Die geheimnisvolle Reise eines Sandkorns

Die geheimnisvolle Reise eines Sandkorns

Marco Pomerio


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 52
ISBN: 978-3-99064-514-7
Erscheinungsdatum: 13.02.2019

Leseprobe:

Der dunkle Felsen



Es war einmal ein Sandkorn, geboren in der Wärme der Welt. Heiß wurde es erschaffen, tief unten im Schlund. Dort, wo immer Feuer und Hitze ist.
Und es ist ein Sandkorn entstanden, umgeben von vielen anderen Sandkörnern, oben und unten, rechts und links, überall. Eng liegen sie beieinander, gepresst, zusammengepfercht. Heiß ist es, beengt und dunkel, schwärzer als die Nacht. Zusammen bilden die Sandkörner das Gestein. Anfangs bewegen sie sich noch ein bißchen hin und her. Sie spüren sich und halten einander, halten einander fest, immer fester, denn es ist dunkel. So fällt das Sandkorn in einen langen tiefen Schlaf. Ab und zu geht ein Knirschen durch die Reihen, vielleicht ein Ächzen. Es kommt von weit her. Manchmal tönt es tief und manchmal lang. Und dann erwacht das Sandkorn. Es fragt sich überrascht und neugierig, was das wohl sein könnte. Es sucht den Kontakt zu seinen Geschwistern, den anderen Sandkörnern ringsum. Aber nichts hat sich verändert. Seine Geschwister sind bei ihm und halten es ganz fest, wie immer. Und beruhigt fällt es wieder in seinen langen und tiefen Schlaf. Manchmal gibt es auch einen Ruck oder ein Ruckeln, und das Sandkorn erwacht kurz. Und alle halten einander. So ist es schon eine lange Zeit, so ist es immer gewesen.
Im Laufe der Jahre wird es dem Sandkorn jedoch kälter. Es wird mit seinen Geschwistern langsam, fast unmerklich, aus der Tiefe nach oben befördert. Es ist im riesigen Gebirge in der Mitte der Welt, mittendrin.
Eines Tages ächzt es im riesigen Felsen. Tief unten hört es einen Aufschrei: „Ah! Was passiert? Halt mich fest! Wo bist du, wo seid ihr?“ Das Sandkorn erschrickt und fragt: „Was ist passiert? Wer ruft da?“ Doch niemand antwortet. Seine Frage wird von den Geschwistern an die anderen Sandkörner weitergegeben, die sich nicht weiter darum kümmern. Es bewegt sich wie eine Welle durchs Gestein, die Worte werden von Sandkorn zu Sandkorn weitergeflüstert, in alle Richtungen. Und dann kommt von weit oben eine Antwort: „Welcher Naseweis will das wissen?“ Das Sandkorn weiß aber nicht, was ein Naseweis ist und daß es selber gemeint ist. Also schläft es wieder ein, nachdem das Ächzen des Steines aufgehört hat. Mit dem Gedanken, dass alles gut ist, alle Geschwister da und ihm nah sind, so wie immer, beruhigt es sich.
Und als der Berg größer wird, entstehen in ihm kleine Risse und große Spalten. An einigen Orten entstehen Hohlräume und an anderen werden sie geschlossen. Doch eines Tages zieht es von einer Seite am Sandkorn. Es erwacht erschrocken. So etwas hat es noch nie gespürt. Seine Geschwister ziehen auf der einen Seite immer fester.
„Halt uns fest“, hört es rufen. „Ja, was zieht ihr so?“ - „Keine Ahnung, aber die hinter mir ziehen so fest.“ - „Halt mich!“ Und das junge Sandkorn hält sich fest, es klammert - doch nicht genug. Seine Geschwister auf der einen Seite bewegen sich mit einem Ruck plötzlich von ihm weg. Ein kleiner Riß entsteht. Das ist neu für das Sandkorn. Es fühlt sich so eigenartig fremd an. Es ist nicht mehr so eng. Irgendwie etwas freier. Es spürt auf dieser Seite etwas Neues, ein Hauch Wärme zieht an ihm vorbei. „Oh!“, seufzt es, „das habe ich noch nie erlebt. Es ist wie ein Kuß oder Streicheln. Es streichelt mich.“ Es fragt: „Wo seid ihr? Seid ihr noch da? Was ist denn? Warum drückt und preßt ihr zuerst, dann zieht ihr und dann laßt ihr mich los und es kommt Wärme, die sanft ist und nicht drückt.“ - „Kind“, brummt es von oben, einem Älteren, zu ihm herab, „Kind, wir sind schon lange hier und warten alle. Und ab und zu bewegt sich was. Manchmal ganz langsam, manchmal ganz schnell.“ - „Worauf wartet ihr?“, fragt das Sandkorn. „Wir warten auf die Reise.“
Das Sandkorn hört das, aber versteht nicht. „Was soll das denn sein, eine Reise?“, denkt es. Nicht lange beschäftigt es dies, und gestreichelt vom warmen Hauch schlummert es schon nach einer Weile wieder ein.
Ruckartig prallen plötzlich seine Geschwister, die sich doch kürzlich entfernt hatten, wieder auf das Sandkorn. „He! Was ist denn? Warum drückt ihr so?“ - „Wir können nicht anders. Die hinten stoßen so fest“, antworten die anderen. Und das Gestein beruhigt sich wieder. „Ah, du bist es, Bruder. Ich wußte, dass du nicht weit weg warst. Aber gespürt habe ich dich nicht mehr. Aber da war was anderes, wie ein Hauch, so warm und sanft.“ - „Ja, ich bin hier. Und das ist mir auch passiert. Hier an der Stelle, wo du früher warst und jetzt wieder bist, hat mich auch was gestreichelt. Es war so schön. Aber noch schöner ist es, dich wieder zu halten. Komm her! Ich drück dich“, ruft ihm sein Bruder zu. Und der Spalt ist wieder fest verschlossen. „Etwas mehr Haltung da unten, wenn ich bitten darf!“, hören sie von weit oben rufen und die Worte werden von Sandkorn zu Sandkorn weitergegeben bis hinunter zum letzten. „Laßt uns in Ruhe schlafen! Drängelt nicht! Seid nicht so aufgeregt und vorwitzig! Eure Zeit wird schon noch kommen. Es ist normal, gedrückt und gezogen zu werden. Wir machen das schon viele Jahre mit.“ - „Gehört das dazu?“, fragt das Sandkorn. „Ja.“, antwortet es von oben. „Du bist noch jung, aber nicht mehr ganz jung. Neue Brüder kommen nach. Sie sind weiter unten. Sie tragen dich und heben dich.“ - „Ja, stimmt. Es müssen ganz viele sein. Die schlafen alle.“ - „Ja, das tut man als Sandkorn im Felsen. Und warten und schweigen!“ - „Und du, was machst du so? Ist es bei dir auch so eng? Wurdest du auch schon mal gestreichelt? Oder klammern sich deine Brüder auch so fest an dich?“ - „Bei uns Älteren ist es nicht mehr so eng und warm. Wir warten. Viele schlafen. Ich hoffe darauf, eines Tages gestreichelt zu werden, wenn ich auf die Reise gehe oder vielleicht schon davor. Meine Brüder hier sind bei mir. Die wünschen sich dasselbe. Aber die Alten über mir werden immer weniger.“ - „Warum?“ - „Die Jungen werden unten erschaffen, wo es heiß ist. Die Alten sind oben, wo es kalt ist. Es werden immer weniger. Ein paar sind noch da, aber die anderen sind auf die Reise gegangen.“ - „Was?“ - „Auf die Reise!“ - „Was ist das?“ - „Sie sind unterwegs. Mir hat man gesagt, es ist ein Weg, den jeder von uns gehen muß. Jeder hat seinen eigenen Weg, den er alleine geht. Unvorstellbar nicht, einen Weg gehen und das ganz alleine? Etwas beängstigend auch. Aber auf alle Fälle etwas Neues. Aufregend, nicht? Es gibt seit alters die Erzählung, daß wir lange zusammen sind und dann auseinandergehen und neue Freunde finden. Andere, aber gleich wie wir. Und daß wir dann neue Erfahrungen machen. Kannst du dir das vorstellen? Du sprichst vom Gestreicheltwerden. Das kenne ich nicht. Und ich bin schon viel älter als du“, sagt das ältere Sandkorn, überlegt kurz und fährt nach einer Pause fort: „Das ist ungerecht. Aber jedem widerfährt etwas anderes zu einem anderen Zeitpunkt. Wir wissen es nicht. Wir hoffen nur, daß wir auf die Reise gehen.“ Dann schweigt das ältere Sandkorn oben. Nach einer Weile des Nachdenkens fährt es fort: „Vor langer Zeit, als ich die gleiche Frage gestellt hatte wie du, hat mir ein altes Sandkorn von oben geantwortet, dass wir uns eigentlich alle schon auf dem Weg befinden, zumindest ein bißchen. Von unten nach oben. Von der Hitze in die Kälte. Merkst du schon, daß es nicht mehr so heiß ist?“ - Das Sandkorn antwortet darauf: „Ja, ich merke es. Ich dachte immer, die Hitze ginge von uns weg und nicht umgekehrt. Wo ist denn der Alte? Laß uns auch ihn fragen!“ Das ältere Sandkorn entgegnet: „Ja. Vor vielen Jahren wäre das möglich gewesen. Nun geht es nicht mehr. Der Alte ist schon vor langer Zeit auf die Reise gegangen.“ - „Wohin?“ - „Weg.“ Beide schweigen gedankenversunken. Dann fährt das ältere Sandkorn fort: „Aber wir warten noch, bis wir auf die Reise gehen können. Irgendwann sind wir dran. Früher, vor vielen Jahren, war ich da, wo du jetzt bist, und davor war ich noch viel weiter unten. Ich gehe eigentlich immer höher. Und du auch. Du bist, seitdem du da bist, auch auf dem Weg - wenigstens ein bißchen.“ Und dem Sandkorn wird klar, daß sich etwas verändert hat. „Das mit dem warmen Streicheln, das ist schon sonderbar“, denkt es. „War das ein Vorbote dafür, daß es noch etwas anderes gibt als das, was ich kenne?“, fragt es sich. „Warum passiert das mir und auch noch vor dem Älteren da oben?“ Aber nach einer Weile fühlt es sich wieder bei seinen Geschwistern geborgen und nicht beengt. Seine Geschwister halten ihn fest und umschließen es. Es ist ruhig, wieder wie früher, so wie immer. Und es schläft wieder ein. Aber das Gespräch mit dem Älteren läßt es über die Jahre nicht los. „Die Jungen tragen die Alten!“, stellt das Sandkorn halblaut fest. Ein altes Sandkorn von oben hört es und antwortet: „Ja, aber auch du wirst getragen. Oder bist du das unterste Sandkorn?“ - „Nein.“ - „Also. Die Jungen tragen die Alten, und ihr Junge werdet getragen von den ganz Jungen. Und die Alten gehen auf die Reise.“ Dem Sandkorn wird plötzlich klar, daß es ja schon in die Jahre gekommen ist, obwohl es keine Ahnung hat von Tagen, Monaten, Jahren und Jahrhunderten. Aber es weiß auch, daß es alte, ältere, gleichalte, jüngere und ganz junge Sandkörner gibt. „Die da oben sind jedenfalls schon länger da als ich, und die da unten weniger lang. Wenn die ganz Jungen da unten vor einiger Zeit noch nicht da waren, aber ich schon, dann muß es doch heißen, daß die Älteren da oben schon da waren, bevor ich da war. Und die Alten müssen mal jung gewesen sein. Und es muß noch solche geben, die noch viel, viel älter sind als die Alten.“ Mit diesen Gedanken schläft das Sandkorn wieder ein.
Plötzlich geht ein Krachen durch das alte Gestein. Und polternd stürzt oben der Felsen in die Tiefe. „Es ist soweit: Wir begeben uns auf die Reise“, hört es die Alten noch rufen. „Es zieht an mir. Bruder, halte mich fest, ich will noch nicht“, ruft ihm sein Bruder über ihm noch zu. Und es klammert so gut es geht. „Ich kann mich nicht fester halten!“ - „Leb wohl, Bruder. Meine Zeit scheint nun gekommen. Ich geh auf eine Reise!“ - „Halten wir uns irgendwann wieder?“ - „Laß uns hoffen! Ich muß nun gehen! Ich bin gespannt! Alles Gute!“
Die Brüder werden auseinandergerissen, sie sind weg. Und dem Sandkorn wird plötzlich kalt. Es ist oben nackt. „Aber die Brüder an der Seite und unter mir, die sind noch da.“, beruhigt es sich. Es wird ihm bald wieder warm von oben, wo es jetzt entblößt liegt. Und zum ersten Mal spürt es die wärmenden Sonnenstrahlen auf sich. So frei, so schön, so warm, fühlt es sich an. Wenn die Sonne abends untergeht, wird es dem Sandkorn wieder kalt. Am nächsten Morgen, wenn die Sonne wieder aufgeht, wärmt es sich wieder auf. Und das Sandkorn freut sich, wenn die Sonne es morgens wieder berührt, es wieder warmküsst. „Mir ist so wohl. Es ist so schön, so eigenartig, frei und warm“, denkt es, „warm und kalt im Wechsel. Das war früher nicht. Da war alles über viele Jahre gleich warm. Wo die Alten jetzt wohl sind?“ So liegt das Sandkorn einige Zeit von der Sonne erwärmt. Es schläft, wenn es kalt ist, und ist wach, wenn es warm ist.










Der liebe Tropfen



Eines Tages weht ein sanfter Wind, und ein Wassertropfen legt sich auf das Sandkorn. „Ah, das habe ich noch nie erlebt. Vorher war ich oben unbedeckt, jetzt bedeckt mich etwas. Bedeckt wie früher, aber doch nicht gleich. Es fühlt sich so leicht an, anschmiegsam. Es deckt mich zu. Oh ist das schön!“, denkt es. „Wer bist du?“, fragt es den Wassertropfen. „Ich bin ein Wassertropfen, und früher bin ich eine Schneeflocke gewesen.“ - „Von wo bist du?“ - „Von oben. Herab bin ich gefallen. Ich wurde weit oben geboren, entstanden vor kurzer Zeit. Dann bin ich geschwebt, geflogen, bis ich Boden unter mir hatte, dann bin ich hierher gerollt. Und du?“ fragt der Wassertropfen. „Ach, ich bin eigentlich schon immer hier. Früher waren hier zwar die Alten. Aber die sind weg. Nun bin ich schon sehr lange hier“, sagt das Sandkorn. „Ich bin von tief unten, wo es heiß gewesen ist, und wurde hochgehoben, langsam, behutsam, über lange Zeit. Ich warte, bis auch ich auf die Reise kann.“ - „Wartest du schon lange?“ - „Seitdem ich auf die Welt gekommen bin. Ich habe bisher nur gewartet, aber schon einiges erlebt.“ Und das Sandkorn erzählt dem Wassertropfen stolz von der Tiefe, dem Druck des Gesteins, dem Windhauch des Felsrisses, den Gesprächen mit den anderen Sandkörnern und von der Wärme der Sonne. „Dann hast du schon viel erlebt“, antwortet der Wassertropfen. „Schade, finde ich, dass du so lange auf die Reise warten mußt. Ich bin gerade erst auf die Welt gekommen und sofort auf die Reise gegangen, ja quasi im Fluge erschaffen.“ - „Schön, daß du da bist. Du bist so anders. Bei uns sind die Jungen unten, aber bei euch sind die Jungen oben“, stellt das Sandkorn fest, um dann freudig auszurufen: „Und wir halten uns alle fest!“ - „Ja, schon komisch“, kommt es lachend aus dem Wassertropfen, „Ich bin von oben, und ich war nie so eng mit anderen zusammen wie mit dir, ich war eigentlich immer frei - und allein.“ Dann nach einem Moment des Schweigens fährt der Wassertropfen fort: „Ich weiß, daß es andere wie mich gibt. Manchmal haben wir uns in der Luft im Schweben berührt, eigentlich nur gestreift.“ Er überlegt einen Moment und sagt traurig: „Eigentlich bin ich immer alleine gewesen.“ - „Du bist für mich der einzige deiner Art“, antwortet das Sandkorn. „Gibt es noch mehr wie du?“, fragt das Sandkorn neugierig.

Der dunkle Felsen



Es war einmal ein Sandkorn, geboren in der Wärme der Welt. Heiß wurde es erschaffen, tief unten im Schlund. Dort, wo immer Feuer und Hitze ist.
Und es ist ein Sandkorn entstanden, umgeben von vielen anderen Sandkörnern, oben und unten, rechts und links, überall. Eng liegen sie beieinander, gepresst, zusammengepfercht. Heiß ist es, beengt und dunkel, schwärzer als die Nacht. Zusammen bilden die Sandkörner das Gestein. Anfangs bewegen sie sich noch ein bißchen hin und her. Sie spüren sich und halten einander, halten einander fest, immer fester, denn es ist dunkel. So fällt das Sandkorn in einen langen tiefen Schlaf. Ab und zu geht ein Knirschen durch die Reihen, vielleicht ein Ächzen. Es kommt von weit her. Manchmal tönt es tief und manchmal lang. Und dann erwacht das Sandkorn. Es fragt sich überrascht und neugierig, was das wohl sein könnte. Es sucht den Kontakt zu seinen Geschwistern, den anderen Sandkörnern ringsum. Aber nichts hat sich verändert. Seine Geschwister sind bei ihm und halten es ganz fest, wie immer. Und beruhigt fällt es wieder in seinen langen und tiefen Schlaf. Manchmal gibt es auch einen Ruck oder ein Ruckeln, und das Sandkorn erwacht kurz. Und alle halten einander. So ist es schon eine lange Zeit, so ist es immer gewesen.
Im Laufe der Jahre wird es dem Sandkorn jedoch kälter. Es wird mit seinen Geschwistern langsam, fast unmerklich, aus der Tiefe nach oben befördert. Es ist im riesigen Gebirge in der Mitte der Welt, mittendrin.
Eines Tages ächzt es im riesigen Felsen. Tief unten hört es einen Aufschrei: „Ah! Was passiert? Halt mich fest! Wo bist du, wo seid ihr?“ Das Sandkorn erschrickt und fragt: „Was ist passiert? Wer ruft da?“ Doch niemand antwortet. Seine Frage wird von den Geschwistern an die anderen Sandkörner weitergegeben, die sich nicht weiter darum kümmern. Es bewegt sich wie eine Welle durchs Gestein, die Worte werden von Sandkorn zu Sandkorn weitergeflüstert, in alle Richtungen. Und dann kommt von weit oben eine Antwort: „Welcher Naseweis will das wissen?“ Das Sandkorn weiß aber nicht, was ein Naseweis ist und daß es selber gemeint ist. Also schläft es wieder ein, nachdem das Ächzen des Steines aufgehört hat. Mit dem Gedanken, dass alles gut ist, alle Geschwister da und ihm nah sind, so wie immer, beruhigt es sich.
Und als der Berg größer wird, entstehen in ihm kleine Risse und große Spalten. An einigen Orten entstehen Hohlräume und an anderen werden sie geschlossen. Doch eines Tages zieht es von einer Seite am Sandkorn. Es erwacht erschrocken. So etwas hat es noch nie gespürt. Seine Geschwister ziehen auf der einen Seite immer fester.
„Halt uns fest“, hört es rufen. „Ja, was zieht ihr so?“ - „Keine Ahnung, aber die hinter mir ziehen so fest.“ - „Halt mich!“ Und das junge Sandkorn hält sich fest, es klammert - doch nicht genug. Seine Geschwister auf der einen Seite bewegen sich mit einem Ruck plötzlich von ihm weg. Ein kleiner Riß entsteht. Das ist neu für das Sandkorn. Es fühlt sich so eigenartig fremd an. Es ist nicht mehr so eng. Irgendwie etwas freier. Es spürt auf dieser Seite etwas Neues, ein Hauch Wärme zieht an ihm vorbei. „Oh!“, seufzt es, „das habe ich noch nie erlebt. Es ist wie ein Kuß oder Streicheln. Es streichelt mich.“ Es fragt: „Wo seid ihr? Seid ihr noch da? Was ist denn? Warum drückt und preßt ihr zuerst, dann zieht ihr und dann laßt ihr mich los und es kommt Wärme, die sanft ist und nicht drückt.“ - „Kind“, brummt es von oben, einem Älteren, zu ihm herab, „Kind, wir sind schon lange hier und warten alle. Und ab und zu bewegt sich was. Manchmal ganz langsam, manchmal ganz schnell.“ - „Worauf wartet ihr?“, fragt das Sandkorn. „Wir warten auf die Reise.“
Das Sandkorn hört das, aber versteht nicht. „Was soll das denn sein, eine Reise?“, denkt es. Nicht lange beschäftigt es dies, und gestreichelt vom warmen Hauch schlummert es schon nach einer Weile wieder ein.
Ruckartig prallen plötzlich seine Geschwister, die sich doch kürzlich entfernt hatten, wieder auf das Sandkorn. „He! Was ist denn? Warum drückt ihr so?“ - „Wir können nicht anders. Die hinten stoßen so fest“, antworten die anderen. Und das Gestein beruhigt sich wieder. „Ah, du bist es, Bruder. Ich wußte, dass du nicht weit weg warst. Aber gespürt habe ich dich nicht mehr. Aber da war was anderes, wie ein Hauch, so warm und sanft.“ - „Ja, ich bin hier. Und das ist mir auch passiert. Hier an der Stelle, wo du früher warst und jetzt wieder bist, hat mich auch was gestreichelt. Es war so schön. Aber noch schöner ist es, dich wieder zu halten. Komm her! Ich drück dich“, ruft ihm sein Bruder zu. Und der Spalt ist wieder fest verschlossen. „Etwas mehr Haltung da unten, wenn ich bitten darf!“, hören sie von weit oben rufen und die Worte werden von Sandkorn zu Sandkorn weitergegeben bis hinunter zum letzten. „Laßt uns in Ruhe schlafen! Drängelt nicht! Seid nicht so aufgeregt und vorwitzig! Eure Zeit wird schon noch kommen. Es ist normal, gedrückt und gezogen zu werden. Wir machen das schon viele Jahre mit.“ - „Gehört das dazu?“, fragt das Sandkorn. „Ja.“, antwortet es von oben. „Du bist noch jung, aber nicht mehr ganz jung. Neue Brüder kommen nach. Sie sind weiter unten. Sie tragen dich und heben dich.“ - „Ja, stimmt. Es müssen ganz viele sein. Die schlafen alle.“ - „Ja, das tut man als Sandkorn im Felsen. Und warten und schweigen!“ - „Und du, was machst du so? Ist es bei dir auch so eng? Wurdest du auch schon mal gestreichelt? Oder klammern sich deine Brüder auch so fest an dich?“ - „Bei uns Älteren ist es nicht mehr so eng und warm. Wir warten. Viele schlafen. Ich hoffe darauf, eines Tages gestreichelt zu werden, wenn ich auf die Reise gehe oder vielleicht schon davor. Meine Brüder hier sind bei mir. Die wünschen sich dasselbe. Aber die Alten über mir werden immer weniger.“ - „Warum?“ - „Die Jungen werden unten erschaffen, wo es heiß ist. Die Alten sind oben, wo es kalt ist. Es werden immer weniger. Ein paar sind noch da, aber die anderen sind auf die Reise gegangen.“ - „Was?“ - „Auf die Reise!“ - „Was ist das?“ - „Sie sind unterwegs. Mir hat man gesagt, es ist ein Weg, den jeder von uns gehen muß. Jeder hat seinen eigenen Weg, den er alleine geht. Unvorstellbar nicht, einen Weg gehen und das ganz alleine? Etwas beängstigend auch. Aber auf alle Fälle etwas Neues. Aufregend, nicht? Es gibt seit alters die Erzählung, daß wir lange zusammen sind und dann auseinandergehen und neue Freunde finden. Andere, aber gleich wie wir. Und daß wir dann neue Erfahrungen machen. Kannst du dir das vorstellen? Du sprichst vom Gestreicheltwerden. Das kenne ich nicht. Und ich bin schon viel älter als du“, sagt das ältere Sandkorn, überlegt kurz und fährt nach einer Pause fort: „Das ist ungerecht. Aber jedem widerfährt etwas anderes zu einem anderen Zeitpunkt. Wir wissen es nicht. Wir hoffen nur, daß wir auf die Reise gehen.“ Dann schweigt das ältere Sandkorn oben. Nach einer Weile des Nachdenkens fährt es fort: „Vor langer Zeit, als ich die gleiche Frage gestellt hatte wie du, hat mir ein altes Sandkorn von oben geantwortet, dass wir uns eigentlich alle schon auf dem Weg befinden, zumindest ein bißchen. Von unten nach oben. Von der Hitze in die Kälte. Merkst du schon, daß es nicht mehr so heiß ist?“ - Das Sandkorn antwortet darauf: „Ja, ich merke es. Ich dachte immer, die Hitze ginge von uns weg und nicht umgekehrt. Wo ist denn der Alte? Laß uns auch ihn fragen!“ Das ältere Sandkorn entgegnet: „Ja. Vor vielen Jahren wäre das möglich gewesen. Nun geht es nicht mehr. Der Alte ist schon vor langer Zeit auf die Reise gegangen.“ - „Wohin?“ - „Weg.“ Beide schweigen gedankenversunken. Dann fährt das ältere Sandkorn fort: „Aber wir warten noch, bis wir auf die Reise gehen können. Irgendwann sind wir dran. Früher, vor vielen Jahren, war ich da, wo du jetzt bist, und davor war ich noch viel weiter unten. Ich gehe eigentlich immer höher. Und du auch. Du bist, seitdem du da bist, auch auf dem Weg - wenigstens ein bißchen.“ Und dem Sandkorn wird klar, daß sich etwas verändert hat. „Das mit dem warmen Streicheln, das ist schon sonderbar“, denkt es. „War das ein Vorbote dafür, daß es noch etwas anderes gibt als das, was ich kenne?“, fragt es sich. „Warum passiert das mir und auch noch vor dem Älteren da oben?“ Aber nach einer Weile fühlt es sich wieder bei seinen Geschwistern geborgen und nicht beengt. Seine Geschwister halten ihn fest und umschließen es. Es ist ruhig, wieder wie früher, so wie immer. Und es schläft wieder ein. Aber das Gespräch mit dem Älteren läßt es über die Jahre nicht los. „Die Jungen tragen die Alten!“, stellt das Sandkorn halblaut fest. Ein altes Sandkorn von oben hört es und antwortet: „Ja, aber auch du wirst getragen. Oder bist du das unterste Sandkorn?“ - „Nein.“ - „Also. Die Jungen tragen die Alten, und ihr Junge werdet getragen von den ganz Jungen. Und die Alten gehen auf die Reise.“ Dem Sandkorn wird plötzlich klar, daß es ja schon in die Jahre gekommen ist, obwohl es keine Ahnung hat von Tagen, Monaten, Jahren und Jahrhunderten. Aber es weiß auch, daß es alte, ältere, gleichalte, jüngere und ganz junge Sandkörner gibt. „Die da oben sind jedenfalls schon länger da als ich, und die da unten weniger lang. Wenn die ganz Jungen da unten vor einiger Zeit noch nicht da waren, aber ich schon, dann muß es doch heißen, daß die Älteren da oben schon da waren, bevor ich da war. Und die Alten müssen mal jung gewesen sein. Und es muß noch solche geben, die noch viel, viel älter sind als die Alten.“ Mit diesen Gedanken schläft das Sandkorn wieder ein.
Plötzlich geht ein Krachen durch das alte Gestein. Und polternd stürzt oben der Felsen in die Tiefe. „Es ist soweit: Wir begeben uns auf die Reise“, hört es die Alten noch rufen. „Es zieht an mir. Bruder, halte mich fest, ich will noch nicht“, ruft ihm sein Bruder über ihm noch zu. Und es klammert so gut es geht. „Ich kann mich nicht fester halten!“ - „Leb wohl, Bruder. Meine Zeit scheint nun gekommen. Ich geh auf eine Reise!“ - „Halten wir uns irgendwann wieder?“ - „Laß uns hoffen! Ich muß nun gehen! Ich bin gespannt! Alles Gute!“
Die Brüder werden auseinandergerissen, sie sind weg. Und dem Sandkorn wird plötzlich kalt. Es ist oben nackt. „Aber die Brüder an der Seite und unter mir, die sind noch da.“, beruhigt es sich. Es wird ihm bald wieder warm von oben, wo es jetzt entblößt liegt. Und zum ersten Mal spürt es die wärmenden Sonnenstrahlen auf sich. So frei, so schön, so warm, fühlt es sich an. Wenn die Sonne abends untergeht, wird es dem Sandkorn wieder kalt. Am nächsten Morgen, wenn die Sonne wieder aufgeht, wärmt es sich wieder auf. Und das Sandkorn freut sich, wenn die Sonne es morgens wieder berührt, es wieder warmküsst. „Mir ist so wohl. Es ist so schön, so eigenartig, frei und warm“, denkt es, „warm und kalt im Wechsel. Das war früher nicht. Da war alles über viele Jahre gleich warm. Wo die Alten jetzt wohl sind?“ So liegt das Sandkorn einige Zeit von der Sonne erwärmt. Es schläft, wenn es kalt ist, und ist wach, wenn es warm ist.










Der liebe Tropfen



Eines Tages weht ein sanfter Wind, und ein Wassertropfen legt sich auf das Sandkorn. „Ah, das habe ich noch nie erlebt. Vorher war ich oben unbedeckt, jetzt bedeckt mich etwas. Bedeckt wie früher, aber doch nicht gleich. Es fühlt sich so leicht an, anschmiegsam. Es deckt mich zu. Oh ist das schön!“, denkt es. „Wer bist du?“, fragt es den Wassertropfen. „Ich bin ein Wassertropfen, und früher bin ich eine Schneeflocke gewesen.“ - „Von wo bist du?“ - „Von oben. Herab bin ich gefallen. Ich wurde weit oben geboren, entstanden vor kurzer Zeit. Dann bin ich geschwebt, geflogen, bis ich Boden unter mir hatte, dann bin ich hierher gerollt. Und du?“ fragt der Wassertropfen. „Ach, ich bin eigentlich schon immer hier. Früher waren hier zwar die Alten. Aber die sind weg. Nun bin ich schon sehr lange hier“, sagt das Sandkorn. „Ich bin von tief unten, wo es heiß gewesen ist, und wurde hochgehoben, langsam, behutsam, über lange Zeit. Ich warte, bis auch ich auf die Reise kann.“ - „Wartest du schon lange?“ - „Seitdem ich auf die Welt gekommen bin. Ich habe bisher nur gewartet, aber schon einiges erlebt.“ Und das Sandkorn erzählt dem Wassertropfen stolz von der Tiefe, dem Druck des Gesteins, dem Windhauch des Felsrisses, den Gesprächen mit den anderen Sandkörnern und von der Wärme der Sonne. „Dann hast du schon viel erlebt“, antwortet der Wassertropfen. „Schade, finde ich, dass du so lange auf die Reise warten mußt. Ich bin gerade erst auf die Welt gekommen und sofort auf die Reise gegangen, ja quasi im Fluge erschaffen.“ - „Schön, daß du da bist. Du bist so anders. Bei uns sind die Jungen unten, aber bei euch sind die Jungen oben“, stellt das Sandkorn fest, um dann freudig auszurufen: „Und wir halten uns alle fest!“ - „Ja, schon komisch“, kommt es lachend aus dem Wassertropfen, „Ich bin von oben, und ich war nie so eng mit anderen zusammen wie mit dir, ich war eigentlich immer frei - und allein.“ Dann nach einem Moment des Schweigens fährt der Wassertropfen fort: „Ich weiß, daß es andere wie mich gibt. Manchmal haben wir uns in der Luft im Schweben berührt, eigentlich nur gestreift.“ Er überlegt einen Moment und sagt traurig: „Eigentlich bin ich immer alleine gewesen.“ - „Du bist für mich der einzige deiner Art“, antwortet das Sandkorn. „Gibt es noch mehr wie du?“, fragt das Sandkorn neugierig.

5 Sterne
LA FiESTA - 01.10.2023
Freudi

Das Buch liest sich sehr gut! Danke für den tollen Reisebericht.

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