Die Schicksalsweberin

Die Schicksalsweberin

Bodos Manuskript - Band 1

Christof Willen


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 580
ISBN: 978-3-99003-991-5
Erscheinungsdatum: 22.03.2012
Schriftsteller Bodo arbeitet an seinem zweiten Roman. Der etwas einsame Autor scheint gerade aus seinem Alleinsein auftauchen zu dürfen, als er Sara, eine Musikerin, kennenlernt. Seine Romanfigur Peer trifft nach einem schweren Unfall auf Ayse. Teil 1 einer Liebesgeschichte zwischen Fiktion und Realität.
<strong>1.</strong>

„Haben Herzen Flügel? Und wenn sie Flügel haben … Wo fliegt mein Herz hin, und wie kommt es zurück, wenn es dort, wo es hingeflogen ist, nicht sein darf, nicht sein kann? Werden die Flügel irgendeinmal lahm, das Herz des Fliegens müde?“ Peer verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute zum Himmel hoch. Weiße Wattewolken kontrastierten mit dem süffigen Blau darüber, sie zogen kaum. Die Sonne wärmte seine Haut, mild und sanft, und brannte schon fast, dort, wo sie den Stoff seiner schwarzen Hose durchdrang. Das Gras kitzelte seine Arme, manchmal huschte eine Ameise über seine Haut. Peer schloß die Augen. Ein Schwarm Schwalben schwirrte unaufhörlich zwischen den Häusern umher, die Vögel riefen sich gegenseitig zu.
„Vogelstimmen … Wie finden Herzen einander? Vögel erkennen sich an ihren Stimmen, und auch viele andere Tiere finden ihren Partner mit Gesang. Singen unsere Herzen auch? Senden unsere Herzen Schwingungen aus, eine Art Musik, die nur ein Herz hören kann, empfangen kann, wenn es in derselben Schwingung schlägt?
Findet ein Herz ein anderes, das zwar dieselbe Musik spielt, aber nicht im gleichen Takt, so mag die Liebe, die dadurch entsteht, eine Weile halten, doch nicht für immer. Es gibt nur ein Herz unter all den Millionen Herzen, das wirklich genau die gleiche Musik spielt, in der gleichen Tonlage, im gleichen Takt; ein einziges Herz, das bestimmt ist, mit dem eigenen zu harmonieren. Doch wie findest Du dieses Herz? Und was, wenn Du es findest, es aber nicht frei ist? Was dann?“ Peers Gedanken wanderten tiefer, ergriffen seine Seele und nahmen sie mit auf die Reise; es waren nun nicht mehr nur Gedanken; sie verbanden sich mit Erinnerungen, mit Schmerz, mit Trauer und verlorenen Hoffnungen; und während sie um ihn herum und in ihm kreisten, scheuerten sie an den Narben der Wunden, die über Jahre hinweg in ihm entstanden waren. Die Zeit heilt alle Wunden … Nur die Narben, die zurückbleiben, die erinnern und schmerzen, wie Rheuma in alternden Gelenken, dachte Peer bittersüß, und irgendeinmal ist Dein Herz nur noch ein narbiges Geschwür …
Schmerz gehörte zur Liebe wie die Wärme zur Sonne, jedenfalls war das bei ihm so. Peer nutzte die Mittagspause, um über sein Leben nachzudenken, eigentlich nutzte er jede Pause, um über sein Leben nachzudenken; eigentlich dachte er auch zwischen den Pausen immer über sein Leben nach.
Die mittägliche Stille wurde durchbrochen, ein Auto fuhr auf der nahen Straße vorbei; der Ton wurde lauter, das Geräusch übertönte die Vogelstimmen, dann vermischte es sich mit den leisen Tönen des Raschelns des Laubes, dem kecken Rufen der Schwalben und verschwand dann in der Ferne. Stimmen erklangen aus einem Fenster; Gelächter. Peer gab sich ganz den Geräuschen hin. Mit geschlossenen Augen ließen sich die Geräusche wegtragen, in einen anderen Teil der Erde verschieben, und er stellte sich vor, irgendwo in Italien zu liegen. Er stellte sich vor, sobald er die Augen öffnete, von Olivenbäumen und Ginster umgeben zu sein, von mediterranen Gebäuden und Gerüchen; er sah die kleinen, farbigen Fischerboote, die sanft im Hafen dümpelten, und die abgeschossenen Fassaden der schmalen Häuser in den engen Gassen; er roch den säuerlichen Duft von Fisch und Salz und den schon penetranten Geruch von frisch geschnittenem Schinken aus der offenen Türe der Metzgerei; und er glaubte gar, die korpulente Mama in der blaugeblümten Schürze, die gerade aus der Bäckerei kam, rufen zu hören: „Antonio, veni, veni …“
Als er die Augen öffnete, lag er unter dem Kirschenbaum an der Sackgasse im Osten Berns und nicht in Italien, neben ihm ragten Industriebauten in die Höhe und keine schmucken Häuschen; die Mittagspause war vorbei und sein Leben nicht anders als zuvor.

Bodo lehnte sich zurück und las die Zeilen durch. Eine Zigarette verglühte im Aschenbecher, und der Kaffee in der Tasse neben dem Computer wurde kalt.
Er gähnte und streckte seinen Rücken durch. Die Nacht war warm, und obwohl ein feiner Regen fiel, schien die angestaute Hitze des Tages nicht weggeschwemmt zu werden. Der Regen hatte mit einem Gewitter begonnen, das einem schwülen Tag gefolgt war. Düstere, dumpfgraue Wolken hatten am Nachmittag den Himmel überzogen, die Sonne beiseite geschoben und das blaue Tuch weggerollt, und Donnergrollen war den Regenwolken gefolgt. Die ersten Tropfen fielen kirschengroß, dann brachen die Wolken, und es prasselte eine halbe Stunde ein herrlich duftender Sommerregen auf Blätter und Dächer. Nun nieselte es lediglich noch, und das Geräusch der Tropfen, die von den Blättern fielen, war lauter als das derer, die vom Himmel kamen. Die Vögel sangen wieder, und die Autos auf der Straße zogen eine zischende Wasserspur hinter sich her.
Bodo dachte über seinen Protagonisten nach. Immer wieder ertappte er sich dabei, daß er Parallelen zog zwischen sich und Peer, obwohl er das eigentlich gar nicht wollte. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, wußte er gar nicht so genau, wo er eigentlich mit der Geschichte hinwollte, deren Zeilen vor ihm auf dem Bildschirm standen. Das war schon oft so gewesen, und plötzlich hatten dann die Worte ein Eigenleben entwickelt und ihn wie von selbst irgendwohin geführt. Manchmal hatte er auch Angefangenes stehengelassen und oft sogar gelöscht, weil sich die Figuren in der Geschichte einfach nicht zum Leben er­wecken lassen wollten und ihm so nicht die notwendige Inspiration gaben. Eine Geschichte zu schreiben, war wie Schaufensterpuppen anzuziehen, um dann zu warten, bis sie lebendig wurden. Begannen sie sich einmal zu bewegen, mußte er nur noch deren Leben festhalten und in Worte fassen. Doch manchmal eben blieben sie Schaufensterpuppen, leer, stumm, ohne Aussage und ohne Seele, hinter einer dicken Glasscheibe …

Ein Flugzeug zog irgendwo über ihm dahin; das Motorengeräusch ein weit entferntes Summen. Wo fliegst du hin?, fragte sich Bodo. Nimm mich mit auf deine Reise …
Bodo saß auf der Terrasse seines Hauses unter dem schützenden Vordach und schaute in die Nacht hinaus. Eine Kerze in einem runden, großen Blech flackerte und ließ ihr Licht tanzen. Der Sommer stand in voller Blüte, und er selbst fühlte sich welk.
Inzwischen war es bereits kurz vor zehn, und er zögerte zwischen Weiterschreiben und Ausgehen. Doch wohin sollte er alleine schon gehen? Er war keiner derer, die in Bars das Gespräch mit anderen oder gar den Kontakt zu Frauen suchten; nein, das konnte er nicht. Das war so oberflächlich. Und wenn Bodo etwas nicht war, dann war es oberflächlich. Im Gegenteil. Seine Tiefgründigkeit stand ihm eigentlich dauernd im Weg. Doch das war er, tiefgründig, nachdenklich, und daher eigentlich meist unglücklich. Seine Art verhalf vielen anderen, den Weg zu finden, und ihm verhalf es eigentlich immer dazu, seinen Weg zu verlieren. Verlieren, das war das einzige, was er in seinem Leben bis jetzt immer unbestritten erfolgreich geschafft hatte.

Bodo zündete sich eine Zigarette an und strich mit der Hand über seine frisch rasierte Glatze. Die Zeilen auf dem Bildschirm vor ihm verschwanden, und eine komische farbige Wolke waberte halluzinogen vor seinen Augen hin und her; abwesend betrachtete er den Bildschirmschoner und dachte nach. Er fragte sich immer wieder mal, wieso er eigentlich schrieb.
Daß sich irgendeinmal der Erfolg gemeldet und bei ihm an der Tür angeklopft hatte, war eine meist angenehme Nebenerscheinung, und er hatte ihm zögerlich und mit etwas scheuem Ungewissen die Türe geöffnet und ihn eingelassen. Doch mit dem Erfolg kamen auch die ungebetenen Gäste und schmuggelten sich herein, so zum Beispiel die Lesungen, die ihm gar nicht behagten. Er hörte sich nicht gerne sprechen, und schon gar nicht seine eigenen Gedanken und Worte vortragen.
Nein, der Erfolg war nur die Nebenwirkung, oder sozusagen ein Symptom, aber nicht die Ursache.
Er schrieb, weil er dadurch seine Seele in die Ferien schicken
konnte, er konnte ihre Wunden pflegen – oder manchmal schrieb er sich auch die Seele wund, es kam ganz drauf an, wo er im Leben stand. Schreiben war eine Therapie, wie es Dean Koontz einmal so trefflich gesagt hatte; eine psychische Chemotherapie, die die geistigen Tumore heilt und deren Schmerzen lindert. Schreiben war Bilder malen mit den Farben von Worten; es war Düfte kreieren aus Gedanken. Schreiben gab ihm einerseits die Möglichkeit, einfach eine Welt entstehen zu lassen, die grenzenlos war; nichts war unmöglich und alles erlaubt; andererseits ließ sich Erlebtes so wundervoll verarbeiten. Er schrieb, wenn er glücklich war und seinen Träumen freien Flug gewährte und die Welt zu klein wurde; und er schrieb, wenn die Worte in den Blutstropfen seines Herzens ertranken und er zusah, wie die Zeilen in seinen eigenen Tränen davontrieben. Schreiben, das war seine Welt, das war sein Leben – und es war auch so ziemlich die einzige Konstante in seinem Leben, egal ob er ganz oben oder ganz unten war. Er schrieb in die Wärme der lachenden Sonne gebettet, er schrieb auf dem Berg der Traurigkeit, er schrieb lachend auf dem See dahintreibend, und er schrieb am Rande des Abgrundes, während er nach unten schaute.

Es wurde nun doch etwas kühl, und seine Arme überzogen sich mit Gänsehaut. Bodo entschied sich, Peer noch etwas in der Mittagspause hängen zu lassen, und klappte den Computer zu. Er löschte die Kerze und ging hinein. Eine Mischung aus Kerzenduft und Qualm des verglühenden Dochtes folgte ihm.
Bodo hatte Lust auf etwas Musik und entschied sich, doch noch für einen Moment in die Stadt zu fahren; vielleicht hatte er ja Glück, und er fand in einem gemütlichen Lokal entspannende Musik, zu der er die Menschen beobachten, in Träumen verweilen und Inspiration finden konnte. Meist kam er zwar von solchen Abenden nach Hause und fühlte sich noch einsamer als zuvor, doch er war bereit, das Risiko einzugehen. Viel einsamer als an diesem Abend konnte er sich ohnehin nicht fühlen.
Wo kannst du schon hinfallen, wenn du bereits ganz unten angekommen bist?


Bodo verweilte einen Moment vor dem Kleiderschrank und fand dann eine Hose, die ihm behagte; schwarz, mit mehreren Taschen an den Beinen, und suchte ein T-Shirt ohne Ärmel, das dazu paßte. Im Bad setzte er die Kontaktlinsen ein, putzte sich die Zähne und schaute kurz in den Spiegel. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Stolz ihn erfüllt, wenn er sich selbst betrachtete; stolz, richtig zu sein; stolz, gar nicht so übel zu sein; er hatte sich gut gefühlt und wohl in seiner Haut, doch im Moment wußte er manchmal gar nicht so recht, wer ihm da eigentlich aus dem Spiegel entgegenschaute. Bodo seufzte und ging wieder ins Schlafzimmer. Mit geschlossenen Augen wählte er ein Parfum, damit er sich nicht entscheiden mußte. Er legte den Armreif mit den eingravierten keltischen Knoten ums Handgelenk und steckte einen breiten, silbernen Ring auf den Daumen der linken Hand. Das Portemonnaie verstaute er in der linken Beintasche, das Handy verschwand in der rechten; eine Packung Kaugummis fand irgendwo Platz und auch die Zigaretten. Und sein kleines Notizbuch mit dem Kugelschreiber, ohne das er nirgendwo hinging. So gerüstet, schnappte sich Bodo dann den Autoschlüssel und verließ das Haus.
Es nieselte immer noch dezent, als er die Tür hinter sich abschloß und zur Tiefgarage ging. Herr Joß kam ihm mit dem müden, alten Labrador entgegen und grüßte ihn freundlich. Bodo wünschte ihm einen schönen Abend und sprang die Stufen zur Einstellhalle hinunter. Ein Kauz rief aus dem nahen Wald, und zwei Katzen schienen in einem Garten einen Revierkampf auszutragen.
Schwaches Licht und die obligate, etwas befremdende Wirkung einer im Halbdunkel liegenden Tiefgarage empfing ihn, und Bodo verstand jede Frau, die nur ungern alleine an so einen Ort ging – nicht daß er Angst hatte, aber irgendwie verströmte eine stille, dunkle Einstellhalle genau die Atmosphäre, die einem Schauer über den Rücken laufen ließ, wie in den Krimis am Fernsehen, in denen ja meist an solchen Orten irgend etwas geschah; oder genau wegen der Krimis. Was war nun zuerst, das Huhn oder das Ei?
Bodo drückte den Knopf auf seinem Autoschlüssel, und die Verriegelung des Wagens sprang laut schnappend auf; alle vier Blinker zuckten kurz als Zeichen der Anerkennung. Er stieg ein und startete den Motor; während er mit der einen Hand die Türe zuzog, suchte er auf dem iPod, der im Radiotransmitter steckte, die Musik, die er hören wollte, und legte dann den Rückwärtsgang ein. Als er langsam zum Tor rollte, begann Anna Ternheim zu singen und mahnte ihn, die Ruhe, die Nacht zu verlassen.
Bodo sang mit und fuhr in die nasse Nacht hinaus.

Regentropfen zerplatzten auf der Scheibe; die Sicht war verklärt, und alles erschien durch einen diffusen Schleier. Bodo liebte die Nacht, und noch mehr die Regennacht. In der Nacht schien sich alles auf eine kleine, überschaubare Welt zu reduzieren, die Blicke wurden nicht abgelenkt und in die Ferne geführt; man sah nur, soweit das Licht reichte, und so kreisten die Gedanken immer in der Nähe herum, wie Falter, die den hellen Schein suchten.
Wenige Autos waren auf der Straße unterwegs. In den Häusern brannten Lichter, und durch die meisten Fenster drang der bläuliche, hastig wechselnde Schein der Fernseher nach draußen. Die Menschen zogen sich zurück in die Abgeschiedenheit der eigenen vier Wände, um sich die große Welt über den Bildschirm herzuholen. Bodo schüttelte verständnislos den Kopf und fuhr auf die Brücke, welche über den See führte. Die Straßenlampen warfen ihr gelbes Licht ins Wasser, ein schmaler werdendes Band, in dem die Wellen sich sanft bewegten, von den Regentropfen gekitzelt.
Wenige Minuten später bog er von der Autobahn ab und folgte der Straße in die Innenstadt. Bodo entschied sich, sein Glück auf dem dem Zentrum am nächsten liegenden Parkplatz zu versuchen; das wurde belohnt, und er huschte in einen der letzten freien Plätze.
Samstagabend. Trotz des eigenwilligen Wetters pulsierte ausgelassenes Leben in den Gassen. Bodo querte den Parkplatz und ging Richtung Zentrum. Er wurde seltsam tief berührt, begegnete er verliebten Paaren, die so ineinander vertieft waren, daß sie vermutlich nicht einmal wußten, in welcher Stadt sie unterwegs waren; er amüsierte sich still, kreuzte er den Weg kichernder Mädchen mit knospenden Körpern in freizügiger Kleidung, die wohl noch nicht oft ohne Eltern in den Ausgang hatten gehen dürfen; und er schüttelte befremdet den Kopf, wenn er in der Blüte der Pubertät stehende Jungs hörte und bemerkte, daß deren Wortwahl sie verpflichtete, pro Satz mindestens sechs Mal das gleiche Fluchwort zu verwenden.
Bodo wollte gerade den Weg zum Bahnhof einschlagen, um dort an eine Zeitung mit dem aktuellen Abendprogramm zu gelangen, da fiel sein Blick auf ein Plakat, das hastig an eine Häuserwand geklebt worden war.
Er ging näher und fragte sich, weshalb das Plakat wohl seine Aufmerksamkeit geweckt hatte.
War es die große Schrift? War es der Konzertflügel, der gefiltert fotografiert in der Mitte stand, oder war es die dunkelhaarige Frau, die mit geneigtem Kopf auf dem Instrument saß, eine große, weiße Kerze in den geschlossenen Händen? Bodo wußte es nicht, doch ehe er den Text las, betrachtete er die Frau, deren Gesicht im Schein der Kerze märchenhaft wirkte; ihre Augen schienen ins Leere zu blicken, und doch kam es ihm vor, als schaue sie ihn an.
„Sara L. Boillat, brillante Pianistin und begnadete Sängerin, entführt in eine Welt zwischen Alicia Keys und Tory Amos und verzaubert dennoch mit klarem, eigenem Stil …“
Bodos Herz schlug höher, als er dies las. Und als er die Konzertdaten überflog, wußte er das Glück für diesen Abend definitiv auf seiner Seite. Sie spielte an diesem Abend im Kornhaus in Bern – und das Konzert begann in genau zwanzig Minuten.
Ohne den leisesten Anflug eines Zögerns schritt Bodo zügig die Aarbergergasse hinunter und schlug die Richtung zum besagten Lokal ein.
Bern war eigentlich ein großes Dorf, so fand Bodo, während er an beleuchteten Schaufenstern vorbeiging. Im Vergleich zu anderen Schweizerstädten sicher nicht das Mekka an Abendunterhaltung, doch ihm gefiel die Mischung aus Provinzialität und Kulturvielfalt. Er liebte seine Heimatstadt, obwohl klein und manchmal zu klein, so besaß sie doch einen Charme wie keine andere Stadt, die er je kennengelernt hatte.
Es regnete nun nicht mehr, und sofort entstanden vor den verschiedensten Lokalen Menschengruppen; rauchend, lachend, trinkend, begleitet von der Musik aus dem Innern. Bodo bahnte sich seinen Weg zwischen ihnen hindurch und sah bald das mächtige Gebäude des Kornhauses vor sich.
Ein Anflug von Panik machte sich bemerkbar, als er eine große Menschentraube vor dem Eingang stehen sah, doch verflüchtigte dieser sich schnell wieder, als er feststellte, daß sie alle gegen den Eingang drängten, der nach oben zum Stadtsaal führte. Dem Alter und der Kleidung nach zu urteilen, fand dort eine Techno-Veranstaltung statt; definitiv nicht sein Geschmack.
„Viel Erfolg, Simon …“, murmelte er, da er den Veranstalter kannte, und stieß die Türe auf zum Keller, in dem das Konzert stattfinden sollte. Er tauchte ein in die fast mystische Atmosphäre des riesigen Kellergewölbes und überblickte von oben, während er den Eintritt bezahlte, das Lokal. In der Mitte entdeckte er eine kleine Bühne, auf der dasselbe Piano stand wie auf dem Plakat. Mitten auf der schwarz glänzenden Oberfläche stand die weiße, große Kerze. Rund um die Bühne waren kleine Tische mit drei, vier Stühlen angeordnet. Bodo entdeckte einige freie Tische und fixierte einen, der ganz nahe an der Bühne stand. Er stieg die Stufen hinunter und ging zwischen den besetzten Tischen hindurch zur Bühne. Er setzte sich und lehnte sich entspannt zurück. Über ihm auf der Galerie füllten sich die Plätze, lautes Stimmengewirr durchdrang das Gewölbe. Bodo bestellte sich ein Glas Weißwein und ein Mineralwasser und bestaunte das Treiben um sich herum. Zum Glück hatte ihn noch niemand erkannt, er wollte diesen Abend genießen und sich der Musik und den Gedanken hingeben. Nicht, daß er so bekannt wäre, als daß er überall angesprochen würde – ein Vorteil, den ein Schriftsteller hatte, man kannte seine Worte, aber nicht unbedingt sein Gesicht –, doch es kam immer wieder vor, daß er in meist unpassenden Momenten erkannt wurde.
Die meisten Tische waren mit Paaren besetzt, andere mit Gruppen aus Männern oder Frauen, Freunde, die miteinander ausgingen. Nur ganz selten entdeckte er Einzelgänger, wie er einer war.
Bodo wandte sich der Bühne zu und betrachtete abwesend den Flügel, ließ seinen Blick in der Kerzenflamme eintauchen und wegdriften. Er war gespannt auf das Konzert, auf die Frau und ihre Stimme. Er liebte Alicia Keys und ebenso Tory Amos, also konnte es fast nur seinem Geschmack entsprechen. Bodo wählte sowieso fast immer Frauen, wenn es um Musik ging. In seiner Diskographie zu Hause standen sie definitiv in der Überzahl; das war auch gut so und könnte im Leben ohnehin so sein, war Bodo der Meinung. Auch wenn er mit Frauen nicht wirklich Glück zu haben schien, so waren sie seiner Meinung nach einfach die besseren Menschen als die Männer, und sowohl in Wirtschaft als auch Politik würde vieles bessergehen, säßen Frauen an den entscheidenden Stellen. So dachte er. Und überhaupt war es einfach wunderschön, daß es Frauen gab.
In dem Moment betrat Sara L. Boillat die Bühne, und Bodo fühlte sich in seiner Philosophie bestärkt, denn diese Frau war unbeschreiblich schön und füllte mit ihrer Präsenz in Sekundenbruchteilen das Lokal. Es wurde augenblicklich still in dem Gewölbekeller, als sie hinter dem Flügel hervortrat und die Kerze von dessen Oberfläche nahm. Sie hielt die Kerze mit beiden Händen vor der Brust – und das Licht im Keller ging aus. Stockdunkel war es, abgesehen von den grün schimmernden Notausgangsschildern, nur ihr Gesicht wurde von dem sanft flackernden Kerzenlicht beleuchtet. Das fast schwarze, ganz leicht gewellte Haar umrahmte ihr Gesicht; auf der Haut ihrer Wangen entdeckte Bodo feinen Glimmer; ihr Mund stand ganz leicht offen, die vollen Lippen ließen einen Hauch der weißen Zähne durchschimmern; und ihre Augen …

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