Die Schicksalsweberin

Die Schicksalsweberin

Bodo und Peer - Band 2

Christof Willen


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 410
ISBN: 978-3-99003-992-2
Erscheinungsdatum: 22.03.2012
Schriftsteller Bodo scheint mit Sara das Liebesglück gefunden zu haben, und sein Roman entwickelt sich prächtig. Wäre da nicht diese seltsame, blonde Frau, die immer wieder und immer öfter in Bodos Leben auftaucht und erstaunlich viel über sein Leben zu wissen scheint ... Teil 2 des Romanes „Die Schicksalsweberin“ rund um Liebe und Schicksal.
<strong>16.</strong>

Die Hände vor den Kopf geschlagen, saß Bodo auf dem Pflanzentrog; sein Oberkörper wiegte hin und her, wie in Trance. Kalter Schweiß rann über seinen Rücken. Die Welt hing verzerrt vor seinen Augen, alles war zur Unkenntlichkeit verschwommen. Die Lippen fühlten sich rissig an. Sein Herz pochte nicht, es schmerzte nur noch. Er konnte nicht denken, und wenn er es tat, tat es weh. Sein Schädel drohte zu platzen.
„Nein … nein … nein …“, murmelte er völlig verzweifelt mit röchelnder Stimme. Er fühlte nichts mehr, alles war tot und leer. Wieder und wieder fuhr er mit den Händen über seinen Kopf, preßte sie zusammen, als könnte er durch den Druck von außen den Schmerz im Innern verkleinern.
Eine Krankenschwester blieb vor ihm stehen, bückte sich und fragte besorgt, ob alles in Ordnung sei. Bodo hörte sie nicht, er nickte einfach. Sie ging weiter, schaute aber mehrere Male verunsichert zurück.
Die nahe Kirchturmglocke schlug zehnmal. Bodo hob den Kopf und blickte zur Straße.
„Jetzt …“, flüsterte er, „… jetzt …“ Und ein Taxi fuhr langsam vor den Eingang und hielt an. Der Fahrer stieg aus und ging hinein.
„Drei Minuten, vielleicht vier …“, murmelte Bodo und starrte die elektrische Schiebetür an. Ein paar Minuten später ging sie auf, und der Taxifahrer kam heraus. Er trug eine Sporttasche. Peers Sporttasche. Und neben ihm ging Peer.
„Oh nein …“, gab Bodo erneut von sich, und eine Welle der Übelkeit rollte durch seinen Körper. Sein Kreislauf drohte zu kollabieren.
Der Mann, der da neben dem Taxifahrer auf das Auto zuging, war seine Romanfigur. Es war Peer. Sein Gang, seine Frisur, seine Züge, sogar die Jogginghose, die er trug; alles stimmte wieder bis ins kleinste Detail. Peer hinkte noch ganz leicht. Und an seinem rechten Unterarm sah Bodo deutlich die Narbe. Peer schaute sich um.
„Du suchst Cemal, ich weiß es …“, flüsterte Bodo. Der Taxi­fahrer öffnete die Tür, und Peer stieg ein. Der Chauffeur ging um den Wagen, nachdem er die Tasche im Kofferraum verstaut hatte, und stieg ebenfalls ein. Der Motor sprang an, und das Taxi fuhr weg.
Bodo schaute an dem Krankenhaus nach oben, tastete mit den Blicken die unzähligen Fenster ab, die nur den leicht wolkigen Himmel spiegelten.
„Irgendwo da oben stehst du, Ayse, und schaust ihm nach …“, kam seine leise Stimme wie von selbst. Er war nicht mehr bei Sinnen, sein Körper schien fremd; seine Finger waren eiskalt.
„Was geschieht hier?“ murmelte er und versuchte, aufzustehen, sackte aber gleich wieder zusammen. In seinem Kopf dröhnte der Verkehrslärm unerträglich laut, die Stimmen der Vorbeigehenden waren wie Schreie in seinen Ohren; das Sonnenlicht blendete und war viel zu grell. Bodo kniff die Augen zusammen und preßte seinen Kopf mit beiden Händen zusammen. Er mußte weg. Erneut versuchte er, aufzustehen – und realisierte erst gar nicht, daß Hände ihn stützten, ihm unter den Arm griffen und ihm halfen. Seine Beine waren weich wie Butter und sein Kopf zentnerschwer. Er drehte ihn leicht zur Seite und war zum ersten Mal an diesem Tag nicht überrascht, als er sah, wessen Hände ihn stützten.
Sie trug wie immer ein langes, fließendes Kleid in warmen Farben und schimmernden Stickereien. Ihre Füße steckten in Schnürsandalen; das Haar trug sie im Nacken zusammengeknotet, doch wie üblich hingen ihr einzelne Strähnen ins Gesicht. Das Amulett bewegte sich leicht über ihrer Brust.
„Kommen Sie, Bodo“, sagte Genoveva leise. „Ich bringe Sie zu Ihrem Wagen.“
Wie ein alter Mann vornübergebeugt, ging Bodo mit kleinen Schritten zum Auto. Ohne Genoveva hätte er die Strecke von wenigen Metern nie geschafft. Er spürte nicht, wie sie in seinen Hosen­taschen nach dem Schlüssel suchte und den Wagen aufschloß. Sie öffnete die Beifahrertür und hielt Bodo am Arm fest, als dieser sich auf den Sitz sinken ließ. Sie schloß sachte die Tür. Als sie auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte, beugte ­Genoveva sich über ihn, nahm seine Gurte und schnallte ihn an. Sie roch nach einer Mischung aus getrockneten Wiesenblumen.
Genoveva startete den Motor und wendete den Wagen auf der Straße. Direkt gegenüber stand ein parkiertes Auto. Und hinter dem Auto stand Cemal, Ayses Bruder, und beobachtete den Eingang des Spitals.
Vor Bodos Augen verschwamm erneut alles, und er tauchte weg. Sein Kopf knallte gegen die Scheibe, doch er fühlte nichts …
Sanfte Hände schubsten ihn, hielten seinen Oberarm und drückten ihn leicht. Kühl war die Scheibe an der Stirn.
„Bodo“, sprach eine Engelsstimme. „Bodo, wachen Sie auf.“
Aufwachen? Woraus aufwachen? Schlafe ich? Bodo sah weißen Nebel in unterschiedlicher Dichte, der um ihn herumschlich. Oben war er heller, unten schmiegte er sich an eine dunkle Fläche, als würde er über dem nachtschwarzen Meer gleiten. Das Rauschen in den Ohren paßte zum Meer. Bodo schlug die Augen auf. Es war dunkel, nein, diffuses Licht zeichnete Gegenstände gegen die Wand ab. Ein Regal, Kisten, ein Durcheinander. Es kam ihm alles bekannt vor. Er setzte sich auf, kniff die Augen zusammen und öffnete sie wieder. Farbige Punkte tanzten einige Sekunden vor ihm herum, dann sah er wieder das Regal; durch die Autoscheibe. Er saß im Auto. Vor ihm befand sich das Regal auf dem Parkplatz in der Einstellhalle. Er war zu Hause.
Wieder rüttelte die Hand an seiner Schulter. In Zeitlupentempo drehte er den Kopf zur Seite. Neben ihm saß Genoveva. Ihr Haar war etwas zerzaust, und blonde Zapfenlocken schmiegten sich an ihre Wange. Sie lächelte, die schmalen Lippen leuchteten zartrosa. Ihre Augen … Bodo blickte in eine unendlich weite Landschaft aus grünen Hügeln, blauem Himmel, der von kleinen weißen Wolken durchzogen war. Er wollte eintauchen in diese Welt, in diese Landschaft, sie wirkte so friedlich.
Ein Kribbeln ging durch seinen Körper. Das Amulett über seiner Brust fühlte sich heiß an, ansonsten fror er.
„Ich bringe Sie ins Haus, warten Sie, ich öffne Ihnen die Tür“, sagte Genoveva leise und stieg aus. Obwohl es nur schwach war, blendete das Licht der Innenraumbeleuchtung, als die Türe aufging. Genoveva ging um das Auto herum und öffnete seine Tür, vorsichtig, damit er nicht hinauskippte.
„Ich helfe Ihnen …“
Wieso helfen? Bin ich krank?
Bodo schwang die Beine aus dem Wagen und stand auf. Augenblicklich explodierte farbiges Feuerwerk, und das Rauschen in seinen Ohren wurde zum Tosen. Seine Beine sackten weg, und er torkelte vornüber. Genoveva fing ihn auf, und er sank in ihre Arme.
Oh, wie weich war der samtene Stoff ihres Kleides, und wie betörend ihr Duft …
Sie stützte ihn, und allmählich kehrte etwas Kraft in seine Beine zurück. Sie legte seinen Arm um ihre Schulter und griff ihrerseits um seine Taille. Als wäre er betrunken, führte sie ihn vom Wagen weg, schlug die Türe zu und ging mit ihm Schritt für Schritt in Richtung Ausgang.
Als sie ans Tageslicht kamen, zuckte Bodo erneut zusammen. Viel zu grell war das Licht, und das Sonnenlicht schien Löcher in seine Netzhaut zu brennen. Mühsam stiegen sie die Treppe hoch und betraten den schmalen Weg. Eine Nachbarin mit Hund kam ihnen entgegen und starrte ihn entgeistert an; womit für Gesprächsstoff in der Siedlung gesorgt war.
Es dauerte unendlich lange, bis sie sein Haus erreichten und die paar Stufen zum Eingang hinunterstiegen. Genoveva sperrte auf und geleitete ihn hinein. Vorsichtig führte sie ihn ins Wohnzimmer, wo er sich auf das Sofa sinken ließ. Genoveva ging und schloß die Haustür.
Die Geborgenheit in seinen vier Wänden begrüßte ihn wie ein Hund, der beim Nachhausekommen sein Gesicht leckte. Es war still und kühl und das Licht angenehm mild.
Genoveva setzte sich in den Korbstuhl ihm gegenüber und schlug die Beine übereinander. Die Schnürsandalen mit den dünnen Riemchen um die Fesseln ließen ihre Beine noch länger erscheinen. Sie schaute ihn an und schwieg. Bodo ließ sich seitlich auf das Sofa sinken, er mußte liegen.
„Sara …“, murmelte er, ohne zu wissen, warum.
„Sie ist unterwegs, sie wird gleich hier sein“, antwortete ­Genoveva, und er verstand nicht, wieso.
„Was ist geschehen?“ fragte er kaum hörbar. Sein Puls ging flach, er fröstelte, und seine Lippen schienen geschwollen.
„Sie sind wohl kurz ohnmächtig geworden“, erklärte sein Gegenüber; aber das war gar nicht das, was er wissen wollte.
„Nein, ich meine davor …“
Genoveva erhob sich, öffnete die Terrassentür und schien in dem schwachen Luftzug, der ins Haus wehte, gleich zu schweben. Sie zog das Samtband aus ihren Haaren und lockerte sie mit einem Kopfschütteln. Dann schaute sie ihn an und lächelte, und wieder war es Bodo, als würde sie ihn unter Strom setzen.
„Was davor war?“ wiederholte sie seine Frage. „Ich denke, Sie wissen genau, was passiert ist, nur haben Sie noch nicht akzeptiert, daß es Wirklichkeit ist …“
In diesem Moment hörte er Schritte, die Türe ging auf, und Sara stolperte herein, den Motorradhelm unter dem Arm. Als sie ihn auf dem Sofa liegen sah, kreideweiß, mit an den Körper gezogenen Beinen, die Hände zwischen die Schenkel geklemmt, ließ sie den Helm scheppernd fallen und rannte zu ihm.
„Oh nein, Bodo! Was ist passiert?“ Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen rutschte sie zu ihm und kniete vor dem Sofa. „Was ist passiert, Bodo?“
Ihre sanften Hände strichen über seinen Kopf, über seine Wange. Er lächelte gequält und wußte nicht, was er antworten sollte.
Sara schnellte herum und blitzte Genoveva zornig an: „Was ist mit ihm? Reden Sie!“
Sie war wütend. Aus irgendeinem Grund war sie wütend auf Genoveva. Genaugenommen war es jedoch gar nicht Wut; sie hatte Angst. Selbst wenn sie Bodo noch nicht lange kannte, wußte sie, daß etwas gar nicht stimmte. Er zitterte am ganzen Körper, seine Haut war beinahe durchsichtig, die Lippen blau und rissig und die Wangen eingefallen; er wirkte, als wäre er um Jahre gealtert. Das Schlimmste aber waren seine Augen. Sie waren leer, jeglicher Glanz war aus ihnen gewichen, und sie starrten geradeaus ins Nichts, als würden seine Blicke irgendwo ­etwas suchen. Er machte ihr Angst, und diese Angst projizierte sie in Form von Wut auf Genoveva.
Genoveva lächelte, nicht überheblich, nicht verharmlosend, und obwohl Sara überzeugt war, dieses Lächeln müßte sie noch rasender machen, beruhigte es sie. Sara brauchte keine Erklärung, um zu wissen, daß Genoveva sie angerufen hatte, bevor das, was passiert sein mußte, geschehen war. Sie wußte auch, daß diese Frau ihre Telefonnummer einfach kannte, auch wenn sie ihr nie gegeben wurde. Und aus dem gleichen Grund war sie auch nicht erstaunt, daß Genovevas Lächeln sie beruhigte.
„Ich schulde Ihnen beiden eine Erklärung“, begann die blonde Frau mit leiser Stimme zu sprechen. Erst jetzt fiel Sara das Kleid auf, das in dieser Zeit wie fremd wirkte. Das hatte Bodo gemeint, als er von Genoveva erzählt hatte. Damals bei der Lesung in der Buchhandlung hatte Sara sie nicht wirklich wahrgenommen, doch jetzt erkannte sie die Frau aus Bodos Schilderungen wieder. Etwas war so anders an ihr. Sie war wunderschön, und selbst Saras Herz schlug höher, wenn sie sie anschaute. Sie bewegte sich elfenhaft, schien zu schweben, und sie strahlte eine unglaubliche Wärme, ein Licht aus. Genoveva wirkte, als wäre sie nicht menschlich. So muß ein Engel sein, dachte Sara und hätte beinahe gekichert bei dem Gedanken.
Genoveva setzte sich in den Korbstuhl. Erst jetzt bemerkte Sara das Amulett, das an einem dünnen Lederband zwischen ihren Brüsten, über dem dünnen Stoff des Kleides hing. Es war genau dasselbe wie Bodos.
„Ich verspreche Ihnen, daß ich viele Ihrer Fragen beantworten werde“, sprach sie weiter. Sie hatte bewußt Saras Staunen nicht durchbrochen. „Leider werden wohl dadurch wieder sehr viele neue Fragen entstehen, das läßt sich nicht vermeiden.“ Sie schaute Bodo an, der die Augen geschlossen hielt. „Ich möchte Sie aber noch um etwas Geduld bitten, auch wenn das viel verlangt ist, doch es wäre sinnlos, jetzt mit meinem Wissen an Sie zu gelangen. Bodo scheint mir sehr erschöpft, und ich möchte ihn nicht überfordern. Es wäre besser, wenn er etwas schlafen würde. Ich kann hier bleiben und würde es sehr schön – und auch wichtig – finden, wenn Sie, Sara, auch bleiben könnten. Morgen werde ich Ihnen alles erzählen.“
„Selbstverständlich bleibe ich hier!“ gab Sara resolut zurück. „Ich lasse Bodo auf keinen Fall alleine. Aber ich möchte trotzdem wissen, was ihm fehlt, ob er Hilfe braucht.“ Sie schaute ­Genoveva herausfordernd an.
„Es geht ihm soweit gut“, besänftigte diese. „Es ist ihm nichts passiert. Er hat etwas gesehen, erlebt, das seine Emotionen zu stark belastet hat und sie sich deshalb die Kraft aus dem Körper geholt hatten. Jetzt ist er erschöpft.“
Sara mußte sich mit dieser Erklärung zufriedengeben, das spürte sie. Sie hielt Bodos kalte Hände und schaute ihn zärtlich an.
„Soll ich dich nach oben ins Bett bringen?“ fragte sie leise.
Anfänglich reagierte er gar nicht, dann schüttelte er matt den Kopf.
„… schlafen“, murmelte er kaum hörbar, „ich möchte … schlafen.“
Sara zog ihm sachte die Schuhe aus und griff nach der Baumwolldecke, die neben Genovevas Stuhl lag. Sie deckte Bodo zu und kniete sich wieder hin. Da entdeckte sie die Kaffeetasse, die halb unter dem Sofa lag, und den verschütteten Kaffee. Er war schon eingetrocknet, dennoch ging sie in die Küche, holte eine kleine Schüssel Wasser und einen Lappen und versuchte, den Kaffee aus dem Teppich zu tupfen. Sie tat dies beinahe automatisch, obwohl dieser Fleck im Moment eigentlich völlig bedeutungslos war.
Genoveva schaute ihr zu.
„Sie sind das Licht in seinem Leben …“, sagte sie beinahe singend. Sara begriff erst gar nicht, dann schaute sie Genoveva verwundert an. „Er liebt Sie mehr, als viele Menschen überhaupt fähig sind, zu lieben.“
„Ich … ich liebe ihn auch …“, flüsterte Sara und spürte, daß sie gar nicht anders als offen zu dieser Frau sein konnte. ­Genoveva schien ohnehin in sie hineinblicken zu können.
„Ja, das tun Sie“, lächelte sie. „Sie würden staunen, wenn Sie wüßten, wie wenige Menschen es auf der Welt gibt, die sind wie Sie zwei.“
„Wie meinen Sie das?“ fragte Sara verwirrt.
„Nehmen wir mal an, der Mensch wäre eine große, grüne Wiese, und die Liebe wäre die Blumen darin. Bei den meisten wäre die Wiese vielleicht mit ein, zwei Sorten Blumen verziert. Doch schaue ich Sie zwei an, dann sehe ich eine bunte, vielfältige Pracht, ein Blumenmeer, und entdecke darin seltene, kost­bare Blüten, die es fast nirgendwo mehr zu sehen gibt.“
Sara lächelte unweigerlich und sah, wie Genovevas Metapher vor ihr bildlich sichtbar wurde. Der Vergleich und die Art, wie Genoveva ihn beschrieb, erfüllten sie mit unbeschreib­licher Wärme.
„Woher wissen Sie das?“ wollte sie wissen.
„Das“, lächelte Genoveva vielsagend, „bleibt noch einen Moment mein Geheimnis …“
Bodo kam es vor, als würde er in einer Flüssigkeit dahintreiben. Sie war klar und weich wie Wasser, aber viel zähflüssiger, cremiger. Sie trug ihn mühelos, und dennoch tauchte er immer wieder ein und wurde von ihr aufgenommen. So schwankte er zwischen Wachzustand und dämmrigem Schlaf. Manchmal hörte er die beiden Frauen sprechen, doch ihre Stimmen klangen wie leiser Gesang; dann wiederum tauchte er weg und träumte. Er war ein Vogel, der mit großen Schwingen lautlos über den Himmel schwebte. Unter ihm war die Welt klein und buntgefleckt, hin und wieder zogen Wolken an ihm vorbei. Dann wiederum sah er den Vogel, sich, von unten, wie er majestätisch über der Erde kreiste. Es war ein schöner Zustand. Er fühlte sich so leicht, so schwerelos, und nichts betrübte ihn.
Der Wind strich um seine Flügel und pfiff leise, wirbelte durch die Federn und schien eine leise Melodie zu spielen. Eine weiße, weiche Wolkenwand türmte sich vor ihm auf, und er glitt in sie hinein, wurde von ihr verschluckt. Bodo schlief ein.
Plötzlich fühlte er sich wie von einem Luftstoß hochgehoben, er trudelte eine Sekunde unkontrolliert, dann schraubte er sich höher und höher, doch die Wolkenmasse verließ er nicht. Er blieb in ihr watteweiches Inneres gekuschelt, und er wollte diese Geborgenheit gar nicht mehr verlassen.
Irgendeinmal im Laufe der Nacht erwachte Bodo und fand sich zuerst nicht zurecht. Die weiche Wolke hüllte ihn immer noch ein, und es dauerte einige Sekunden, bis ihm bewußt wurde, daß es die Bettdecke war, die sich an ihn schmiegte. Und Sara, die neben ihm lag. Sie atmete ruhig, und im schwachen Schein, der durch das Dachfenster fiel, schimmerte ihr Haar ganz leicht. Ihre Hand lag auf seinem Oberarm, als wollte sie ihn festhalten. Bodos Lider zuckten, und er schloß die Augen wieder. Er dachte an nichts, und das war gut so – und schlief wieder ein.
Helles, warmes Licht flutete das Schlafzimmer, als Bodo erwachte und die Augen aufschlug. Das Bett neben ihm war leer, und für einen ganz kurzen Moment war es wie immer, wenn er alleine in seinem Bett erwachte. Dann fiel ihm alles wieder ein. Der Zeitungsartikel, der den Unfall Peers schilderte, seine hektische Fahrt in die Stadt und die Begegnung mit Peer, seiner Romanfigur, und dann Genovevas Erscheinen. Sie hatte ihn nach Hause gefahren, wo wenig später Sara eingetroffen war, dann war er eingeschlafen.
Sofort hellwach, schlug Bodo die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Er trug seine Jogginghose; Sara mußte ihn ausgezogen haben. Ohne Zwischenhalt im Badezimmer stieg er die Treppe hinunter und entdeckte Sara und Genoveva auf der Terrasse. Er war nicht erstaunt, daß Genoveva noch hier war, und nahm an, daß Sara ihr das Gästebett im oberen Zimmer bereitgemacht hatte. Falls sie überhaupt geschlafen hatte. Im Moment würde es ihn überhaupt nicht überraschen, wenn Genoveva gar nicht schlafen mußte. Die beiden Frauen saßen am Tisch vor einer Tasse Kaffee und schauten ihn erfreut, aber auch prüfend an, als er auf die Terrasse trat.
Sara sprang sofort auf und schloß ihn in die Arme. Sie drückte ihn an sich, und er spürte ihr Herz, das wild klopfte.
„Guten Morgen, wie geht es dir?“ fragte sie besorgt.
Bodo strich durch ihr duftendes Haar und atmete die Mischung aus ihrem Duft und dem Geruch des warmen Sommermorgens ein.
„Es geht mir gut“, murmelte er und fügte bei: „Mir fehlt nichts … außer Antworten.“
Die letzten Worte hatte er an Genoveva gerichtet, die stumm nickte.
„Ich hole dir eine Tasse Kaffee, möchtest du?“ Sara streichelte unablässig seinen Rücken.
„Ja, sehr gerne.“ Seine Stimme war noch etwas heiser und sein Körper noch nicht ganz wach. Er ließ sich in den Stuhl gegenüber Genoveva fallen.
„Haben Sie gut geschlafen?“ wollte sie wissen.
„Ja, danke. Und Sie? Oder haben Sie gar nicht geschlafen?“
„Oh doch“, lächelte Genoveva vielsagend. „Sara war so freundlich und hat mir das Gästebett bereitgemacht. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.“ Bodo schüttelte den Kopf. „Ich muß auch schlafen, genau wie Sie auch – und ich habe gut geschlafen.“ Sie lehnte sich zurück. „Ihr Haus hat eine sehr entspannende ­Atmosphäre …“

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