Des Lebens bittere Würze

Des Lebens bittere Würze

Eine (fast) wahre Begebenheit

Sieglinde Niedermayr


EUR 20,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 124
ISBN: 978-3-99048-518-7
Erscheinungsdatum: 18.04.2016
Früh regt sich in Walpurga der Wunsch, aus dem trostlosen Dasein ihres Elternhauses auszubrechen. Aber als sie sich diesen Traum erfüllt, geht nicht alles glatt - bis es scheint, als sei ihr doch noch ein schönes Leben vergönnt. Doch ist das Glück von Dauer …?
Walpurga wurde im Jahr 1940, einer äußerst schwierigen Zeit, geboren. Es war lange fraglich, ob das Kind überhaupt überleben würde. Rundum hatten die Menschen nur das Notwendigste zu essen. Ihre Mutter Mathilde, vor Walpurgas Geburt Witwe geworden, kränkelte nach der Niederkunft und musste großteils liegen. Sobald sie wieder auf die Beine konnte, nahm sie ihre Tätigkeit als Gelegenheitsnäherin noch mal auf. Sie hatte jetzt nicht nur für sich, sondern auch für ihr Kind zu sorgen.
Drei Wochen später fragte ihre alleine stehende Nachbarin des Mehrparteienhauses Paula: „Was is’, wann soll der klane Wurm getauft werden? Wenn’s recht is’, tät’ i mi gern’ als Patin zur Verfügung stellen!“
Ohne zu zögern nahm Mathilde dieses Angebot an.

***

Was für einen unmöglichen Namen die dem Kind geben“, stellte Frau Mayringer, eine im Parterre des Hauses wohnende Nachbarin, entrüstet fest und verzog dabei verächtlich den Mund. Sie war eine von jenen Personen, die ständig irgendwas zu nörgeln hatten.
„Warum? Ich find’ ihn gar net so übel“, meinte Paula. Sie wog den Säugling auf ihrem Arm hin und her, warf Frau Mayringer einen grantigen Blick zu und beachtete sie nicht weiter. „Die dumme Kuh bild’t sich auch ein, überall ihre Nase reinstecken zu müssen“, dachte sie und blickte nachdenklich auf das blasse Baby im Steckkissen. „Was für ein Leben wird di erwarten?“, murmelte sie vor sich hin und blickte ungeduldig zur Tür der Sakristei.
Nur die Mutter des Neugeborenen, Mathilde, blieb gelassen. Sie beugte ihr von Kummer gezeichnetes Gesicht über das kleine Bündel in Paulas Arm und flüsterte: „Gott möge dich auf all’ deinen Wegen beschützen, mein Kind!“
Endlich trat der Pfarrer der Gemeinde Kremsmünster bei der Tür heraus und eilte mit raschen Schritten durch den Mittelgang auf die wartende kleine Taufgesellschaft zu. „T’schuldigung, mei’ Uhr is’ stehen bliebn!“ Er sah sich in der Runde um und kramte hektisch ein Taschentuch hervor, um sich damit ein paar Schweißtropfen von der Stirn wegzuwischen.
Etwas mühselig wollte er dann wissen: „Könna ma anfangen?“
Nachdem sämtliche Anwesenden genickt hatten, begann er mit der Zeremonie.
Als Frau Mayringer erstmals den vollen Namen aus dem Mund des Geistlichen hörte, fand sie ihn gar nicht mehr so abwegig: Walpurga Maria Wagner. „Na ja, wenn i’s recht verstanden hab’ … klingt er eigentlich gar net so übel“, sinnierte sie mit zufriedenem Gesichtsausdruck.
Während der Pfarrer die Stirn des Kindes mit Wasser benetzte, zuckte das Neugeborene für einen Augenblick zusammen. Kurz schien es, als würde die Kleine zu weinen beginnen. Der gute Engel Paula, die seit ein paar Jahren selbst Witwe war und der das Schicksal keine Kinder beschert hatte, überkam auf einmal eine tiefe, nie empfundene Zärtlichkeit. „I’ werd’ immer für di da sein!“ Kaum hörbar fügte sie hinzu: „I versprech ’s!“
Mit fünfzehn Monaten konnte Walpurga alleine in der bescheiden eingerichteten Wohnung herumlaufen und mancherlei Wörter von sich geben. Wörter, die sie irgendwo aufschnappte und später nachplapperte. Mit ihren veilchenblauen Augen und den strohblonden Haaren war sie ein goldiges, bezauberndes Wesen.
Gewohnt, sich mit sich selbst zu beschäftigen, spielte sie stundenlang im Hof in einem großen, umgebauten Hasenstall mit ihrer abgegriffenen Stoffpuppe Susi oder unterhielt sich mit einer struppigen Katze, die schon längere Zeit in der Gegend herumstreunte.
Als Walpurga zwei Jahre alt war, heirate Mathilde einen jüngeren Mann; den für den Wehrdienst untauglichen Gendarmen Karl Binder. Jetzt hatte sie eine neue Liebe und nicht mehr so viel Zeit für ihr Kind. Mathilde hatte plötzlich für ihre Tochter, die sie einst über alles geliebt hatte, nicht mehr das Empfinden, das eine Mutter für ihr Kind haben sollte. Von nun an war der Mann an ihrer Seite für sie das Wichtigste; für den sie sich aufopferte, von dem sie auch wirtschaftlich abhängig war. Geduldig ertrug Mathilde, dass sie Karl oft in der Öffentlichkeit bloßstellte. Auch mit der Treue nahm er es nicht so genau. Mathilde erduldete aber seine Eskapaden schweigend. Sie wurde vorzeitig alt und verbittert. Das Selbstbewusstsein, das sie einst ausgezeichnet hatte, existierte längst nicht mehr.
Walpurga war daran gewöhnt, alleine, ohne mütterliche Obhut zu sein. Nicht so Taufpatin Paula, die wie ein Schutzengel nach wie vor über das Wohlergehen der Kleinen wachte. Jede freie Minute widmete sie der Kleinen.
Eines Tages hatte das aber ein jähes Ende: Paula wurde lungenkrank und von ihrem langjährigen Hausarzt Dr. Furtner für längere Zeit in einen Luftkurort geschickt. Es kostete den Allgemeinmediziner eine Portion Überredungskraft Paula zu überzeugen. „Sie werden’s seh’n, wie Ihna die frische Luft und vor allem ein Tapetenwechsel guttun“, redete der Gott in Weiß einfühlsam auf Paula ein, die sich zunächst hartnäckig sträubte, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen.
Eine Woche später trennte sich Paula dann doch schweren Herzens von daheim und Walpurga, die ihr wie ein eigenes Kind ans Herz gewachsen war. Traurig wischte sie sich beim Abschiednehmen mit dem Handrücken ein paar Tränen vom Gesicht. „Was soll’s“, sagte sie leise, „i muss mich eben damit abfinden …“

***

Im Sommer brachte Mathilde ihr zweites Kind, das Nesthäkchen Marianne, zur Welt. Fortan genoss dieses Kind die ganze Aufmerksamkeit von Mathilde und ihrem Mann.
Ungefähr zu dieser Zeit betrat eines Tages Irmi, eine junge Lehrerin, den Kramerladen am Ende jenes Häuserblocks, in dem sie kürzlich eine kleine Mietwohnung bezogen hatte. Das Leben der jungen Frau war einsam und traurig, belastet von der Sorge um ihren Mann, der wie die meisten Männer zu dieser Zeit bei den Streitkräften sein Dasein fristete. Sie wusste nicht, ob er den Krieg überleben würde. Irmi hasste und verfluchte oft diese Kampfhandlungen, die so viel Leid über die Menschheit brachten.
Eines Tages wurde sie im Kramerladen ungewollt Zeuge einer regen Diskussion zwischen einigen Frauen aus der Nachbarschaft:
„A Schand’ is’, dass man so a kloanes Bauxerl derart vernachlässigt. So was g’hört ja direkt g’meld!“ Die anderen Frauen schüttelten ebenfalls fassungslos den Kopf.
Irmi, die das Gespräch mit angehört hatte, holte tief Luft und sagte: „Aber … aber das ist ja schrecklich!“ Als sich ihr die in das heftige Wortgefecht verwickelten Frauen zuwandten, errötete sie und schwieg.
Nachdem eine der geschwätzigen Frauen den Laden verlassen hatte, rannte ihr Irmi hinterher. „Ach, entschuldigen Sie“, rief sie und errötete erneut.
„Was is’?“, fragte die Angesprochene verdutzt und drückte misstrauisch ihre Einkaufstasche an sich. „Wer … wer san Sie überhaupt? Was wollen S von mir? I hab’ Sie da no’ nie g’sehn?“
Ein schüchternes Lächeln erschien auf Irmis Gesicht. „Äh … ich … i bin die neue Volksschullehrerin Irmgard Weber. I wohn’ gleich da drüben.“ Irmi deutete mit der Hand auf den schräg gegenüberliegenden Wohnblock.
„Und darf i fragen, wer Sie …, wie Sie heißen, ich möchte Sie gern mit Ihrem Namen anreden?“
„I bin Frau Moser, die Hausmeisterin vom Wohnblock!“ Sie begann, lebhaft über die Familie Binder zu erzählen. Wie sie dann anfangen wollte, sich auch über andere Hausbewohner auszulassen, unterbrach sie Irmi:
„Freut mich, Frau Moser, Sie kennengelernt zu haben. Wir werden uns jetzt bestimmt öfter über den Weg laufen! Übrigens, das Kind, von dem da erzählt wurde, die Kleine da im Hof … kann ich die einmal sehen?“ Irmi konnte es immer noch nicht fassen, was sie da gehört hatte.
„Klar doch. Warum net. Des Dirndl sitzt die meiste Zeit allane mit ihrer Puppe im Hof in ihrer käfigartigen Behausung, hält Selbstgespräche oder plaudert mit der Katz’, die ständig in ihrer Näh ‚rumschleicht‘.“
„Egal, ich möchte das Kind gerne einmal sehen“, beharrte Irmi hartnäckig auf ihrer Bitte.
„Na, wenn S unbedingt woll’n, dann kommen S halt mit, aber wundern S eana über nix.
Dös is koa Art net, mit so an kloan Madl umz’gehen“, entrüstete sich Frau Moser und setzte sich in Bewegung. Irmi stolperte hinterher.
Dann sah sie das Kind. Es war genauso, wie es die Frauen beschrieben hatten. „O nein“, dachte sie zu sich. „Das darf doch nicht wahr sein.“ Irmi stand einen Moment sprachlos da.
Walpurga, die sich gerade zu einer ziemlich verwahrlosten Katze hinkniete, sah den beiden Frauen bei ihrem Näherkommen mit großen Augen, in denen eine abgrundtiefe Traurigkeit lag, entgegen.
„Aber das … aber das is’ ja ungesund, die kann ja weiß Gott was für Krankheiten haben.“ Kopfschüttelnd fügte Irmi hinzu: „Die Katze mein ich!“
Sie verscheuchte das Tier und beugte sich zu der Kleinen runter. Besorgt fragte sie:
„Was machst denn da, so alleine?“ Suchend sah sie sich um. „Wo … wo is’ denn deine Mama?“
Walpurga richtete sich plötzlich auf. Trotzig presste sie die Lippen zusammen und starrte stumm vor sich hin. Irmi strich dem Kind flüchtig durch das Haar und blickte Frau Moser, die mittlerweile ihre Einkaufstasche abgestellt hatte, fragend an. „Kümmert sich denn wirklich niemand um das Kleine?“
„Sag i do’“, polterte die geschwätzige Rednerin los. „Die Mutter hegt und pflegt ihr Jüngstes, vergöttert ihren Mann, vergisst dabei aber ihre Große. Armes Ding!“
„Wie kann man nur so herzlos sein“, dachte Irmi zu sich.
Von da an schaute sie bei jeder passenden Gelegenheit bei Walpurga vorbei. Die Katze kannte sie schon und suchte angesichts ihrer das Weite.
Einmal, als Irmi wieder da war, stieß sie unverhofft auf Mathilde. Diese schaute die junge Frau fragend an.
„Ist das Ihr Kind?“, erkundigte sich Irmi.
„Ja … warum, is was damit?“, wollte Mathilde etwas ungehalten wissen.
Irmi, die geneigt war, ihrer Empörung freien Lauf zu lassen zu lassen; überlegte sich’s aber im letzten Moment. Stattdessen schüttelte sie nur kaum merklich den Kopf und sagte:
„Mein Name ist Weber Irmi. Ich wohn’ seit kurzen in dem Haus schräg gegenüber. Ab Herbst unterrichte ich die erste Klasse.“ Sie zögerte einen Moment, nahm dann allen Mut zusammen und sagte: „Nichts für ungut. Hätten – haben Sie was dagegen, wenn ich ab und zu mit der Kleinen spazieren geh’?“ Sie sah dabei Mathilde fragend an. Sie wusste in dem Moment nicht, wie Walpurgas Mutter reagieren würde.
Mathilde, völlig verdutzt, hatte mit allem, aber mit so etwas nicht gerechnet.
„Wirklich?“, fragte sie erstaunt. „Würden S das wirklich machen? I hab’ eh wenig Zeit: Mann … Säugling …, da gibt’s jede Menge zu tun!“
Bevor sie dann wieder in das Haus zurückeilen wollte, meinte sie noch beiläufig: „Im Keller steht ein alter Leiterwagen … wenn S damit mit Walpurga fahren wollen …?“
Und Irmi wollte. Sie brauchte nicht eine Minute überlegen. Mindestens zweimal in der Woche holte sie am Nachmittag Walpurga, packte die Kleine in den Wagen und fuhr mit ihr zum nahe gelegenen Park. Die beiden hatten viel Spaß zusammen. In dieser Zeit vergaß Irmi ihre eigenen Sorgen und blühte förmlich auf. Sie wurde der zweite Mensch in Walpurgas Leben, der sich liebevoll ihrer annahm.
Die junge Frau hatte vom ersten Augenblick an eine Zuneigung zu der Kleinen, die so ganz anders war als zu den Kindern, mit denen sie bisher zu tun hatte.

***

Dann war eines Tages Paula wieder da. An ihrem Gefühl zu ihrem Patenkind hatte sich während ihrer Abwesenheit nichts geändert. Sie hatte zwar nicht mehr so viel Zeit wie Irmi, aber versuchte so oft es ging, sich mit Walpurga zu beschäftigen.
Wie nicht anders zu erwarten, kam es zwischen Paula und Irmi bald zu Reibereien: Eine Woche vor Beginn des kommenden Schuljahres meinte einmal Paula schnippisch zu Irmi, die gerade lebhaft plaudernd mit dem Kind im Wagen des Weges kam: „Ich bin gar nicht dafür, dass ein Kind so verhätschelt wird!“
Irmi schaute Paula verdutzt an. Sie glaubte nicht recht gehört zu haben, errötete und hatte sichtlich zu tun, ruhig zu bleiben. „Sie irren sich, ich … ich hab’ Walpurga nicht verhätschelt. Es tut mir leid, dass Sie das so sehen.“ Sie wollte mit weiteren Argumenten fortfahren, war aber innerlich zu erregt, um auch nur einen weiteren Ton von sich geben zu können. Sie warf Paula einen verständnislosen Blick zu, drehte sich um und ließ sie einfach stehen. So schnell sie konnte, lief sie – den Leiterwagen mit dem jauchzenden Kind hinter sich nachziehend – zu ihrem Haus, das ganz in der Nähe war, und nahm Walpurga mit in ihre Wohnung. Natürlich hatte sich Irmi vorher Mathildes Einwilligung geholt, die nichts dagegen hatte, wenn sie das Kind gelegentlich mit zu sich nahm. Im Gegenteil, Mathilde war froh, dass jemand da war, der sich um die Kleine kümmerte.
Paula ihrerseits stand mit Tränen in den Augen da und wusste nicht, wie ihr geschah. Nachdem sie sich einigermaßen gefangen hatte, murmelte sie leise vor sich hin: „Zeit wird’s, dass die Schul’ anfangt!“, drehte sich um und wollte gerade ins Haus hinein, als sie, ganz in Gedanken versunken, den Ankömmling hinter sich nicht bemerkte. Erst als eine ihr vertraute Stimme fragte: „Was is’n los? … Is’ eana net guat? … Kann i eana helfen?“, erkannte sie Frau Mayringer. Einen Moment lang war sie geneigt, ihr Herzeleid der Frau anzuvertrauen, besann sich aber und schüttelte nur den Kopf.
„Na, der Quasseltante sag i nix!“, dachte sie zu sich. Sie schloss die Tür auf, und gemeinsam gingen sie ins Haus.
Nachdem Irmi Walpurga kurz vor halb sechs wieder bei Mathilde abgeliefert hatte, flüchtete sie förmlich zurück in ihre Wohnung. Den Rest des Abends verbrachte sie mit verschiedenen Alltagsarbeiten.
Als sie später im Bett lag, überlegte sie fieberhaft, wie sie dieses leidige Problem am besten aus der Welt schaffen könnte. Irmi blickte verloren auf ihr Hochzeitsbild, das an der gegenüberliegenden Wand angebracht war. Es musste dringend etwas geschehen. Aber was? Während sie so dalag und hin und her wälzte, schlief sie mitten in ihren Überlegungen ein. Irmi träumte, dass ihr Mann nach langer, entbehrungsreicher Zeit zu ihr zurückgekehrt war, sie drei Kinder bekam und ihre Welt rundherum in Ordnung war.
Nach einem unruhigen Schlaf lief Irmi gleich am nächsten Morgen entschlossen zu Paula. Während sie die Treppe zum ersten Stock hinaufstieg, war sie nahe daran, ihr Vorhaben wieder aufzugeben. Sie erwartete, mit einer gehörigen Standpauke empfangen zu werden. Nichts dergleichen passierte. Paula blieb schweigend auf der Schwelle stehen und sah Irmi fragend an. Irmi ihrerseits nahm sich ein Herz und sagte: „Ich möchte mich entschuldigen, dass ich … dass ich so egoistisch g’handelt hab’.“ Diese Worte kamen zwar schwer über ihre Lippen, aber sie wollte einfach keine feindselige Stimmung in ihrer unmittelbaren Umgebung aufkommen lassen. Paula hob abwehrend die Hand. „Ach was, es ist ja nicht zu übersehen, dass sich die Kleine bei eana wohl fühlt.“ Paula redete weiter, wie es dem Kind guttun würde, ständig unter Aufsicht an der frischen Luft zu sein … „Und das ist schließlich das Wichtigste!“, endete sie ihren Kommentar.
Irmis erstes Gefühl war eine große Erleichterung. Ihr zweites Gefühl war allerdings nicht so gut. Sie fragte sich nämlich, ob diese plötzliche Sinneswandlung ehrlich gemeint war.
Einen Tag vor Schulbeginn begegnete Irmi am späten Vormittag Paula, die mit Walpurga zum Krämer am Ende der Straße unterwegs war. Nachdenklich blickte sie in die blauen Augen von dem Kind. Dann beugte sie sich zu der Kleinen hinunter und flüsterte: „Mach’s gut, kleine Walpurga. Eines Tages kommst auch du zu mir in die Schule.“
Walpurga streckte beide Ärmchen aus und wollte sich an ihr festhalten. Irmi konnte einer Umarmung im letzten Moment ausweichen, indem sie sich abwandte und in Windeseile davonrannte … zurück in ihre Wohnung, wo sie ihren Tränen freien Lauf ließ.

***

Das Leben ging weiter und Walpurgas erster Schultag stand vor der Türe. Sie war an dem Tag mächtig aufgeregt, zumal sie endlich wieder Irmi nahe sein konnte. In ihrem adretten, blauweiß getupften Kleidchen und den mit einer Schleife zusammengebundenen blonden Haaren bot sie einen äußerst niedlichen Anblick.
Walpurga war – im Gegensatz zu ihrer Sitznachbarin – eine gute, aufmerksame Schülerin. Sie lernte leicht und begriff sofort alles.
Im zweiten Schuljahr musste Irmi vorübergehend – so hoffte sie – die Klasse an eine andere Lehrerin, an Fräulein Riedl, abgeben.
Irmi bat Fräulein Riedl, ein besonderes Augenmerk auf Walpurga zu haben.
„Was ist denn so Besonderes an der?“, wollte Fräulein Riedl mit fragendem Gesichtsausdruck wissen.
„Was, weiß ich auch nicht. Etwas Besonderes eben.“ Irmi überlegte kurz, dann meinte sie:
„Sie ist halt ein sehr zerbrechliches und sensibles Kind.“ Fräulein Riedl zog die Augenbrauen hoch und sagte: „Glaub i schon, aber das sind doch heutzutag’ viele Kinder. Ich lehn’ es einfach ab, dass man ein Kind bevorzugt.“
Irmi errötete und sagte mit energischer Stimme: „Ich hab Walpurga nicht bevorzugt. Sie wurde von mir nicht anders behandelt als die anderen. Aber sie ist ein Kind, das einer besonderen Fürsorge bedarf. Außerdem sie ist sehr intelligent … und lernt fleißig!“
„Warum muss ich mich eigentlich schon wieder rechtfertigen?“, dachte Irmi zu sich. Zugleich wurde ihr klar, dass sie scheinbar mit ihrer Bitte an die falsche Person geraten war.
Eines Tages, Irmi war in der Pause gerade im Schulhof mit ihrer Kollegin Fräulein Riedl – die bei den Schülern nicht sonderlich beliebt war – in ein Gespräch verwickelt; als sie Walpurga alleine in einer Ecke stehen sah. Sie entschuldigte sich bei der Kollegin und eilte zu Walpurga hin. Besorgt fragte sie:
„Was ist mit dir? Warum bist du nicht bei den andern?“ Walpurga warf Irmi einen verzweifelten Blick zu. Einen Blick, den Irmi noch gut in Erinnerung hatte. „Fehlt dir was, tut’s wo weh?“ Walpurga schüttelte den Kopf und flüsterte: „I will, dass Sie wieder unsere Lehrerin sind!“ Verwirrt wusste Irmi momentan nicht, was sie sagen sollte.
„Aber … aber Fräulein Riedl ist doch auch ganz nett?“, versuchte Irmi, besänftigend (obwohl sie wusste, dass ihre Kollegin bei den Schülern nicht sehr beliebt war) auf Walpurga einzureden. Gleichzeitig bekam sie mit, dass die anderen schon ihr Augenmerk auf sie richteten. Sie strich Walpurga flüchtig über das Haar und sagte leise. „Geh jetzt wieder zu deinen Klassenkameraden, ich kriege euch vielleicht eh bald wieder.“
Doch es sollte anders kommen, ganz anders:
Es war gegen Ende des zweiten Schuljahres, als Irmi zur Direktorin, Frau Gampel, einer kleinen untersetzten Person, hinbestellt wurde. Irmi lief die Treppe hinauf, wo sich am Ende des zweiten Stockwerks das Direktionszimmer befand. Sie holte tief Luft, dann klopfte sie zaghaft an die Tür.
„Kommen S rein“, rief Frau Gampel, eine verbitterte alte Jungfer – mit strenger Stimme von drinnen heraus. Sie schaute Irmi – nachdem diese den Raum betreten hatte – mit prüfenden Augen an und deutete ihr, Platz zu nehmen. Irmi setzte sich langsam auf einen leeren Sessel und zog sittsam ihren Rock zurecht.
„Ich will nicht lang um den heißen Brei reden. Ich weiß, dass Sie zurzeit viel zu tun haben. Aber mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie die Schülerin Walpurga Binder, na, sagen wir mal … besonders ins Herz g’schlossen haben. Ist das so?“
Frau Gampel blickte Irmi abwartend an. Irmi errötete und richtete den Blick verstört zu Boden. Sie überlegte hin und her, was sie antworten solle.
„Nun, da es scheinbar so ist, werden wir möglicherweise nicht umhinkommen, Sie zu versetzen.“
Irmi schaute ein wenig zerstreut auf. „Was wollen S damit sagen?“
„Ich sagte, dass Sie möglicherweise in eine andere Schule versetzt werden!“ Irmi überlegte, was sie jetzt am besten erwidern sollte. Einen Augenblick schauten sie einander wortlos an: Die anmutige junge Frau und die alte Jungfer mit dem verkniffenen Mund. Schlagartig keimte zwischen den beiden eine ablehnende Haltung auf.

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