Diaula und das Dorf am Hang

Diaula und das Dorf am Hang

Maya Grischin


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 298
ISBN: 978-3-99064-835-3
Erscheinungsdatum: 28.01.2020

Leseprobe:

Zürich, zwei Tage später, in meiner Studentenbude

Meine Kommilitonen saßen heute wie immer hinter dem Mikroskop und untersuchten ohne Widerrede die vom Professor vorgeschriebenen Pflanzen. Andere Gewächse interessieren sie kaum; denn sie haben nur ihre Karriere als Botaniker, Biologen, Apotheker oder wer weiß was vor Augen. Die Langeweile hatte mich wieder eingeholt.
Nutzpflanzen interessieren mich nicht besonders. Aber ich bewundere Unkraut schon seit meiner Kinderzeit – oder das, was man allgemein Unkraut nennt, die Parias und Überleber unter den Pflanzen. Sie passen sich fast überall in der Welt an, vermögen sich problemlos zu vermehren. Niemand kümmert sich um sie. Niemand weiß, woher sie kommen. Sie sind einfach da. Sie sind verfemt auf Acker, Feld und Garten, aber sie wachsen und blühen trotzdem; meistens verbreitet der Wind ihre Samen. Sie werden ausgerissen, ausgegraben, verflucht und mit Chemikalien bekämpft. Aber sie kommen immer wieder. Woher nur nehmen diese Ausgestoßenen die Kraft zum Überleben?


Zürich, drei Wochen später

Ich hatte daher einen langen und begeisterten Aufsatz über den Flughafer, die Avena fatua, geschrieben. Ich kenne ihn seit meiner Kinderzeit. Er sprießt überall. Der Flughafer hat längliche und haarige, spelzige und überaus zierliche Samenkörner. Die Pflanze ist vielleicht die Urform des Hafers; aber das weiß man nicht so genau. Er sprießt auch zwischen Steinen am Straßenrand und aus Ruinen in der ganzen Welt und wird als sehr lästiges Unkraut eingestuft.
Professor Stüssi, der alte glatzköpfige Pedant, hatte den Aufsatz mit saurer Miene auf den Tisch geklatscht und mir vorgeschlagen, mich nicht mehr vom Unkraut und dessen vermeintlicher Schönheit und Weltgewandtheit begeistern zu lassen, sondern mich endlich um Nutzpflanzen zu kümmern. Ich fühlte mich verstoßen wie der Flughafer.
Inmitten seiner Vorlesung verließ ich den Hörsal, stürmte nach draußen und ging schnurstracks in den Botanischen Garten, zückte mein altes Taschenmesser mit dem Schweizerkreuz, klappte die Klinge auf und ritsch, ratsch, ritsch, ratsch, köpfte ich ein großes Beet gelbe Tulpen. Ritschratsch, ritschratsch, ritschratsch. Die Tulpen fielen kreuzweise im Beet übereinander, wie die Berner Soldaten, Frauen und Kinder nach der heißen Schlacht am Grauholz, von den Franzosen niedergemetzelt – ein kläglicher Anblick! Daraufhin warf ich massenhaft Flughafersamen ins geschändete Tulpenbeet und drehte mit Daumen und Zeigefinger Samen aller möglichen Unkräuter, die ich gesammelt hatte, in die Erde und hoffte, sie mögen aufgehen und gedeihen und der Wind sie verbreiten.
Ich weiß, dass Tulpenköpfen eine hilflose Geste ist, denn eigentlich möchte ich lieber das herrschende, stinklangweilige, herzlose und ungerechte System brechen, wo keiner auf den anderen hört. Ich möchte gerne Randale machen, Parolen skandieren, Traktate verteilen, mit Studenten demonstrieren und schreien, mit angeschlagenem Gewehr durch die Uni laufen, Granaten und Molotowcocktails werfen und ihrer Explosion zuschauen, die Professoren an ihrem Blut ersticken sehen, Dynamit in Kinderwagen verstecken, Autos anzünden, unterwegs sein und schnelle Fluchten erleben, die Polizei mit Sirenen und Blaulicht hinterher.
Ich langweile mich endlos in den Cafés und in den Kneipen, und ich langweile mich auf Festen und ebenso, wenn ich mit jungen Männern rummache.
Es ist schwer, hier etwas in Gang zu bringen. Ältere Kommilitonen haben mir vom Juni 1968 erzählt, als der Rote Danny, einer der Rädelsführer der rebellischen Studenten in Frankreich, an der Uni Basel eine Brandrede hielt. Er wollte auch die Basler Studenten zur Revolte aufstacheln. Professoren und Studenten hatten an dem warmen Sommerabend ruhig zugehört und danach mit Bier und Würstchen friedlich zusammen gefeiert. Sie wunderten sich, was denn das Ganze soll! Ein Jurastudent, heute ein umstrittener Basler Lokalpolitiker, brachte es damals auf den Punkt:
„Wir leben und studieren hierzulande unter einer Glasglocke und uns geht es gut! Arbeit gibt es genug und wir können Geld verdienen, wenn wir nur wollen und schlau genug sind. Zwar scheint die Welt fertig zu sein, der Kuchen bereits verteilt und das Leben durch und durch reglementiert, aber das gibt den meisten hier keinen Grund, auf die Straße zu gehen, die Fäuste zu recken, Flugblätter zu drucken, Gras zu rauchen, nackt zu tanzen, zu gammeln und Kommunen zu gründen!“
Aber meine Kollegen – und vielleicht auch die Professoren, wer weiß – feiern bloß von Zeit zu Zeit wilde Feste und tun im Suff Dinge, die sie nüchtern niemals tun würden. Sie haben heimliche Gelüste, denen sie im Alltag aus Angst nicht nachgeben; innen ein faules Gebäude, halten sie sich außen sauber mit Seife, parfümieren sich mit Patschuli und billigem Rasierwasser oder mit Chanel Nr. 5. Sie wagen nicht, richtig zu leben; Ekstase ist ihnen ebenso fremd wie richtiges In-sich-Gehen. Aber am Samstagabend diskutieren Junge wie Alte, Frauen wie Männer, betrinken sich, streiten, verbessern am Kneipentisch die Welt und vögeln hinterher heimlich ihre Arbeitskollegen oder die Nachbarin. Am nächsten Tag wissen sie von nichts.
Sie bekommen in der Regel Kinder, die ebenso nett und intolerant sind wie sie. Sie glauben, dass sie links, liberal und fortschrittlich sind. Sie kümmern sich um nichts als um ihr eigenes Wohlergehen, machen Yoga, essen gesund und grillen am Sonntag. Sie pflegen ihre Gärtchen und ihre Bankkonten und Aktien. Ihre Häuser sind keimfrei. Auch in den Gärten wächst nicht das kleinste Unkraut. An den Nachmittagen häkeln die Frauen gestreifte Hüllen für die Sturmgewehre der Männer, natürlich in den Schweizer Landesfarben Rot und Weiß; wenn sie Bündner sind, in den Kantonsfarben Blau, Weiß, Grau, während die Kleinsten mit Rotznasen im Sandkasten hocken, einander Spielautos aus den Händen reißen, boshaft Sand in den Mund stopfen und kleine rote Eimer auf den Kopf hauen.
In Zürich, in Schaffhausen wie in Chur und anderswo ereifern sich die gutbürgerlichen Bewohner aber für die Skandale von Popidolen, Politikern, Fußballern und Filmstars, anstatt selber über die Stränge zu schlagen und im Rampenlicht der Kritik zu stehen. Sie tratschen und schimpfen in den Kneipen über die wüsten Ausschweifungen der langhaarigen Stars und der Jungen Linken im Ausland: Rock’n’Roll, wilden Sex und Kommunen, Raufereien und Drogen, alles, wovon sie selber begierig träumen, aber den Mut dazu im Alltag nicht aufbringen. Eigentlich lassen fast alle Einwohner unserer Gegend aus Bequemlichkeit das Leben an sich vorbeigehen. Risiko und Neues, anderes, ist ihnen ein Horror. Vor Fremdem machen die meisten einen Umweg. Deswegen sind die Bürgerinnen und Bürger hoch versichert für alle Zufälle des Lebens.
Aber eigentlich mag ich Chur! Es ist gemütlich in der ältesten Stadt der Schweiz mit all den romantischen Gässchen und Innenhöfen und den vielen lauschigen Biergärten und Cafés, und hier werden die besten Würste gemacht, das beste Brot der Welt gebacken und ein wunderbar süffiges, leicht bitteres Bier gebraut. Aber unser Städtchen ist für mich das Urbild einer Gesellschaft geworden, die nur durch andere lebt – durchs Kino, dem Schausport, der Zeitung, dem Fernsehen und dem Skandal. Ich erlebe viele Nachbarn als angepasste, feige und herzlose Kleingeister. Manchmal wachsen in den Häusern der verwinkelten Altstadt massenhaft übel riechende bräunliche Pilze aus den feuchten Zimmerwänden, ein Zeichen dafür, dass es auch drinnen in den Menschen muffig, feucht und faul ist.
Das alles hat sicher auch mit dem Klima zu tun. Wenn der Föhn, der warme Fallwind aus den Bergen, il fuogn, durchs Churer Rheintal weht und auf unsere Köpfe drückt, scheinen uns die Berge noch näher auf die Pelle zu rücken, und die Sicht in die Ferne ist glasklar. Aber der Föhn verursacht oft heftige Kopfschmerzen und treibt Leute immer wieder zu irrationalen Handlungen. Deswegen habe ich immer von der frischen Luft und den Leuten in Devonn, meinem Bergdorf am Hang, geträumt, obwohl ich weiß, wie hart das Leben da oben ist und Häuser und Träume im Winter tief im Schnee versinken. (Aber dort wohnt Kollegger, den ich wiedersehen möchte.) Mir dämmert, dass es wohl auch in Devonn wachsende Müllhalden gibt. Um wirklich Frieden und Klarheit zu finden, muss man mittlerweile schon sehr hoch in die Berge steigen und dabei auch die Trampelpfade meiden.


Zürich, Ende Juni 1975, Hitzewelle, die Füße in der Limmat

Der Asphalt in den Straßen kocht in der Hitze. Ich beschließe nach Devonn zu fahren, um Großvaters Wunsch nachzukommen. Der Zettel für Sigi Padrutt steckt zwischen den alten Briefen in meinem Rucksack. Ich möchte endlich Conradin und vor allem Kollegger wiedersehen und erfahren, was es mit der verschwundenen Madonna auf sich hat.


Kurz nach der Ankunft in Devonn

Das Postauto bog in die letzten staubigen Kehren am Hang. Am Weg tauchte der alte Bildstock mit dem gekrümmten Schmerzensmann auf, ein längst vertrockneter Feldblumenstrauß davor; dann der Hof des Bauern Devonas, einem fernen Verwandten, und schon stehe ich vor Großmutters Haus am kleinen Dorfplatz. Endlich wieder in Devonn!



… Ich setzte mich neben Gottfried Keller. Schnell versteckte er das Bild in seiner Gehrocktasche und musterte mich.
„Ich weiß! – Wir haben uns schon einmal getroffen“, sagte er, „vor Jahren“, und nach einer Weile fügte er hinzu:
„Du bist eine junge Frau geworden und gleichst Albert, deinem Großvater! Dieselbe Nase, derselbe musternde, arrogante Blick!“ Dann: „Ich bin wieder nach Devonn gekommen, um meine Gedanken zu sammeln für einen neuen Roman, den Arnold Salander!“
„Eine Fortsetzung vom Martin Salander?“, fragte ich neugierig.
Keller nickte, musterte mich lange, lächelte, dachte nach und wandte sich wieder an mich:
„Auch wir, liebes Kind, das heißt meine Generation, haben in unserer Jugend einen Rütlischwur getan. Auch wir wollten uns für die Demokratie im Land einsetzen. Aber was haben wir daraus gemacht, als der Alltag und die chronische Geldknappheit uns in die Zange nahmen? Leider haben wir die Gesetze verwirrt und gestört. Wir sind allmählich weit hinter unseren eigenen Ideen zurückgeblieben. Aber keine Staatsform, auch die Demokratie nicht, der schon wir in diesem Lande gehuldigt und die wir mit aufgebaut haben, schützt gegen den allgemeinen Egoismus, die Feigheit und die Habgier …“
„Schon zu Kellers Zeiten wurde in den Köpfen der Leute viel Kehrricht produziert“, stellte ich insgeheim fest.
„Auch deine Generation, die man die 68er nennt, scheint einen Eid geleistet zu haben, nämlich zu kämpfen für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, für sexuelle Freiheit und für mehr Mitspracherecht. Ob ihr aber unserer Demokratie damit wirklich dient, ist eine andere Frage … Seid nicht so schroff und überheblich zu uns, den gescheiterten Alten! Wenn euer ‚langer Marsch durch die Institutionen‘ kommt und ihr Kinder habt … wollt auch ihr Geld, Macht, Ruhm und Bequemlichkeit. Alles wird ausufern. Alles wird sich wiederholen!“, sagte der alte Keller aufgebracht und schlug irritiert mit seinem Spazierstock mehrmals in den Sand.
„Aber ihr drängt bereits auf mehr Mitspracherecht für alle!“, schimpfte er erbittert und wischte sich den Schweiß von der Stirn mit einem großen, nicht ganz sauber wirkenden Taschentuch.
„Absolute Demokratie! Unmöglich! Viel zu früh! Demagogen, Scharlatane und Populisten werden das Volk – wo jeder und jede mitreden, aber kaum über den eigenen Tellerrand hinaussehen kann – beeinflussen und verleiten und die Macht an sich reißen. Für einen neuen Rasenmäher, die Aussicht auf ein eigenes Häuschen, aus Angst um den Arbeitsplatz und das berufliche Fortkommen, auch der großen Furcht vor allem Fremden wegen, oder gar aus neuem, von verschlagenen Politikern angestacheltem Nationalstolz, wird sich der kleine Mann und die kleine Frau schließlich kaufen lassen. Geschäftstüchtige Bürger werden sogar bereit sein, die Alpen zu verkaufen! Der Sozialismus, den ihr jetzt predigt, wird sich dann ins Gegenteil verkehren und ihr werdet es zu spät begreifen!“
Das Taschentuch verschwand wieder in Kellers Hosentasche.
„Karl Marx in aller Munde! Rockmusik! Studentenunruhen! Mitspracherecht für alle! Und jetzt auch das Frauenstimmrecht! Gopfritstutz! Dazu ist dieses Land noch lange nicht reif! Deshalb darf eine Verfassung eigentlich nicht fortschrittlicher sein als das Volk, für das sie gemacht ist. Dein Großvater hätte mich verstanden. Er ist leider nicht mehr da!“
Dann, nach einer Weile: „Wie es wohl dem Chinesen Mao geht, der damals so klar in die Zukunft geblickt hat?!“
„Mao?“, warf ich sarkastisch ein. „Der hat heute andere Sorgen. Er streitet mit seiner ehrgeizigen Frau Jiang Qing um die Macht. Übrigens hat er Parkinson und versucht die Krankheit zu verstecken, und böse Zungen flüstern von Syphilis … Er soll mehrere junge Frauen vergewaltigt haben … Sicher ist aber, dass Mao keine Kontrolle mehr über die Roten Garden hat, die jetzt ganz China terrorisieren und durcheinanderbringen. Er äußerte sich neulich, oder hat sich vielleicht damit verteidigt, dass auch die Toten nützlich sind, denn sie düngen den Boden … Auch mein Jahrgang hat Mao Zedong grenzenlos bewundert, ihn jahrelang zum Helden der Geschichte gemacht und sein kleines rotes Buch geschwenkt. Alles, woran wir geglaubt haben, ist aber nach wenigen Jahren wieder wie ein Kartenhaus zusammengefallen … aber einiges, habe ich mir von Chinesen sagen lassen, hat er schon zustande gebracht!“
Keller seufzte. Ächzend erhob er sich, auf seinen Stock gestützt.
„Entschuldige, aber ich muss jetzt in die Beiz, in die Crousch alva, ins Weiße Kreuz, und einen Klevner trinken …“
„Den gibt es hier leider nicht, Herr Keller“, rief ich ihm lachend nach. „Wenn es aber ein Weißer sein soll, kann ich den Malanser aus der Herrschaft empfehlen, der heizt ein …“
Keller stapfte davon, in seinen Bart murmelnd:
„Heutzutage ist ja alles relativ …“
Ich hätte ihn so gerne über die Langeweile ausgefragt, ob er sie auch kennt und was er dagegen zu tun pflegt, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Keller war mit Wichtigerem beschäftigt. Ich nehme mir vor, bald darüber mit Aurel Kollegger zu reden.
Ich blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen, winkte der Nachbarin Alexa zu, die das quietschende Friedhofstor hinter sich zugezogen hatte und mit der Gießkanne in der Hand nach Hause ging, um Maluns für Mann und Sohn zuzubereiten. Kater Mausi folgte ihr wichtigtuerisch mit hoch aufgerichtetem Schwanz. Ich blieb bis zum Abendläuten sitzen und dachte über das Leben in meiner Heimatstadt Chur nach: In den Wohnblocks der langweiligen Außenquartiere, ebenso wie den engen, romantischen Gassen der Altstadt, mit ihren uralten Häusern mit knarrenden Treppen und verbeulten und verrosteten Briefkästen, scheinen die Bewohner ewig auf etwas zu warten. Vielleicht warten sie auf Briefe und Einladungen, Briefe von Bekannten aus Schweden. Man hat Freunde in Eskilstuna, Ingatorp und Älvsjö. Es werden auf Postkarten aus Morac- Les- Issards in Frankreich oder aus Übersee (etwa aus Atabasca in Canada) oder gar auf Neuigkeiten aus Hongkong gewartet, wo sich ein weit entfernter Verwandter niedergelassen hat. Man lebt vor sich hin und wartet und wartet, dass endlich etwas geschieht und die Eintönigkeit der Tage und Wochen unterbricht, etwas, das Freude und Erfüllung bringt – der Besuch eines reichen Onkels aus Amerika, eine unerwartete Erbschaft, ein Totogewinn. Wenigstens möchte man von einem Skandal in der Lokalzeitung lesen oder einer Intrige oder einem Verbrechen in der Gegend. Und man träumt von Reisen nach Moskau, Jerusalem oder Isfahan, die man aber nie unternehmen wird. Während der Schneeschmelze wird auf den Frühling, auf Ostern und den Flieder gewartet, dann auf den Sommer, wo alles besser wird, und an lauen Sommerabenden wird in den winzigen Gärten, wo die Ringelblumen mit dem Schnittlauch um die Wette wuchern, bereits mit dem nächsten Herbst gerechnet. Warten, warten, aber worauf?
Und alles geht immer weiter wie bisher. Die Krähen fliegen heiser im Herbstnebel um den Marsölturm, wo römische Soldaten, gelangweilt und irritiert vom Föhn, einst Wache schoben. Es herrscht Trostlosigkeit und Hinterhältigkeit. Man kann dem sauren Kaffee und den tropfenden Strumpfhosen, die auf der Wäscheleine hysterisch im Föhnwind flattern und sich verknoten, ebenso wenig entrinnen wie der Bigotterie, der Geilheit, dem Klatsch und der Enge der Kleinstadt. Nicht zu vergessen der Zuhälterring, der kürzlich aufflog … Einige Gymnasiasten waren auch dabei, Jungen wie Mädchen, die sich ein Taschengeld verdienen wollten… Die heimlichen Pädophilen, die zahllosen Veruntreuungen und die üble Nachrede von böswilligen Nachbarn … Viele empfindsame junge Leute überleben hier nur mit Drogen und Ältere mit viel, viel Bier, das sie unter den verkrüppelten Platanen im Biergarten am Postplatz oder anderswo Abend für Abend in sich hineingießen.
Das Schlimmste ist, dass eigentlich kaum etwas Besonderes geschieht; die Zeit bewegt sich in Endlosschleifen; jeder Tag sieht dem anderen gleich; nur der massige, verkalkte Calanda, der sich ganz langsam wieder bewaldet, steht vor der Sonne und versperrt die Aussicht. Ich habe das nie lange ausgehalten. Langeweile und die Angst vor dem Sitzenbleiben inmitten dieser Berge haben mich immer wieder verfolgt. Deshalb bin ich früh weggezogen.
Aber hier in Devonn sitze ich beim Abendläuten auf der Bank bei Kirche. Die Sonne steht schon tief. Mein Blick kann weit übers Tal hinaus schweifen, zu anderen Abhängen und den Kirchtürmen benachbarter Dörfer. Die fernsten schneebedeckten Bergspitzen zeichnen sich heute glasklar in der Ferne ab. Ich erträume mir dahinter liegende fremde Welten: vielleicht ein Burgtheater-skandalumwobenes Wien voller musealem Kitsch, Lipizzaner-Pferden, Dehmel, Sachertorten, „Küss die Hand gnä‘ Frau!“, fiesen Intrigen und Radetzkymarsch. Gerne gebe ich aber auch der Sehnsucht nach Italien nach, das Land der Palmen und des Oleanders, steinerner Palazzi, wo Scharen von deutschen Turisten volare, oho, cantare o-ho-ho-ho … singen, gepanschten Rotwein trinken und Spaghetti Bolognese beim Kellner bestellen.
Ich wandte mich um und schaute den Hang hinauf. Oben am Dorfrand, bei den Brennnesseln, hatte Ziegenjöri sein kleines Haus renoviert, die Ca’Pajaun (Heidenhaus genannt, weil es sich um eine uralte Bauweise mit offener Feuerstelle handelt). Jöri war mit seiner Familie für drei Wochen in den Ziegenstall gezogen und vermietete sein Haus an einen netten Deutschen aus Kiel mit seiner jungen Frau. Die beiden Gäste saßen meist oberhalb des Dorfes am Wegrand, stundenlang, schauten in die Wolken und begeisterten sich über deren Formationen und fotografierten sie. Abends aßen sie sich durch die bescheidene Speisekarte im Hotel Crousch alva, wo es vor allem einheimische Wildspezialitäten und Capuns gab, die den beiden Deutschen schwer im Magen lagen, während die Dorffrauen in der Nebenstube beim Tee saßen, häkelten, häkelten und nicht anwesenden Frauen, vielleicht auch mich, durchhechelten.
Vor der Kneipe begrüßte ich Ruth, Gilgia und Brigittli, die Spielkameraden von früher. Ruth ist eine Schlampe mit schräg ausgetretenen Schuhen und ungekämmtem Zopf. Sie wartete mit roten Wangen auf den Elektriker Nutin Pedolin oder bereits einen anderen. Gilgia, die eine Verkäuferinnenlehre im Konsum macht, im viel zu kurzen Rock, hoch toupierter Frisur und überlangen falschen Wimpern, ist hinter dem reichen Bauernsohn Jon-Peider Buol her. Immer dabei ist Brigittli Meszaros, die Brave, die in Chur das Lehrerseminar besucht. Nutin, Jon-Peider und Kumpane, deren Namen ich nicht kenne, sind eingesessene grüne Hohlköpfe und haben neben Mädchen und Autos nur die Jagd im Kopf. Die drei Grazien schwangen ihre Handtaschen und warteten geduldig auf die Jungs, die drinnen in der Kneipe wohl noch eine ganze Weile beim Bier saßen und sich erst viel später dazu herabließen, mit den Mädchen, die sie irgendwo an eine Stallwand drückten, schnellen Sex zu haben.
Auf dem Nachhauseweg in der Dämmerung kreuzte Ulrike Meinhof meinen Weg. Was hat sie hier in Devonn zu suchen? Sie war blass, ein Gewehr hing über ihrer linken Schulter. Sie glotzte mich an:
„Es wäre Zeit für dich, deiner Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. Die Welt zu sehen, wie sie ist. Endlich etwas zu tun und nicht zu träumen und nicht zu reden. Und unbedingt die Bücher beiseitelassen!“, zischte sie zwischen den Zähnen.
Ich schaute zu Boden und antwortete:
„Ich habe den Mut dazu noch nicht, habe noch keinen Durchblick, bin noch nicht reif dafür!“
Ulrike lachte hämisch und löste sich in Luft auf.

Zürich, zwei Tage später, in meiner Studentenbude

Meine Kommilitonen saßen heute wie immer hinter dem Mikroskop und untersuchten ohne Widerrede die vom Professor vorgeschriebenen Pflanzen. Andere Gewächse interessieren sie kaum; denn sie haben nur ihre Karriere als Botaniker, Biologen, Apotheker oder wer weiß was vor Augen. Die Langeweile hatte mich wieder eingeholt.
Nutzpflanzen interessieren mich nicht besonders. Aber ich bewundere Unkraut schon seit meiner Kinderzeit – oder das, was man allgemein Unkraut nennt, die Parias und Überleber unter den Pflanzen. Sie passen sich fast überall in der Welt an, vermögen sich problemlos zu vermehren. Niemand kümmert sich um sie. Niemand weiß, woher sie kommen. Sie sind einfach da. Sie sind verfemt auf Acker, Feld und Garten, aber sie wachsen und blühen trotzdem; meistens verbreitet der Wind ihre Samen. Sie werden ausgerissen, ausgegraben, verflucht und mit Chemikalien bekämpft. Aber sie kommen immer wieder. Woher nur nehmen diese Ausgestoßenen die Kraft zum Überleben?


Zürich, drei Wochen später

Ich hatte daher einen langen und begeisterten Aufsatz über den Flughafer, die Avena fatua, geschrieben. Ich kenne ihn seit meiner Kinderzeit. Er sprießt überall. Der Flughafer hat längliche und haarige, spelzige und überaus zierliche Samenkörner. Die Pflanze ist vielleicht die Urform des Hafers; aber das weiß man nicht so genau. Er sprießt auch zwischen Steinen am Straßenrand und aus Ruinen in der ganzen Welt und wird als sehr lästiges Unkraut eingestuft.
Professor Stüssi, der alte glatzköpfige Pedant, hatte den Aufsatz mit saurer Miene auf den Tisch geklatscht und mir vorgeschlagen, mich nicht mehr vom Unkraut und dessen vermeintlicher Schönheit und Weltgewandtheit begeistern zu lassen, sondern mich endlich um Nutzpflanzen zu kümmern. Ich fühlte mich verstoßen wie der Flughafer.
Inmitten seiner Vorlesung verließ ich den Hörsal, stürmte nach draußen und ging schnurstracks in den Botanischen Garten, zückte mein altes Taschenmesser mit dem Schweizerkreuz, klappte die Klinge auf und ritsch, ratsch, ritsch, ratsch, köpfte ich ein großes Beet gelbe Tulpen. Ritschratsch, ritschratsch, ritschratsch. Die Tulpen fielen kreuzweise im Beet übereinander, wie die Berner Soldaten, Frauen und Kinder nach der heißen Schlacht am Grauholz, von den Franzosen niedergemetzelt – ein kläglicher Anblick! Daraufhin warf ich massenhaft Flughafersamen ins geschändete Tulpenbeet und drehte mit Daumen und Zeigefinger Samen aller möglichen Unkräuter, die ich gesammelt hatte, in die Erde und hoffte, sie mögen aufgehen und gedeihen und der Wind sie verbreiten.
Ich weiß, dass Tulpenköpfen eine hilflose Geste ist, denn eigentlich möchte ich lieber das herrschende, stinklangweilige, herzlose und ungerechte System brechen, wo keiner auf den anderen hört. Ich möchte gerne Randale machen, Parolen skandieren, Traktate verteilen, mit Studenten demonstrieren und schreien, mit angeschlagenem Gewehr durch die Uni laufen, Granaten und Molotowcocktails werfen und ihrer Explosion zuschauen, die Professoren an ihrem Blut ersticken sehen, Dynamit in Kinderwagen verstecken, Autos anzünden, unterwegs sein und schnelle Fluchten erleben, die Polizei mit Sirenen und Blaulicht hinterher.
Ich langweile mich endlos in den Cafés und in den Kneipen, und ich langweile mich auf Festen und ebenso, wenn ich mit jungen Männern rummache.
Es ist schwer, hier etwas in Gang zu bringen. Ältere Kommilitonen haben mir vom Juni 1968 erzählt, als der Rote Danny, einer der Rädelsführer der rebellischen Studenten in Frankreich, an der Uni Basel eine Brandrede hielt. Er wollte auch die Basler Studenten zur Revolte aufstacheln. Professoren und Studenten hatten an dem warmen Sommerabend ruhig zugehört und danach mit Bier und Würstchen friedlich zusammen gefeiert. Sie wunderten sich, was denn das Ganze soll! Ein Jurastudent, heute ein umstrittener Basler Lokalpolitiker, brachte es damals auf den Punkt:
„Wir leben und studieren hierzulande unter einer Glasglocke und uns geht es gut! Arbeit gibt es genug und wir können Geld verdienen, wenn wir nur wollen und schlau genug sind. Zwar scheint die Welt fertig zu sein, der Kuchen bereits verteilt und das Leben durch und durch reglementiert, aber das gibt den meisten hier keinen Grund, auf die Straße zu gehen, die Fäuste zu recken, Flugblätter zu drucken, Gras zu rauchen, nackt zu tanzen, zu gammeln und Kommunen zu gründen!“
Aber meine Kollegen – und vielleicht auch die Professoren, wer weiß – feiern bloß von Zeit zu Zeit wilde Feste und tun im Suff Dinge, die sie nüchtern niemals tun würden. Sie haben heimliche Gelüste, denen sie im Alltag aus Angst nicht nachgeben; innen ein faules Gebäude, halten sie sich außen sauber mit Seife, parfümieren sich mit Patschuli und billigem Rasierwasser oder mit Chanel Nr. 5. Sie wagen nicht, richtig zu leben; Ekstase ist ihnen ebenso fremd wie richtiges In-sich-Gehen. Aber am Samstagabend diskutieren Junge wie Alte, Frauen wie Männer, betrinken sich, streiten, verbessern am Kneipentisch die Welt und vögeln hinterher heimlich ihre Arbeitskollegen oder die Nachbarin. Am nächsten Tag wissen sie von nichts.
Sie bekommen in der Regel Kinder, die ebenso nett und intolerant sind wie sie. Sie glauben, dass sie links, liberal und fortschrittlich sind. Sie kümmern sich um nichts als um ihr eigenes Wohlergehen, machen Yoga, essen gesund und grillen am Sonntag. Sie pflegen ihre Gärtchen und ihre Bankkonten und Aktien. Ihre Häuser sind keimfrei. Auch in den Gärten wächst nicht das kleinste Unkraut. An den Nachmittagen häkeln die Frauen gestreifte Hüllen für die Sturmgewehre der Männer, natürlich in den Schweizer Landesfarben Rot und Weiß; wenn sie Bündner sind, in den Kantonsfarben Blau, Weiß, Grau, während die Kleinsten mit Rotznasen im Sandkasten hocken, einander Spielautos aus den Händen reißen, boshaft Sand in den Mund stopfen und kleine rote Eimer auf den Kopf hauen.
In Zürich, in Schaffhausen wie in Chur und anderswo ereifern sich die gutbürgerlichen Bewohner aber für die Skandale von Popidolen, Politikern, Fußballern und Filmstars, anstatt selber über die Stränge zu schlagen und im Rampenlicht der Kritik zu stehen. Sie tratschen und schimpfen in den Kneipen über die wüsten Ausschweifungen der langhaarigen Stars und der Jungen Linken im Ausland: Rock’n’Roll, wilden Sex und Kommunen, Raufereien und Drogen, alles, wovon sie selber begierig träumen, aber den Mut dazu im Alltag nicht aufbringen. Eigentlich lassen fast alle Einwohner unserer Gegend aus Bequemlichkeit das Leben an sich vorbeigehen. Risiko und Neues, anderes, ist ihnen ein Horror. Vor Fremdem machen die meisten einen Umweg. Deswegen sind die Bürgerinnen und Bürger hoch versichert für alle Zufälle des Lebens.
Aber eigentlich mag ich Chur! Es ist gemütlich in der ältesten Stadt der Schweiz mit all den romantischen Gässchen und Innenhöfen und den vielen lauschigen Biergärten und Cafés, und hier werden die besten Würste gemacht, das beste Brot der Welt gebacken und ein wunderbar süffiges, leicht bitteres Bier gebraut. Aber unser Städtchen ist für mich das Urbild einer Gesellschaft geworden, die nur durch andere lebt – durchs Kino, dem Schausport, der Zeitung, dem Fernsehen und dem Skandal. Ich erlebe viele Nachbarn als angepasste, feige und herzlose Kleingeister. Manchmal wachsen in den Häusern der verwinkelten Altstadt massenhaft übel riechende bräunliche Pilze aus den feuchten Zimmerwänden, ein Zeichen dafür, dass es auch drinnen in den Menschen muffig, feucht und faul ist.
Das alles hat sicher auch mit dem Klima zu tun. Wenn der Föhn, der warme Fallwind aus den Bergen, il fuogn, durchs Churer Rheintal weht und auf unsere Köpfe drückt, scheinen uns die Berge noch näher auf die Pelle zu rücken, und die Sicht in die Ferne ist glasklar. Aber der Föhn verursacht oft heftige Kopfschmerzen und treibt Leute immer wieder zu irrationalen Handlungen. Deswegen habe ich immer von der frischen Luft und den Leuten in Devonn, meinem Bergdorf am Hang, geträumt, obwohl ich weiß, wie hart das Leben da oben ist und Häuser und Träume im Winter tief im Schnee versinken. (Aber dort wohnt Kollegger, den ich wiedersehen möchte.) Mir dämmert, dass es wohl auch in Devonn wachsende Müllhalden gibt. Um wirklich Frieden und Klarheit zu finden, muss man mittlerweile schon sehr hoch in die Berge steigen und dabei auch die Trampelpfade meiden.


Zürich, Ende Juni 1975, Hitzewelle, die Füße in der Limmat

Der Asphalt in den Straßen kocht in der Hitze. Ich beschließe nach Devonn zu fahren, um Großvaters Wunsch nachzukommen. Der Zettel für Sigi Padrutt steckt zwischen den alten Briefen in meinem Rucksack. Ich möchte endlich Conradin und vor allem Kollegger wiedersehen und erfahren, was es mit der verschwundenen Madonna auf sich hat.


Kurz nach der Ankunft in Devonn

Das Postauto bog in die letzten staubigen Kehren am Hang. Am Weg tauchte der alte Bildstock mit dem gekrümmten Schmerzensmann auf, ein längst vertrockneter Feldblumenstrauß davor; dann der Hof des Bauern Devonas, einem fernen Verwandten, und schon stehe ich vor Großmutters Haus am kleinen Dorfplatz. Endlich wieder in Devonn!



… Ich setzte mich neben Gottfried Keller. Schnell versteckte er das Bild in seiner Gehrocktasche und musterte mich.
„Ich weiß! – Wir haben uns schon einmal getroffen“, sagte er, „vor Jahren“, und nach einer Weile fügte er hinzu:
„Du bist eine junge Frau geworden und gleichst Albert, deinem Großvater! Dieselbe Nase, derselbe musternde, arrogante Blick!“ Dann: „Ich bin wieder nach Devonn gekommen, um meine Gedanken zu sammeln für einen neuen Roman, den Arnold Salander!“
„Eine Fortsetzung vom Martin Salander?“, fragte ich neugierig.
Keller nickte, musterte mich lange, lächelte, dachte nach und wandte sich wieder an mich:
„Auch wir, liebes Kind, das heißt meine Generation, haben in unserer Jugend einen Rütlischwur getan. Auch wir wollten uns für die Demokratie im Land einsetzen. Aber was haben wir daraus gemacht, als der Alltag und die chronische Geldknappheit uns in die Zange nahmen? Leider haben wir die Gesetze verwirrt und gestört. Wir sind allmählich weit hinter unseren eigenen Ideen zurückgeblieben. Aber keine Staatsform, auch die Demokratie nicht, der schon wir in diesem Lande gehuldigt und die wir mit aufgebaut haben, schützt gegen den allgemeinen Egoismus, die Feigheit und die Habgier …“
„Schon zu Kellers Zeiten wurde in den Köpfen der Leute viel Kehrricht produziert“, stellte ich insgeheim fest.
„Auch deine Generation, die man die 68er nennt, scheint einen Eid geleistet zu haben, nämlich zu kämpfen für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, für sexuelle Freiheit und für mehr Mitspracherecht. Ob ihr aber unserer Demokratie damit wirklich dient, ist eine andere Frage … Seid nicht so schroff und überheblich zu uns, den gescheiterten Alten! Wenn euer ‚langer Marsch durch die Institutionen‘ kommt und ihr Kinder habt … wollt auch ihr Geld, Macht, Ruhm und Bequemlichkeit. Alles wird ausufern. Alles wird sich wiederholen!“, sagte der alte Keller aufgebracht und schlug irritiert mit seinem Spazierstock mehrmals in den Sand.
„Aber ihr drängt bereits auf mehr Mitspracherecht für alle!“, schimpfte er erbittert und wischte sich den Schweiß von der Stirn mit einem großen, nicht ganz sauber wirkenden Taschentuch.
„Absolute Demokratie! Unmöglich! Viel zu früh! Demagogen, Scharlatane und Populisten werden das Volk – wo jeder und jede mitreden, aber kaum über den eigenen Tellerrand hinaussehen kann – beeinflussen und verleiten und die Macht an sich reißen. Für einen neuen Rasenmäher, die Aussicht auf ein eigenes Häuschen, aus Angst um den Arbeitsplatz und das berufliche Fortkommen, auch der großen Furcht vor allem Fremden wegen, oder gar aus neuem, von verschlagenen Politikern angestacheltem Nationalstolz, wird sich der kleine Mann und die kleine Frau schließlich kaufen lassen. Geschäftstüchtige Bürger werden sogar bereit sein, die Alpen zu verkaufen! Der Sozialismus, den ihr jetzt predigt, wird sich dann ins Gegenteil verkehren und ihr werdet es zu spät begreifen!“
Das Taschentuch verschwand wieder in Kellers Hosentasche.
„Karl Marx in aller Munde! Rockmusik! Studentenunruhen! Mitspracherecht für alle! Und jetzt auch das Frauenstimmrecht! Gopfritstutz! Dazu ist dieses Land noch lange nicht reif! Deshalb darf eine Verfassung eigentlich nicht fortschrittlicher sein als das Volk, für das sie gemacht ist. Dein Großvater hätte mich verstanden. Er ist leider nicht mehr da!“
Dann, nach einer Weile: „Wie es wohl dem Chinesen Mao geht, der damals so klar in die Zukunft geblickt hat?!“
„Mao?“, warf ich sarkastisch ein. „Der hat heute andere Sorgen. Er streitet mit seiner ehrgeizigen Frau Jiang Qing um die Macht. Übrigens hat er Parkinson und versucht die Krankheit zu verstecken, und böse Zungen flüstern von Syphilis … Er soll mehrere junge Frauen vergewaltigt haben … Sicher ist aber, dass Mao keine Kontrolle mehr über die Roten Garden hat, die jetzt ganz China terrorisieren und durcheinanderbringen. Er äußerte sich neulich, oder hat sich vielleicht damit verteidigt, dass auch die Toten nützlich sind, denn sie düngen den Boden … Auch mein Jahrgang hat Mao Zedong grenzenlos bewundert, ihn jahrelang zum Helden der Geschichte gemacht und sein kleines rotes Buch geschwenkt. Alles, woran wir geglaubt haben, ist aber nach wenigen Jahren wieder wie ein Kartenhaus zusammengefallen … aber einiges, habe ich mir von Chinesen sagen lassen, hat er schon zustande gebracht!“
Keller seufzte. Ächzend erhob er sich, auf seinen Stock gestützt.
„Entschuldige, aber ich muss jetzt in die Beiz, in die Crousch alva, ins Weiße Kreuz, und einen Klevner trinken …“
„Den gibt es hier leider nicht, Herr Keller“, rief ich ihm lachend nach. „Wenn es aber ein Weißer sein soll, kann ich den Malanser aus der Herrschaft empfehlen, der heizt ein …“
Keller stapfte davon, in seinen Bart murmelnd:
„Heutzutage ist ja alles relativ …“
Ich hätte ihn so gerne über die Langeweile ausgefragt, ob er sie auch kennt und was er dagegen zu tun pflegt, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Keller war mit Wichtigerem beschäftigt. Ich nehme mir vor, bald darüber mit Aurel Kollegger zu reden.
Ich blieb noch eine Weile auf der Bank sitzen, winkte der Nachbarin Alexa zu, die das quietschende Friedhofstor hinter sich zugezogen hatte und mit der Gießkanne in der Hand nach Hause ging, um Maluns für Mann und Sohn zuzubereiten. Kater Mausi folgte ihr wichtigtuerisch mit hoch aufgerichtetem Schwanz. Ich blieb bis zum Abendläuten sitzen und dachte über das Leben in meiner Heimatstadt Chur nach: In den Wohnblocks der langweiligen Außenquartiere, ebenso wie den engen, romantischen Gassen der Altstadt, mit ihren uralten Häusern mit knarrenden Treppen und verbeulten und verrosteten Briefkästen, scheinen die Bewohner ewig auf etwas zu warten. Vielleicht warten sie auf Briefe und Einladungen, Briefe von Bekannten aus Schweden. Man hat Freunde in Eskilstuna, Ingatorp und Älvsjö. Es werden auf Postkarten aus Morac- Les- Issards in Frankreich oder aus Übersee (etwa aus Atabasca in Canada) oder gar auf Neuigkeiten aus Hongkong gewartet, wo sich ein weit entfernter Verwandter niedergelassen hat. Man lebt vor sich hin und wartet und wartet, dass endlich etwas geschieht und die Eintönigkeit der Tage und Wochen unterbricht, etwas, das Freude und Erfüllung bringt – der Besuch eines reichen Onkels aus Amerika, eine unerwartete Erbschaft, ein Totogewinn. Wenigstens möchte man von einem Skandal in der Lokalzeitung lesen oder einer Intrige oder einem Verbrechen in der Gegend. Und man träumt von Reisen nach Moskau, Jerusalem oder Isfahan, die man aber nie unternehmen wird. Während der Schneeschmelze wird auf den Frühling, auf Ostern und den Flieder gewartet, dann auf den Sommer, wo alles besser wird, und an lauen Sommerabenden wird in den winzigen Gärten, wo die Ringelblumen mit dem Schnittlauch um die Wette wuchern, bereits mit dem nächsten Herbst gerechnet. Warten, warten, aber worauf?
Und alles geht immer weiter wie bisher. Die Krähen fliegen heiser im Herbstnebel um den Marsölturm, wo römische Soldaten, gelangweilt und irritiert vom Föhn, einst Wache schoben. Es herrscht Trostlosigkeit und Hinterhältigkeit. Man kann dem sauren Kaffee und den tropfenden Strumpfhosen, die auf der Wäscheleine hysterisch im Föhnwind flattern und sich verknoten, ebenso wenig entrinnen wie der Bigotterie, der Geilheit, dem Klatsch und der Enge der Kleinstadt. Nicht zu vergessen der Zuhälterring, der kürzlich aufflog … Einige Gymnasiasten waren auch dabei, Jungen wie Mädchen, die sich ein Taschengeld verdienen wollten… Die heimlichen Pädophilen, die zahllosen Veruntreuungen und die üble Nachrede von böswilligen Nachbarn … Viele empfindsame junge Leute überleben hier nur mit Drogen und Ältere mit viel, viel Bier, das sie unter den verkrüppelten Platanen im Biergarten am Postplatz oder anderswo Abend für Abend in sich hineingießen.
Das Schlimmste ist, dass eigentlich kaum etwas Besonderes geschieht; die Zeit bewegt sich in Endlosschleifen; jeder Tag sieht dem anderen gleich; nur der massige, verkalkte Calanda, der sich ganz langsam wieder bewaldet, steht vor der Sonne und versperrt die Aussicht. Ich habe das nie lange ausgehalten. Langeweile und die Angst vor dem Sitzenbleiben inmitten dieser Berge haben mich immer wieder verfolgt. Deshalb bin ich früh weggezogen.
Aber hier in Devonn sitze ich beim Abendläuten auf der Bank bei Kirche. Die Sonne steht schon tief. Mein Blick kann weit übers Tal hinaus schweifen, zu anderen Abhängen und den Kirchtürmen benachbarter Dörfer. Die fernsten schneebedeckten Bergspitzen zeichnen sich heute glasklar in der Ferne ab. Ich erträume mir dahinter liegende fremde Welten: vielleicht ein Burgtheater-skandalumwobenes Wien voller musealem Kitsch, Lipizzaner-Pferden, Dehmel, Sachertorten, „Küss die Hand gnä‘ Frau!“, fiesen Intrigen und Radetzkymarsch. Gerne gebe ich aber auch der Sehnsucht nach Italien nach, das Land der Palmen und des Oleanders, steinerner Palazzi, wo Scharen von deutschen Turisten volare, oho, cantare o-ho-ho-ho … singen, gepanschten Rotwein trinken und Spaghetti Bolognese beim Kellner bestellen.
Ich wandte mich um und schaute den Hang hinauf. Oben am Dorfrand, bei den Brennnesseln, hatte Ziegenjöri sein kleines Haus renoviert, die Ca’Pajaun (Heidenhaus genannt, weil es sich um eine uralte Bauweise mit offener Feuerstelle handelt). Jöri war mit seiner Familie für drei Wochen in den Ziegenstall gezogen und vermietete sein Haus an einen netten Deutschen aus Kiel mit seiner jungen Frau. Die beiden Gäste saßen meist oberhalb des Dorfes am Wegrand, stundenlang, schauten in die Wolken und begeisterten sich über deren Formationen und fotografierten sie. Abends aßen sie sich durch die bescheidene Speisekarte im Hotel Crousch alva, wo es vor allem einheimische Wildspezialitäten und Capuns gab, die den beiden Deutschen schwer im Magen lagen, während die Dorffrauen in der Nebenstube beim Tee saßen, häkelten, häkelten und nicht anwesenden Frauen, vielleicht auch mich, durchhechelten.
Vor der Kneipe begrüßte ich Ruth, Gilgia und Brigittli, die Spielkameraden von früher. Ruth ist eine Schlampe mit schräg ausgetretenen Schuhen und ungekämmtem Zopf. Sie wartete mit roten Wangen auf den Elektriker Nutin Pedolin oder bereits einen anderen. Gilgia, die eine Verkäuferinnenlehre im Konsum macht, im viel zu kurzen Rock, hoch toupierter Frisur und überlangen falschen Wimpern, ist hinter dem reichen Bauernsohn Jon-Peider Buol her. Immer dabei ist Brigittli Meszaros, die Brave, die in Chur das Lehrerseminar besucht. Nutin, Jon-Peider und Kumpane, deren Namen ich nicht kenne, sind eingesessene grüne Hohlköpfe und haben neben Mädchen und Autos nur die Jagd im Kopf. Die drei Grazien schwangen ihre Handtaschen und warteten geduldig auf die Jungs, die drinnen in der Kneipe wohl noch eine ganze Weile beim Bier saßen und sich erst viel später dazu herabließen, mit den Mädchen, die sie irgendwo an eine Stallwand drückten, schnellen Sex zu haben.
Auf dem Nachhauseweg in der Dämmerung kreuzte Ulrike Meinhof meinen Weg. Was hat sie hier in Devonn zu suchen? Sie war blass, ein Gewehr hing über ihrer linken Schulter. Sie glotzte mich an:
„Es wäre Zeit für dich, deiner Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. Die Welt zu sehen, wie sie ist. Endlich etwas zu tun und nicht zu träumen und nicht zu reden. Und unbedingt die Bücher beiseitelassen!“, zischte sie zwischen den Zähnen.
Ich schaute zu Boden und antwortete:
„Ich habe den Mut dazu noch nicht, habe noch keinen Durchblick, bin noch nicht reif dafür!“
Ulrike lachte hämisch und löste sich in Luft auf.

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