dorfmädchen tragen. Eine Tochter, die „blaues Blut“ hat, muss sich doch von anderen Menschen unterscheiden, zumindest wenn man den alten Inschriften Glauben schenken möchte. Vielleicht war das der Grund, warum immer alle meine Mutter und mich mieden. Wir waren anders, nicht wie sie, keine einfachen Landleute.
„Wir sind zu etwas Höherem bestimmt, mein Engel, vergiss das nie“, sagte meine Mutter immer, wenn ich weinend aus dem Dorf kam, weil mich alle beschimpft und verspottet hatten. Da war ich aber noch klein, mittlerweile kannte ich diese Leute schon und war daran gewöhnt, eine „Sonderbehandlung“ von ihnen zu bekommen.
Mutter sagte auch immer: „Du, mein Kind, dein Name wird uns ewig in Erinnerung bleiben, aber diese Menschen da unten (sie zeigte auf das kleine Dorf unten im Tal) werden schnell in Vergessenheit geraten.“ Ich muss zugeben, damit hatte sie nicht ganz unrecht!
Da ich keine Freunde hatte, musste ich mich immer anderweitig beschäftigen. Infolgedessen ging ich jeden Abend alleine an den Strand. Meine Begleiter, die mich immer verfolgten, waren zwar nette Gesellen, aber auch sehr stille. Denn meine besten und einzigen Freunde auf der Insel waren nun mal die Tiere um mich herum. Hasen, Vögel, Eidechsen und viele andere kleine Lebewesen. Traurig, nicht wahr? Aber man kann aus allem etwas Gutes schöpfen.
Unten im Tal lebten zwar viele Menschen, aber kein einziges Kind, das in meinem Alter war. Auch wenn es jemanden gegeben hätte, nützte mir das nicht viel, denn keines der Kinder durfte mit mir sprechen und schon gar nicht mit mir spielen. Das ist sehr hart für ein kleines Kind, wie ich es damals war, doch wie sagt man? „Was mich nicht umbringt, das macht mich stärker.“ Das war so eine unsinnige Regel von ihnen, mich aus ihrem Leben fernzuhalten. Die Leute verhielten sich immer so, als hätte ich eine tödliche, ansteckende Krankheit, und wenn jemand mit mir reden würde, hätte dieser Mensch sie dann automatisch auch. Das war sehr verletzend.
Also saß ich jede Nacht, jeden Tag und all die Stunden alleine unten bei der Bucht und sah den Wellen zu, wie sie gegen die Felsen schlugen. Ebenso hörte ich, so einsam, wie ich war, dem Geräusch zu, das dadurch entstand. Es hörte sich immer wie eine Stimme an, die Stimme des Meeres. Sie sprach zu mir, jedes Mal, und gab mir das Gefühl von Geborgenheit und Freiheit, das Gefühl, gemocht und nicht immerzu verstoßen zu werden.?Diesem Geräusch lausche ich heute immer noch, jeden Abend, und dabei denke ich an die Zeit, die ich oft stundenlang auf diesem Felsen verbrachte.
Ob ihr es glaubt oder nicht, aber wenn ich so zurückblicke, war das eine wundervolle Zeit. Denn hätte ich nicht immer auf diesem Felsen gesessen, dann hätte ich vermutlich auch nicht meine große Liebe zur See entdeckt. Dann wäre ich wie jeder andere gewesen und würde heute nicht dort sein, wo ich jetzt bin.
So konnte ich mir meinen Lebenstraum erfüllen!
Meine Eltern
Es gab eine Geschichte, die mir meine Mutter immer und immer wieder erzählte. Jeden Abend aufs Neue. Die Geschichte darüber, wie meine Mutter meinen Vater kennengelernt hat. Sie war meine Lieblingsgeschichte oder eigentlich eine von meinen Lieblingsgeschichten, denn es gab zwei. Die zweite war die, als mein Vater wieder von zu Hause fortging.
Ich bin nämlich ohne Vater aufgewachsen. Er ging, als ich gerade einmal vier Jahre alt war, und seit diesem Tag habe ich ihn die nächsten dreizehn Jahre meines Lebens nicht mehr wiedergesehen.
Ihr denkt jetzt sicher, so einen Vater braucht man nicht und den will man auch nicht mehr sehen, wenn er einfach von zu Hause weggeht und seine Frau und die kleine Tochter zurücklässt. Diesen Gedanken hatte ich lange Zeit auch in meinem Kopf, doch es gab einen Grund für seine Entscheidung, uns zu verlassen. Außerdem weiß ich, dass er uns sehr geliebt hat, eigentlich immer noch liebt. Ihr solltet euch einfach die Geschichten anhören, dann werdet ihr alles verstehen und anders darüber denken.
Zuerst aber den Teil, wie sich meine Eltern kennenlernten, und den Rest danach. Ich kann ja nicht einfach in der Mitte anfangen, das geht doch nicht. Da kennt sich dann kein Mensch aus.
Bei den Geschichten möchte ich aber noch etwas hinzufügen: Dank dieser Geschichten wusste ich, wie sehr mein Vater mich und meine Mutter zu jener Zeit geliebt hat, und das, obwohl er damals fortgegangen ist.
Also los: Es war ein verregneter Tag und meine Mutter war noch ein junges Mädchen. Sie erzählte mir, dass sie sieben Jahre alt gewesen sei, soweit ich mich erinnern kann. Es ist schon eine Weile her, seitdem ich die Geschichte das letzte Mal hören durfte. Mit ihrem eigenen Vater, also meinem Großvater, und seiner Mannschaft waren sie gerade auf See unterwegs. Auch war dieser Tag noch neblig und der Himmel wirkte so, als würde er gleich zusammenfallen und der ganzen Besatzung auf den Kopf stürzen.
Immer wenn Mutter das erzählte, musste ich lachen. Der Himmel kann doch keinem auf den Kopf fallen! Meine Mutter hatte nie Angst, das war eine ihrer bemerkenswertesten Eigenschaften. Sie war auch immer sehr abenteuerlustig, das schätzte Großvater nicht so sehr an ihr. Großmutter sagte immer zu ihr: „Mein Kind, sei stark in deinem Leben und tu das, was dich glücklich macht. Auch wenn es andere Menschen enttäuscht. Bleibe immer nur dir treu und, vor allem, lebe deine Kindheit und genieße jeden einzelnen Augenblick davon. Diese Zeit ist kurz und kommt, wenn du älter wirst, nicht wieder zurück. Ich hatte nicht so ein Glück, ich musste immer arbeiten, aber dir, mein Schatz, gönne ich es und du lebst meine Kindheit für mich mit.“
Großmutter hatte immer solche wundervollen und gütigen Sprüche auf Lager und ich bereue es, dass ich sie und Großvater nicht öfter sehen konnte. Denn die beiden leben sehr weit weg von unserer Insel. Großvater und Großmutter wohnen nämlich in England. Meine Mutter liebt die beiden sehr, doch meinen Vater damals noch mehr. Großvater fuhr oft mit seiner Besatzung zu unserer Insel, denn irgendetwas an ihr faszinierte ihn einfach. Ich weiß nicht, was es war, und immer wenn ich ihn danach fragte, gab er mir dieselbe Antwort: „Sie ist einfach schön.“ Das war nie die Antwort, die ich hören wollte, doch er hatte recht.
Genau aus diesem Grund sind meine Mutter und mein Vater auf die Insel gezogen und weg von allem anderen, um neu anfangen zu können und von niemandem gestört zu werden. Ich weiß, dass Mutter Angst hatte, ihr Zuhause zu verlassen und von ihren Eltern Abschied zu nehmen, aber für meinen Vater hat sie das alles in Kauf genommen.
Meine Mutter war und ist bis heute noch fast furchtlos. Aus diesem Grund nahm ihr Vater sie früher auch immer auf die Schiffsreisen mit, damit sie etwas sehen würde, was sie so sehr erschrecken würde, dass das kleine Mädchen sich fürchten und aufhören würde, ihn jedes Mal anzubetteln, es mitzunehmen, wenn er wieder einmal zur See wollte. Es nervte ihn, denn ein Mädchen gehört doch nicht auf ein Schiff! Nein, es gehört in die Küche und zur Mutter. Frauen an Bord bringen Unglück, sagt man. Doch das ist nicht wahr, wir sind eigentlich Glücksbringer, meistens zumindest. Na gut, sagen wir manchmal.
Meine Einstellung dazu machte aus uns auch nicht gerade die besten Freunde. Mutter war sein Fleisch und Blut und kostete ihn damals schon alle Nerven, aber er liebte seine Tochter über alles und jeden. Doch als er mitbekam, dass ich auch eine kleine Rebellin war, gab er die Hoffnung auf, dass je wieder eine Frau in der Familie normal sein würde, zumindest was seiner Auffassung von „normal“ entsprach.
„Du bist nicht normal, Kind“, sagte er immer. „Du bist ein Problemkind und ein Sonderfall, genau wie deine Mutter. Ihr kostet mich noch alle Nerven.“ Ich nahm ihm das nicht übel, denn ich wusste, dass er mich liebte und immer nur das Beste wollte, für jeden von uns. Jedes Mal wenn er das gesagt hatte, hörte ich Großmutter im Hintergrund lachen. Leise genug, dass es Großvater nicht hörte, aber laut genug, dass ich es mitbekam. Dann musste ich fast immer mitlachen und der alte Mann glaubte, ich würde ihn verspotten.
Es war nicht angenehm, wenn er das dachte, denn dann schimpfte er immer lautstark mit mir. Aber dann kam Mutter ins Zimmer und verteidigte ihren kleinen Engel.
Nun gut, jetzt habe ich erst einmal genug von Großvater und Großmutter erzählt.
Ich erzähle mal lieber die Geschichte weiter. An diesem einen Tag sah meine Mutter wirklich etwas, das sie so erschreckte, dass man ihr die Angst deutlich im Gesicht ansehen konnte. Denn als kleines Mädchen erblickte sie so etwas zum ersten Mal.
Sie sah eine Wolke. Sie war pechschwarz und meilenweit zu sehen, und sie sah ein Schiff, ein brennendes Schiff. Nein, es brannte nicht mehr, es war bereits ausgebrannt und am Sinken. In diesem Moment gingen ihr so viele Fragen durch den Kopf. Was ist das für ein Schiff? Warum hat es gebrannt? Wer war verantwortlich für dieses Unglück? War es überhaupt ein Unglück? Wo ist die Besatzung? Leben die Männer noch? Waren Kinder an Bord?
Doch die Frage, die sie am meisten beschäftigte, war diese: Sind wir die Nächsten?
Dann sah sie das Schiff hinter der Nebelwand verschwinden. Ein schwarzer Schatten, so groß, beängstigend und mächtig wie die Nacht. Sie war sich nicht sicher, was sie an diesem Tag wirklich gesehen hatte, aber eines war klar, eingebildet war der im Nebel untertauchende Schatten nicht. Doch als sie es ihrem Vater sagen wollte, schrien die Männer laut auf.
„Ein Junge, ein Junge im Wasser!“ Sie zogen ihn aus dem kalten Nass auf Großvaters Schiff. Als der Junge halbwegs abgetrocknet war, entfernte sich Großvaters Schiff immer weiter von dem ausgebrannten Wrack. In der Aufregung vergaß meine Mutter dann von dem Schatten zu berichten, den sie gesehen hatte.
„Bringt ihn hinunter und gebt ihm Essen und etwas Wasser“, schrie Großvater in der Aufregung. „Sophia“, sagte er zu Mutter, „bleib du bei ihm. Geht hinunter in meine Kabine, ich will nicht, dass du vor lauter Schreck und Panik in der Masse der Männer untergehst. Sie könnten über dich stolpern und dich verletzen – das möchte ich auf jeden Fall verhindern. Verstehst du das, Kind?“
Normalerweise konnte Mutter ihre Neugierde nicht zügeln, aber dieses eine Mal gehorchte sie. Sie tat wie geheißen und ging mit dem fremden Jungen hinunter in die Kabine.
Als die ganze Aufregung endlich verflogen war, ging Großvater zu seiner Tochter und sagte zu ihr: „Ich sehe, der Junge ist wach. Hat er irgendetwas gesagt?“ „Ja Vater, er heißt Joe und er ist acht Jahre alt, mehr konnte ich noch nicht herausfinden.“
Sie tat es nicht gerne, aber sie hatte keine andere Wahl. Mutter log zum ersten und letzten Mal in ihrem ganzen Leben ihren Vater bewusst und ohne Schuldgefühle an. Denn was sie ihm nicht erzählte, war, dass der Junge noch etwas zu ihr gesagt hatte. Das Gespräch zwischen den beiden jungen Leuten, nachdem er aufgewacht war, verlief in Wirklichkeit folgendermaßen:
„Wo bin ich?“
„Du bist in Sicherheit. Mein Name ist Sophia und du bist hier auf dem Schiff meines Vaters, dem Duke von England. Unser nächstes Ziel wird die Heimat sein.“
„England?“
„Ja … Wie heißt du eigentlich?“
„Mein Name ist Joe.“
„Und wie alt bist du, Joe?“
„Acht – und du?“
„Sieben. – Wo sind die anderen Besatzungsmitglieder des Handelsschiffes?“
„Welches Handelsschiff?“
„Das Schiff, auf dem du warst. Es hat gebrannt und wir haben dich vorhin aus dem Wasser gezogen.“
„Nein, ich war auf keinem Handelsschiff und auf keinem brennenden Schiff. Ich habe eines gesehen, aber selbst war ich nicht darauf.“
„Aber woher kommst du dann?“
„Sie haben mich ins Wasser geworfen. Sie konnten nichts mit mir anfangen. Ich war ihnen zu jung und immer nur im Weg.“
„Wem?“
„Sie haben das Handelsschiff überfallen. Sie haben die Menschen getötet und alles an sich gerissen, was ihnen wertvoll erschien. Sie wollen nur reich sein, Menschenleben interessieren sie nicht.“
„Wer sind sie?“
„Hast du sie etwa nicht gesehen? Das ist gut … Es gab schon zu viele tote Menschen.“
Nachdenklich blickte meine Mutter in die Luft. Sie wollte Joe nicht erzählen, dass sie etwas gesehen hatte von dem sie nun glaubte, es waren die vom Jungen erwähnten Personen.
Dann fuhr sie fort: „Nachdem du also nicht auf dem Frachter warst, heißt das, du bist selbst ein Mörder, ein Plünderer, ein Pirat – einer von ihnen. Du bist kein Opfer, sondern ein Schuldiger.“
„Nein, so ist es nicht.“
„Nein? Wie ist es dann?“
„Ich wollte das nie. Ich habe mich immer geweigert. Darum wollten sie mich loswerden. Sie haben mich ins Wasser geworfen und mir nachgerufen ‚Dich wird schon jemand finden‘ und danach sind sie einfach von dannen gefahren. Dann habe ich nur noch um mein Leben gekämpft. Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist dein schönes Gesicht.“
Nach diesem Satz konnte die kleine Sophia nicht mehr viel sagen, denn ihr Vater kam in die Kabine und fragte sie, ob der Junge denn etwas gesagt habe.
Die restliche Reise verging wie im Flug und ohne besondere Vorkommnisse. Als sie in London ankamen, suchte Großvater eine Unterkunft für den jetzt nicht mehr ganz so fremden Jungen und besorgte ihm eine Arbeit, damit er sich am Leben erhalten konnte und von niemandem abhängig war.
Joe war ihm dafür sehr dankbar, und jedes Mal wenn Großvater jemanden brauchte, schickte er nach ihm aus, denn die beiden waren bis zu dem Tag, als meine Mutter Sophia und mein Vater Joe miteinander durchbrannten, gute Freunde. Danach war die Stimmung nicht mehr so gut. Aus diesem Grund zogen meine Eltern auch auf die kleine Insel, die mein Großvater dann nicht mehr gernhatte.
Seine Verbissenheit verstand ich nie wirklich. Klar, seine Tochter war eigentlich schon jemand anderem versprochen, aber dieser Mann wäre nun wirklich nicht das Gelbe vom Ei gewesen. Alt war er und hässlich. Da brauchte sich Großvater wirklich nicht zu wundern, dass seine Tochter andere Pläne verfolgte.
Das war nun die Geschichte, wie sich meine Eltern kennenlernten. Und jetzt erzähle ich noch die zweite Story, nämlich jene, als mein Vater wieder von zu Hause fortging.
Meine Eltern waren ein sehr glückliches Pärchen. Obwohl mein Großvater gegen die Beziehung der beiden war, brachte sie das nicht auseinander. Im Gegenteil, das verstärkte ihre Liebe nur noch mehr. Es war so aufregend für sie. Regeln zu befolgen ist einfach, dagegen zu verstoßen erfordert hingegen Mut.
Mutter und Vater wurden oft von den Dorfbewohnern ausgeschlossen, denn sie wussten alle, dass mit ihnen etwas nicht stimmte. Sie waren immer schon anders gewesen, aber genau das war das Besondere an ihnen. Sie befolgten keine Regeln und hielten sich nie an Vorschriften. „Denn ein beschränktes Leben ist kein freies Leben“, sagte meine Mutter später immer zu mir. Ebenfalls sagte sie: „Lebe dein Leben so, wie du möchtest und wie es dir gefällt, nicht so, wie andere es wollen. Du bist du und kein anderer Mensch, mein Kind, und aus diesem Grund kann dir auch niemand vorschreiben, wann du was zu tun hast. Außer natürlich ich! Iss dein Gemüse auf und hilf mir dann bitte die Wäsche aufhängen!“
Nun ja, die altbekannten Erziehungsmethoden eben. Zuerst sagen, dass ich mein eigener Herr bin und dass niemand mir Vorschriften machen kann, und im nächsten Moment Befehle erteilen und den eigenen Willen niederschmettern.
Nachdem Mutter das zu mir gesagt hatte, lachte sie immer, doch ich fand das nicht lustig, denn dann wartete immer Arbeit auf mich. Daraufhin versuchte ich immer so langsam zu essen, wie es mir nur möglich war, aber das hielt die Frau nicht davon ab, mir Vorschriften zu machen und mich zur Arbeit zu verdonnern.„Hätte klappen können, dass du statt mir die Arbeit erledigst, wenn ich weiter so langsam esse.“, murmelte ich dann immer, wenn sie vor mir saß und sagte: „Das wird nicht f-u-n-k--t-i-o-n-i-e-r-e-n“, wobei die Betonung auf nicht lag und sie das Wort funktionieren extra lang zog. Denn wenn ich diese Taktik anwenden wollte und sie es mitbekam, was fast immer der Fall war, so sagte sie, dass sie erst aufstehen werde, wenn ich mit dem Essen fertig sei. Daraufhin setzte sich Mutter kerzengerade hin und starrte mich, ohne auch nur einmal zu blinzeln, so lange an, bis ich mit dem Essen fertig war. Kennt ihr dieses Gefühl? Das ist kein schönes Gefühl, das kann ich euch versichern.
Meine Eltern waren so verliebt und genossen gemeinsam ihr freies Leben, und obwohl sie glaubten, ihr Glück könne nicht mehr gesteigert werden, war dies dann doch der Fall, nämlich als ich geboren wurde. Ich kann mich nicht daran erinnern, weil ich noch zu klein war, aber die beiden verbrachten jede freie Minute mit mir. Vor allem mein Vater ließ mich nicht aus den Augen.
Doch als ich dann vier Jahre alt wurde, veränderten sich die Dinge. Vaters Gesichtsausdruck wurde mit jedem Tag trauriger.
Ich bin eine Seemannstochter, eine Heldin der Meere!
Wenn ich mich vorstellen darf: Mein Name ist Emilia Ana Laura von Larenz oder kurz: Emi Ann. Ich weiß, dies ist kein üblicher Name für ein Kind wie mich, das zeit seiner Kindheit bis ins Teenageralter nur vom Meer träumte und sich nichts inniger wünschte, als ein Leben auf und mit dem Meer zu verbringen und allen Abenteuern und Gefahren zu trotzen, und außerdem von nichts anderem mehr redete, als wie sehr es das Meer sehen und erleben wolle. Durch die Welt zu fahren als ein freier Mensch, der keine Lasten und Pflichten mehr auf den Schultern zu tragen hat.
Geboren wurde ich auf einer Insel mitten im Atlantischen Ozean, also irgendwo im Nirgendwo. Das heißt, ich bin eine Bewohnerin auf Sand, Stein und Erde gewesen, doch wünschte ich mir nichts sehnlicher, als endlich von diesem Ort wegzukommen. Die Insel ist zwar wunderschön, aber auch so klein. Nach mittlerweile siebzehn Jahren, das könnt ihr mir glauben, kenne ich diese Landschaften in- und auswendig. Ich weiß, wo welcher Stein steht, ich weiß, wo die schönsten Blumen blühen und auch wann sie blühen, ich weiß sogar, wo welcher Inselbewohner wohnt, egal ob Mensch oder Tier. Ich bin sogar genau in Kenntnis darüber, dass das Gras an manchen Stellen schneller und grüner wächst als an anderen. Also, ihr merkt, auf diesem Stück Land, das auf unserer großen Erde zu besichtigen ist, kennt sich keiner besser aus als ich.
Ich liebe die Landschaften, die Berge, die Flüsse und Blumen und jedes einzelne Lebewesen hier, doch am meisten liebe ich die Frau, die sich immer um mich kümmerte, die immer an meiner Seite war und mich unterstützte, bei allem, was ich tat; selbst wenn es eine völlig hirnrissige Idee war, die von vornherein zum Scheitern verurteilt war, unterstützte und half sie mir, so gut es ging, die Idee in die Tat umzusetzen.
Zu dieser Zeit war meine Mutter einfach die großartigste Frau für mich und sie ist es heute noch, aber meine Entscheidung war, denke ich, die beste, die ich je treffen konnte.
Meine Mutter Lady Sophia ist eine Adelstochter und eine ganz feine Dame. Aus diesem Grund hatte ich auch die große Ehre, einen Namen von hoher Bedeutung zu tragen. Denn wie hätte es gewirkt, wenn ich einen normalen Namen bekommen hätte, den auch die Dorfmädchen tragen. Eine Tochter, die „blaues Blut“ hat, muss sich doch von anderen Menschen unterscheiden, zumindest wenn man den alten Inschriften Glauben schenken möchte. Vielleicht war das der Grund, warum immer alle meine Mutter und mich mieden. Wir waren anders, nicht wie sie, keine einfachen Landleute.
„Wir sind zu etwas Höherem bestimmt, mein Engel, vergiss das nie“, sagte meine Mutter immer, wenn ich weinend aus dem Dorf kam, weil mich alle beschimpft und verspottet hatten. Da war ich aber noch klein, mittlerweile kannte ich diese Leute schon und war daran gewöhnt, eine „Sonderbehandlung“ von ihnen zu bekommen.
Mutter sagte auch immer: „Du, mein Kind, dein Name wird uns ewig in Erinnerung bleiben, aber diese Menschen da unten (sie zeigte auf das kleine Dorf unten im Tal) werden schnell in Vergessenheit geraten.“ Ich muss zugeben, damit hatte sie nicht ganz unrecht!
Da ich keine Freunde hatte, musste ich mich immer anderweitig beschäftigen. Infolgedessen ging ich jeden Abend alleine an den Strand. Meine Begleiter, die mich immer verfolgten, waren zwar nette Gesellen, aber auch sehr stille. Denn meine besten und einzigen Freunde auf der Insel waren nun mal die Tiere um mich herum. Hasen, Vögel, Eidechsen und viele andere kleine Lebewesen. Traurig, nicht wahr? Aber man kann aus allem etwas Gutes schöpfen.
Unten im Tal lebten zwar viele Menschen, aber kein einziges Kind, das in meinem Alter war. Auch wenn es jemanden gegeben hätte, nützte mir das nicht viel, denn keines der Kinder durfte mit mir sprechen und schon gar nicht mit mir spielen. Das ist sehr hart für ein kleines Kind, wie ich es damals war, doch wie sagt man? „Was mich nicht umbringt, das macht mich stärker.“ Das war so eine unsinnige Regel von ihnen, mich aus ihrem Leben fernzuhalten. Die Leute verhielten sich immer so, als hätte ich eine tödliche, ansteckende Krankheit, und wenn jemand mit mir reden würde, hätte dieser Mensch sie dann automatisch auch. Das war sehr verletzend.
Also saß ich jede Nacht, jeden Tag und all die Stunden alleine unten bei der Bucht und sah den Wellen zu, wie sie gegen die Felsen schlugen. Ebenso hörte ich, so einsam, wie ich war, dem Geräusch zu, das dadurch entstand. Es hörte sich immer wie eine Stimme an, die Stimme des Meeres. Sie sprach zu mir, jedes Mal, und gab mir das Gefühl von Geborgenheit und Freiheit, das Gefühl, gemocht und nicht immerzu verstoßen zu werden.?Diesem Geräusch lausche ich heute immer noch, jeden Abend, und dabei denke ich an die Zeit, die ich oft stundenlang auf diesem Felsen verbrachte.
Ob ihr es glaubt oder nicht, aber wenn ich so zurückblicke, war das eine wundervolle Zeit. Denn hätte ich nicht immer auf diesem Felsen gesessen, dann hätte ich vermutlich auch nicht meine große Liebe zur See entdeckt. Dann wäre ich wie jeder andere gewesen und würde heute nicht dort sein, wo ich jetzt bin.
So konnte ich mir meinen Lebenstraum erfüllen!
Meine Eltern
Es gab eine Geschichte, die mir meine Mutter immer und immer wieder erzählte. Jeden Abend aufs Neue. Die Geschichte darüber, wie meine Mutter meinen Vater kennengelernt hat. Sie war meine Lieblingsgeschichte oder eigentlich eine von meinen Lieblingsgeschichten, denn es gab zwei. Die zweite war die, als mein Vater wieder von zu Hause fortging.
Ich bin nämlich ohne Vater aufgewachsen. Er ging, als ich gerade einmal vier Jahre alt war, und seit diesem Tag habe ich ihn die nächsten dreizehn Jahre meines Lebens nicht mehr wiedergesehen.
Ihr denkt jetzt sicher, so einen Vater braucht man nicht und den will man auch nicht mehr sehen, wenn er einfach von zu Hause weggeht und seine Frau und die kleine Tochter zurücklässt. Diesen Gedanken hatte ich lange Zeit auch in meinem Kopf, doch es gab einen Grund für seine Entscheidung, uns zu verlassen. Außerdem weiß ich, dass er uns sehr geliebt hat, eigentlich immer noch liebt. Ihr solltet euch einfach die Geschichten anhören, dann werdet ihr alles verstehen und anders darüber denken.
Zuerst aber den Teil, wie sich meine Eltern kennenlernten, und den Rest danach. Ich kann ja nicht einfach in der Mitte anfangen, das geht doch nicht. Da kennt sich dann kein Mensch aus.
Bei den Geschichten möchte ich aber noch etwas hinzufügen: Dank dieser Geschichten wusste ich, wie sehr mein Vater mich und meine Mutter zu jener Zeit geliebt hat, und das, obwohl er damals fortgegangen ist.
Also los: Es war ein verregneter Tag und meine Mutter war noch ein junges Mädchen. Sie erzählte mir, dass sie sieben Jahre alt gewesen sei, soweit ich mich erinnern kann. Es ist schon eine Weile her, seitdem ich die Geschichte das letzte Mal hören durfte. Mit ihrem eigenen Vater, also meinem Großvater, und seiner Mannschaft waren sie gerade auf See unterwegs. Auch war dieser Tag noch neblig und der Himmel wirkte so, als würde er gleich zusammenfallen und der ganzen Besatzung auf den Kopf stürzen.
Immer wenn Mutter das erzählte, musste ich lachen. Der Himmel kann doch keinem auf den Kopf fallen! Meine Mutter hatte nie Angst, das war eine ihrer bemerkenswertesten Eigenschaften. Sie war auch immer sehr abenteuerlustig, das schätzte Großvater nicht so sehr an ihr. Großmutter sagte immer zu ihr: „Mein Kind, sei stark in deinem Leben und tu das, was dich glücklich macht. Auch wenn es andere Menschen enttäuscht. Bleibe immer nur dir treu und, vor allem, lebe deine Kindheit und genieße jeden einzelnen Augenblick davon. Diese Zeit ist kurz und kommt, wenn du älter wirst, nicht wieder zurück. Ich hatte nicht so ein Glück, ich musste immer arbeiten, aber dir, mein Schatz, gönne ich es und du lebst meine Kindheit für mich mit.“
Großmutter hatte immer solche wundervollen und gütigen Sprüche auf Lager und ich bereue es, dass ich sie und Großvater nicht öfter sehen konnte. Denn die beiden leben sehr weit weg von unserer Insel. Großvater und Großmutter wohnen nämlich in England. Meine Mutter liebt die beiden sehr, doch meinen Vater damals noch mehr. Großvater fuhr oft mit seiner Besatzung zu unserer Insel, denn irgendetwas an ihr faszinierte ihn einfach. Ich weiß nicht, was es war, und immer wenn ich ihn danach fragte, gab er mir dieselbe Antwort: „Sie ist einfach schön.“ Das war nie die Antwort, die ich hören wollte, doch er hatte recht.
Genau aus diesem Grund sind meine Mutter und mein Vater auf die Insel gezogen und weg von allem anderen, um neu anfangen zu können und von niemandem gestört zu werden. Ich weiß, dass Mutter Angst hatte, ihr Zuhause zu verlassen und von ihren Eltern Abschied zu nehmen, aber für meinen Vater hat sie das alles in Kauf genommen.
Meine Mutter war und ist bis heute noch fast furchtlos. Aus diesem Grund nahm ihr Vater sie früher auch immer auf die Schiffsreisen mit, damit sie etwas sehen würde, was sie so sehr erschrecken würde, dass das kleine Mädchen sich fürchten und aufhören würde, ihn jedes Mal anzubetteln, es mitzunehmen, wenn er wieder einmal zur See wollte. Es nervte ihn, denn ein Mädchen gehört doch nicht auf ein Schiff! Nein, es gehört in die Küche und zur Mutter. Frauen an Bord bringen Unglück, sagt man. Doch das ist nicht wahr, wir sind eigentlich Glücksbringer, meistens zumindest. Na gut, sagen wir manchmal.
Meine Einstellung dazu machte aus uns auch nicht gerade die besten Freunde. Mutter war sein Fleisch und Blut und kostete ihn damals schon alle Nerven, aber er liebte seine Tochter über alles und jeden. Doch als er mitbekam, dass ich auch eine kleine Rebellin war, gab er die Hoffnung auf, dass je wieder eine Frau in der Familie normal sein würde, zumindest was seiner Auffassung von „normal“ entsprach.
„Du bist nicht normal, Kind“, sagte er immer. „Du bist ein Problemkind und ein Sonderfall, genau wie deine Mutter. Ihr kostet mich noch alle Nerven.“ Ich nahm ihm das nicht übel, denn ich wusste, dass er mich liebte und immer nur das Beste wollte, für jeden von uns. Jedes Mal wenn er das gesagt hatte, hörte ich Großmutter im Hintergrund lachen. Leise genug, dass es Großvater nicht hörte, aber laut genug, dass ich es mitbekam. Dann musste ich fast immer mitlachen und der alte Mann glaubte, ich würde ihn verspotten.
Es war nicht angenehm, wenn er das dachte, denn dann schimpfte er immer lautstark mit mir. Aber dann kam Mutter ins Zimmer und verteidigte ihren kleinen Engel.
Nun gut, jetzt habe ich erst einmal genug von Großvater und Großmutter erzählt.
Ich erzähle mal lieber die Geschichte weiter. An diesem einen Tag sah meine Mutter wirklich etwas, das sie so erschreckte, dass man ihr die Angst deutlich im Gesicht ansehen konnte. Denn als kleines Mädchen erblickte sie so etwas zum ersten Mal.
Sie sah eine Wolke. Sie war pechschwarz und meilenweit zu sehen, und sie sah ein Schiff, ein brennendes Schiff. Nein, es brannte nicht mehr, es war bereits ausgebrannt und am Sinken. In diesem Moment gingen ihr so viele Fragen durch den Kopf. Was ist das für ein Schiff? Warum hat es gebrannt? Wer war verantwortlich für dieses Unglück? War es überhaupt ein Unglück? Wo ist die Besatzung? Leben die Männer noch? Waren Kinder an Bord?
Doch die Frage, die sie am meisten beschäftigte, war diese: Sind wir die Nächsten?
Dann sah sie das Schiff hinter der Nebelwand verschwinden. Ein schwarzer Schatten, so groß, beängstigend und mächtig wie die Nacht. Sie war sich nicht sicher, was sie an diesem Tag wirklich gesehen hatte, aber eines war klar, eingebildet war der im Nebel untertauchende Schatten nicht. Doch als sie es ihrem Vater sagen wollte, schrien die Männer laut auf.
„Ein Junge, ein Junge im Wasser!“ Sie zogen ihn aus dem kalten Nass auf Großvaters Schiff. Als der Junge halbwegs abgetrocknet war, entfernte sich Großvaters Schiff immer weiter von dem ausgebrannten Wrack. In der Aufregung vergaß meine Mutter dann von dem Schatten zu berichten, den sie gesehen hatte.
„Bringt ihn hinunter und gebt ihm Essen und etwas Wasser“, schrie Großvater in der Aufregung. „Sophia“, sagte er zu Mutter, „bleib du bei ihm. Geht hinunter in meine Kabine, ich will nicht, dass du vor lauter Schreck und Panik in der Masse der Männer untergehst. Sie könnten über dich stolpern und dich verletzen – das möchte ich auf jeden Fall verhindern. Verstehst du das, Kind?“
Normalerweise konnte Mutter ihre Neugierde nicht zügeln, aber dieses eine Mal gehorchte sie. Sie tat wie geheißen und ging mit dem fremden Jungen hinunter in die Kabine.
Als die ganze Aufregung endlich verflogen war, ging Großvater zu seiner Tochter und sagte zu ihr: „Ich sehe, der Junge ist wach. Hat er irgendetwas gesagt?“ „Ja Vater, er heißt Joe und er ist acht Jahre alt, mehr konnte ich noch nicht herausfinden.“
Sie tat es nicht gerne, aber sie hatte keine andere Wahl. Mutter log zum ersten und letzten Mal in ihrem ganzen Leben ihren Vater bewusst und ohne Schuldgefühle an. Denn was sie ihm nicht erzählte, war, dass der Junge noch etwas zu ihr gesagt hatte. Das Gespräch zwischen den beiden jungen Leuten, nachdem er aufgewacht war, verlief in Wirklichkeit folgendermaßen:
„Wo bin ich?“
„Du bist in Sicherheit. Mein Name ist Sophia und du bist hier auf dem Schiff meines Vaters, dem Duke von England. Unser nächstes Ziel wird die Heimat sein.“
„England?“
„Ja … Wie heißt du eigentlich?“
„Mein Name ist Joe.“
„Und wie alt bist du, Joe?“
„Acht – und du?“
„Sieben. – Wo sind die anderen Besatzungsmitglieder des Handelsschiffes?“
„Welches Handelsschiff?“
„Das Schiff, auf dem du warst. Es hat gebrannt und wir haben dich vorhin aus dem Wasser gezogen.“
„Nein, ich war auf keinem Handelsschiff und auf keinem brennenden Schiff. Ich habe eines gesehen, aber selbst war ich nicht darauf.“
„Aber woher kommst du dann?“
„Sie haben mich ins Wasser geworfen. Sie konnten nichts mit mir anfangen. Ich war ihnen zu jung und immer nur im Weg.“
„Wem?“
„Sie haben das Handelsschiff überfallen. Sie haben die Menschen getötet und alles an sich gerissen, was ihnen wertvoll erschien. Sie wollen nur reich sein, Menschenleben interessieren sie nicht.“
„Wer sind sie?“
„Hast du sie etwa nicht gesehen? Das ist gut … Es gab schon zu viele tote Menschen.“
Nachdenklich blickte meine Mutter in die Luft. Sie wollte Joe nicht erzählen, dass sie etwas gesehen hatte von dem sie nun glaubte, es waren die vom Jungen erwähnten Personen.
Dann fuhr sie fort: „Nachdem du also nicht auf dem Frachter warst, heißt das, du bist selbst ein Mörder, ein Plünderer, ein Pirat – einer von ihnen. Du bist kein Opfer, sondern ein Schuldiger.“
„Nein, so ist es nicht.“
„Nein? Wie ist es dann?“
„Ich wollte das nie. Ich habe mich immer geweigert. Darum wollten sie mich loswerden. Sie haben mich ins Wasser geworfen und mir nachgerufen ‚Dich wird schon jemand finden‘ und danach sind sie einfach von dannen gefahren. Dann habe ich nur noch um mein Leben gekämpft. Das Nächste, an das ich mich erinnern kann, ist dein schönes Gesicht.“
Nach diesem Satz konnte die kleine Sophia nicht mehr viel sagen, denn ihr Vater kam in die Kabine und fragte sie, ob der Junge denn etwas gesagt habe.
Die restliche Reise verging wie im Flug und ohne besondere Vorkommnisse. Als sie in London ankamen, suchte Großvater eine Unterkunft für den jetzt nicht mehr ganz so fremden Jungen und besorgte ihm eine Arbeit, damit er sich am Leben erhalten konnte und von niemandem abhängig war.
Joe war ihm dafür sehr dankbar, und jedes Mal wenn Großvater jemanden brauchte, schickte er nach ihm aus, denn die beiden waren bis zu dem Tag, als meine Mutter Sophia und mein Vater Joe miteinander durchbrannten, gute Freunde. Danach war die Stimmung nicht mehr so gut. Aus diesem Grund zogen meine Eltern auch auf die kleine Insel, die mein Großvater dann nicht mehr gernhatte.
Seine Verbissenheit verstand ich nie wirklich. Klar, seine Tochter war eigentlich schon jemand anderem versprochen, aber dieser Mann wäre nun wirklich nicht das Gelbe vom Ei gewesen. Alt war er und hässlich. Da brauchte sich Großvater wirklich nicht zu wundern, dass seine Tochter andere Pläne verfolgte.
Das war nun die Geschichte, wie sich meine Eltern kennenlernten. Und jetzt erzähle ich noch die zweite Story, nämlich jene, als mein Vater wieder von zu Hause fortging.
Meine Eltern waren ein sehr glückliches Pärchen. Obwohl mein Großvater gegen die Beziehung der beiden war, brachte sie das nicht auseinander. Im Gegenteil, das verstärkte ihre Liebe nur noch mehr. Es war so aufregend für sie. Regeln zu befolgen ist einfach, dagegen zu verstoßen erfordert hingegen Mut.
Mutter und Vater wurden oft von den Dorfbewohnern ausgeschlossen, denn sie wussten alle, dass mit ihnen etwas nicht stimmte. Sie waren immer schon anders gewesen, aber genau das war das Besondere an ihnen. Sie befolgten keine Regeln und hielten sich nie an Vorschriften. „Denn ein beschränktes Leben ist kein freies Leben“, sagte meine Mutter später immer zu mir. Ebenfalls sagte sie: „Lebe dein Leben so, wie du möchtest und wie es dir gefällt, nicht so, wie andere es wollen. Du bist du und kein anderer Mensch, mein Kind, und aus diesem Grund kann dir auch niemand vorschreiben, wann du was zu tun hast. Außer natürlich ich! Iss dein Gemüse auf und hilf mir dann bitte die Wäsche aufhängen!“
Nun ja, die altbekannten Erziehungsmethoden eben. Zuerst sagen, dass ich mein eigener Herr bin und dass niemand mir Vorschriften machen kann, und im nächsten Moment Befehle erteilen und den eigenen Willen niederschmettern.
Nachdem Mutter das zu mir gesagt hatte, lachte sie immer, doch ich fand das nicht lustig, denn dann wartete immer Arbeit auf mich. Daraufhin versuchte ich immer so langsam zu essen, wie es mir nur möglich war, aber das hielt die Frau nicht davon ab, mir Vorschriften zu machen und mich zur Arbeit zu verdonnern.„Hätte klappen können, dass du statt mir die Arbeit erledigst, wenn ich weiter so langsam esse.“, murmelte ich dann immer, wenn sie vor mir saß und sagte: „Das wird nicht f-u-n-k--t-i-o-n-i-e-r-e-n“, wobei die Betonung auf nicht lag und sie das Wort funktionieren extra lang zog. Denn wenn ich diese Taktik anwenden wollte und sie es mitbekam, was fast immer der Fall war, so sagte sie, dass sie erst aufstehen werde, wenn ich mit dem Essen fertig sei. Daraufhin setzte sich Mutter kerzengerade hin und starrte mich, ohne auch nur einmal zu blinzeln, so lange an, bis ich mit dem Essen fertig war. Kennt ihr dieses Gefühl? Das ist kein schönes Gefühl, das kann ich euch versichern.
Meine Eltern waren so verliebt und genossen gemeinsam ihr freies Leben, und obwohl sie glaubten, ihr Glück könne nicht mehr gesteigert werden, war dies dann doch der Fall, nämlich als ich geboren wurde. Ich kann mich nicht daran erinnern, weil ich noch zu klein war, aber die beiden verbrachten jede freie Minute mit mir. Vor allem mein Vater ließ mich nicht aus den Augen.
Doch als ich dann vier Jahre alt wurde, veränderten sich die Dinge. Vaters Gesichtsausdruck wurde mit jedem Tag trauriger.