Der zärtliche Hauch der Illusionen

Der zärtliche Hauch der Illusionen

Waltraud Häcker


EUR 19,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 272
ISBN: 978-3-99146-252-1
Erscheinungsdatum: 12.10.2023
Eine junge Werbetexterin zwischen Angst vor ihrem Stalker und großer Liebe. Der Chef einer Werbeagentur im Zwiespalt zwischen unternehmerischem Denken und Naturverbundenheit. Und ein trauernder, verzweifelter Künstler auf der Suche nach neuem Lebenssinn.
Prolog


Sie fiel ihm sofort auf, wie ein Magnet zog sie seinen Blick auf sich, kaum dass er die Max Bar, am Marktplatz, betreten hatte. Ihr blondes, langes Haar, ihr bildhübsches Gesicht, ihre strahlend blauen Augen und ihr Lächeln, dieses bezaubernde Lächeln, das sie ihm schenkte, als ihre Blicke sich trafen. Die Bar, mit ihrem französischen Flair in der Altstadt von Heidelberg, war brechend voll und sie saß zusammen mit drei jungen Männern an einem Tisch gleich neben dem Eingang. Er ging zur Theke und bestellte sich ein Bier. Kannte er sie? Er konnte sich nicht erinnern, ihr je begegnet zu sein. Verstohlen beobachtete er sie aus den Augenwinkeln. Sie war bestimmt zwei oder drei Jahre älter als er und trug ein rotes, leichtes Sommerkleid, das sich eng an ihren schlanken Körper schmiegte. Der Barkeeper brachte sein Bier und er nahm einen kräftigen Schluck. Vielleicht hatte sie gar nicht ihn gemeint, sondern den Mann, der mit ihm die Bar betreten hatte, und er hatte sich eingebildet, dass dieses Lächeln ihm gegolten hatte. Ja, bestimmt, sie hatte nicht ihn gemeint.
Ein blonder Typ neben ihm sprach ihn an. Er hieß Lars und erzählte ihm, dass er hier in Heidelberg studiere und öfter mal in diese Bar komme.
– Sie ist etwas ganz Besonderes, sagte er, ein Stück Frankreich mitten in Heidelberg. Die Inhaber haben das gesamte Inventar dieser Bar in Antiquitätengeschäften, auf Flohmärkten oder aus Privatbesitz in Frankreich gekauft, um ihren Traum von einer authentischen Pariser Arbeiter-, Studenten- und Künstler-Bar hier in Heidelberg verwirklichen zu können.
Er hörte ihm kaum zu, seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf sie, auf diese äußerst gutaussehende Frau, die immer wieder ihren Blick auf ihn richtete. Ein irritierendes, prickelndes Gefühl durchflutete ihn und er konnte nicht anders, als auch immer wieder zu ihr zu schauen, möglichst unauffällig. Lars redete weiter auf ihn ein, erklärte ihm, dass die alte Theke aus einem Schuppen in Le Mans und die Tische, Stühle und Originalmetrobänke aus einem Lager in Épinay-sur-Seine stammen. Er ließ ihn reden. Auch dass Lars für ein Jahr nach Amerika gehen würde und dringend einen Käufer für sein Golf Cabriolet suchte, interessierte ihn nicht.
– Ich bin Student, sagte er, ich kann mir kein Auto leisten. Ich bin froh, wenn ich mit dem, was ich mit meinen beiden Jobs verdiene, einigermaßen über die Runden komme, zudem brauche ich hier in Heidelberg auch gar kein Auto.
Wieder richtete sie ihren Blick auf ihn.
– Ich glaube, die interessiert sich für dich, meinte Lars und grinste.
– Wer?
– Na, die hübsche Blondine, siehst du denn nicht, wie sie immer wieder zu dir herüberschaut?
– Zu mir?
– Na klar, das sieht man doch, erwiderte Lars. Er blickte zu ihr, direkt in ihre Augen. Sekundenlang lächelte sie ihn an.
– Also ich verzieh’ mich dann mal, sagte Lars, und falls du dir das mit dem Cabriolet doch noch anders überlegen solltest, hier meine Telefonnummer, du kannst jederzeit eine Probefahrt machen, wenn du möchtest.
Lars hatte seinen Platz kaum verlassen, da stand die blonde, junge Frau auf, kam auf ihn zu, stellte ihr Cocktailglas neben sein Bier auf die Theke und fragte mit einem aufreizenden Augenaufschlag: Darf ich? Während sie sich, ohne seine Antwort abzuwarten, graziös auf den freigewordenen Barhocker von Lars schob. Er starrte sie perplex an, war so irritiert, dass er gar nicht gleich wusste, was er sagen sollte.
– Oder störe ich Sie? Möchten Sie lieber allein sein? fragte sie.
– Nein, Sie stören nicht, überhaupt nicht, erwiderte er, nach dem ersten kurzen Überraschungsmoment, mit einem charmanten Lächeln. Aber wer hätte das nicht gesagt? Wer hätte so eine attraktive Frau zurückgewiesen?
– Ich heiße Sylvia und bin Studentin des Studiengangs Media Management und Werbepsychologie. Meine Freunde nennen mich Sylvie, wenn Sie möchten, können Sie auch Sylvie sagen. Wie sie ihn ansah. Was wollte diese Frau von ihm? Er fühlte sich befangen, wandte sich von ihr ab und starrte auf die aufgereihten Flaschen hinter der Theke. Ihr offensichtliches Interesse an ihm, ausgerechnet an ihm, wo doch noch haufenweise andere Männer hier in dieser Bar waren, irritierte ihn … und es faszinierte ihn, es schmeichelte seinem Ego.
– Warten Sie auf Ihre Freundin? fragte sie.
Er antwortete nicht. Er hatte keine Freundin. Seine letzte Beziehung lag über ein Jahr zurück. Sylvie, sein Blick glitt prüfend über ihr Gesicht. Womit hatte er das verdient? Was war denn so Besonderes an ihm, dass die Wahl dieser bildhübschen Frau gerade auf ihn gefallen war? Sie fing seinen fragenden Blick auf und lächelte, ein entwaffnendes, hinreißendes Lächeln, ein Lächeln, dem man nicht widerstehen konnte, das man erwidern musste, ein Lächeln, das diesen Abend interessant und prickelnd machte.
– Bist du öfter hier? Studierst du in Heidelberg? Wie selbstverständlich ging sie vom ‚Sie‘ zum ‚Du‘ über.
– Ja, ich studiere hier, aber in dieser Bar war ich noch nie, es ist heute das erste Mal.
– Und gefällt sie dir? fragte sie.
– Ja, sie gefällt mir, sehr gut sogar, erwiderte er. So eine authentische, französische Bar hier in Heidelberg, das ist wirklich etwas Außergewöhnliches und hat einen ganz besonderen Charme.
– Ja, da hast du recht, sagte sie. Es gibt kaum jemanden, dem es hier nicht gefällt. Selbst französische Touristen sind vom Ambiente dieser Bar fasziniert und ich finde es sehr schön, dass wir uns heute hier begegnet sind. Was für ein glücklicher Zufall. Für einen flüchtigen Moment legte sie ihre Hand auf seinen Arm. Ein Kick schoss durch seinen Körper, warm, wohltuend, erregend schön. Ja, was für ein glücklicher Zufall, dachte er, und seine Gedanken gingen zurück zu den einsamen Abenden in den letzten Monaten. Dennis und er lebten seit Beginn ihres Studiums zusammen in einer WG, zwei Zimmer, Küche mit Essecke und Bad. In den ersten Monaten waren sie öfter zusammen unterwegs gewesen. Doch dann hatte Dennis Lara kennengelernt. Er hatte nichts gegen sie, nur dass sie fast jeden Abend kam und erst am nächsten Morgen wieder ging, das störte ihn. Die Wände in dem alten Fachwerkhaus waren sehr hellhörig. Er hörte ihr Lachen, ihr Herumalbern und fühlte sich einsam. Da hatte er begonnen, neben seinem Job im Supermarkt, abends auch noch an der Tankstelle zu arbeiten, um nicht ständig Zeuge dieses jungen Glücks, ihrer nicht zu überhörenden Liebe, zu sein. An manchen Abenden war er auch nur ziellos durch die Straßen gelaufen und erst spät in der Nacht wieder zurückgekehrt. Und heute hatte er sich entschlossen, hier in dieser Bar, von der er schon gehört hatte, ein Bier zu trinken.
– Was machst du eigentlich in den Semesterferien? fragte sie.
– Ich werde arbeiten, erwiderte er.
– Und sonst, was machst du, wenn du nicht arbeitest? Erzähl mir etwas von dir. Sie rückte näher an ihn heran und er erzählte ihr bereitwillig alles, was sie von ihm wissen wollte, von seiner Kindheit bis zu seiner Studienzeit hier in Heidelberg. Sie sah ihn unablässig an und hörte sehr interessiert zu.
– Du arbeitest zu viel, sagte sie dann. Ich finde es natürlich sehr anerkennenswert, dass du zur Finanzierung deines Studiums so viel beiträgst, aber du kannst doch nicht immer nur arbeiten, ab und zu musst du dir doch auch etwas gönnen, dich für deine Alltagsmühen mit etwas Besonderem belohnen, Spaß haben und das Leben genießen. Er sah sie an. Sein Leben genießen, wie recht sie hatte. Was leistete er sich denn schon? Sein Tagesablauf war doch so streng getaktet, dass es kaum Raum für irgendetwas anderes gab. Sylvie, wie sie ihn ansah, dieser zärtliche Zug um ihren Mund, diese Wärme und Herzlichkeit, die sie verströmte, die erregende Berührung ihrer Hand, die gerade sanft über seinen Arm strich. Und plötzlich war sie da, die Sehnsucht, die Sehnsucht nach dieser Frau, nach ihrer Nähe, ihrer Zärtlichkeit. Er konnte seinen Blick kaum von ihr wenden, nicht von diesem zauberhaften Lächeln, das ihn so wohlig umfing und sich ohne große Mühe in sein Herz stahl. Was für ein wundervoller, vielversprechender Abend, nach den vielen einsamen Monaten. Sie lächelte noch immer, griff dann nach ihrem Cocktailglas, trank einen Schluck und erzählte ihm anschließend, dass sie hier in Heidelberg aufgewachsen sei und immer wieder gerne hierherkomme, um sich mit Freundinnen oder Freunden zu treffen. Und dann berichtete sie ganz begeistert von ihrem Studium und auch von Freud, Adler und Jung, den drei großen Pionieren der Tiefenpsychologie, vom Ich und Über-Ich und der wissenschaftlichen Erforschung des unbewussten Seelenlebens.
– Ich bin beeindruckt, was du so alles weißt über die Macht unseres Unbewussten, mit all seinen Wünschen und Sehnsüchten, die oft, fernab von Vernunft und Moral, unser Leben steuern. Doch noch beeindruckender fand er es, dass sie nur Augen für ihn hatte, ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte und ihn so ganz ungezwungen ihre Freude spüren ließ, ihn hier in dieser Bar getroffen zu haben. Sylvie, was für eine außergewöhnliche, faszinierende Frau. Von ihr fühlte er sich verstanden und wahrgenommen, fühlte sich geschmeichelt, wenn sie ihn mit Komplimenten überhäufte und mit ihrem psychologisch geschulten Blick Talente an ihm entdeckte, von denen er gar nicht wusste, dass er sie besaß. So einer Frau war er noch nie begegnet. Er genoss ihre Nähe, ihr sympathisches Lächeln, das nur ihm galt und sonnte sich im wärmenden Licht ihrer Bewunderung. Sie gab ihm, wie noch keine andere Frau zuvor, das Gefühl etwas Besonderes zu sein, interessanter und anziehender zu sein als all die anderen Typen hier in dieser Bar. Und das, das tat ihm so verdammt gut.
– Vor Kurzem habe ich an einem Experiment teilgenommen, bei dem es darum ging, das Kaufverhalten der Kunden in einem Supermarkt zu beeinflussen, ihre Einkaufsmenge ganz gezielt zu erhöhen, berichtete sie dann, und ich muss sagen, ich war über das Ergebnis sehr überrascht. Kunden, die nur mal schnell eine Kleinigkeit kaufen wollten, sind dann oft mit weit mehr im Einkaufswagen zur Kasse gefahren.
– So naiv ist doch kein Mensch, dass er sich so beeinflussen lässt, das glaube ich einfach nicht, sagte er und fügte dann noch hinzu: Mir könnte so etwas jedenfalls nicht passieren.
– Wirklich nicht? fragte sie mit einem süffisanten Lächeln.
– Nein, wirklich nicht, mein knappes Budget würde so etwas gar nicht zulassen. Zudem würde ich, wenn ich nur eine Kleinigkeit kaufen möchte, keinen Einkaufswagen mitnehmen.
– Nun, das sind natürlich schon Argumente, nur solltest du den Job der Psychologen, Marketing- und Werbeexperten nicht unterschätzen, sie sind Profis. Ihre Arbeit, die Kunden mit immer effizienteren Methoden zum Kaufen zu verführen, ist ein sehr subtiles, äußerst perfektes, psychologisches Kalkül, das Ergebnis jahrzehntelanger intensiver Forschung. Da wird nichts dem Zufall überlassen, alles wird bis ins kleinste Detail nach den modernsten Erkenntnissen der Wissenschaft geplant und im besten Licht präsentiert. Und der Kunde, umschmeichelt von dezenter Musik, verführerischen Düften und dem ausgeklügelten Spiel von Licht und Farbe, bemerkt gar nicht, wie sehr wir seine Kaufentscheidungen beeinflussen, wie wir seine Aufmerksamkeit wecken, seine Schritte lenken, seine Wünsche und seinen Willen formen und er, wie von magischen Kräften geführt, Dinge kauft, von denen er vorher gar nicht wusste, dass er sie braucht. Aber lassen wir das, wir müssen nun wirklich nicht, an einem Abend wie heute, über die Beeinflussungsmethoden in einem Supermarkt sprechen, da gibt es doch bestimmt noch andere Themen, meinst du nicht auch? Ihr Blick zu indiskret, viel zu indiskret. Er setzte sein Glas Bier an die Lippen und trank es in einem Zug leer.
– Es ist so schön hier mit dir, flüsterte sie. Ihr Parfüm umhüllte ihn, ihre Worte streichelten ihn und ihr lasziver Blick erregte und fesselte ihn. Er konnte das alles kaum fassen.
– Warst du schon einmal in Paris, fragte sie.
– Ich, nein, erwiderte er.
– Paris ist eine großartige Stadt. Meine Freundin Gina studiert an der Sorbonne Romanistik und ich habe sie schon zweimal in den Semesterferien besucht. Dieses Jahr geht das leider nicht. Gina hat in der Hemingway Bar, im Hotel Ritz, einen Franzosen kennengelernt und sich sofort in ihn verliebt. Liebe auf den ersten Blick, da hat sie jetzt keine Zeit für mich. Schade, wirklich schade, ich wäre auch dieses Jahr gerne wieder nach Paris gefahren, ich hatte mich schon so darauf gefreut. Nun ja, c’est la vie. Und gestern, gestern hat sie mich angerufen und gesagt, dass sie mit ihrem Freund auf dem Montmartre-Hügel war und er hätte sie vor der Liebesmauer, auf der der Satz Ich liebe dich, in 311 Sprachen verewigt ist, in die Arme genommen und zu ihr gesagt: Je t’aime. Vor der Liebesmauer auf dem Montmartre-Hügel, das ist doch so was von romantisch. Ein besseres Ambiente kann man sich für diese drei schönsten Worte doch gar nicht vorstellen. Und dann auf Französisch: Je t’aime. Ich finde, das klingt einfach viel besser als auf Deutsch, melodischer, romantischer, das hat einfach einen ganz besonderen Charme, findest du nicht auch?
– Ja schon, da hast du recht, antwortete er.
– Und dann, dann sind sie zusammen zur Brücke Pont des Arts gegangen und haben ein Liebesschloss mit ihren Namen an das Brückengeländer gehängt, sich dabei ewige Liebe geschworen und den Schlüssel anschließend in die Seine geworfen. Als sie mir das alles erzählt hat, hat mich das tief berührt und ich habe sie beneidet um diesen Mann, so einen romantischen Freund hatte ich noch nie. Sichtlich gerührt von ihren Worten und ihrem traurigen Blick, hätte er sie beinahe tröstend in seine Arme genommen, doch dann legte er nur kurz und ein wenig verlegen seine Hand auf ihren Arm. Sie blickte dankbar zu ihm auf und erzählte dann weiter von Paris, von den Highlights, die man unbedingt einmal gesehen haben muss, vom Eiffelturm, von der Basilika Sacré-Coeur, vom Louvre und auch von Ernest Hemingway, der zu Aaron Hotchner gesagt hat: Wenn du das Glück hattest, als junger Mensch in Paris zu sein, dann trägst du die Stadt für den Rest deines Lebens in dir, wohin du auch gehen magst …
– Ja, wer könnte diese faszinierende, betörende Stadt der Liebe, mit ihrem Charme, mit ihrer Leichtigkeit des Seins, vergessen, wenn er einmal dort gewesen ist, fuhr sie fort, wenn er einmal auf der Avenue des Champs-Élysées dieses glamouröse Flair genossen hat, wenn er einmal das Nachtleben in den Clubs, Diskotheken oder im Moulin Rouge erlebt hat. Wenn er einmal mit seiner großen Liebe am Quai Saint-Bernard unterm Sternenhimmel getanzt hat? Für mich ist und bleibt Paris die romantischste Metropole der Welt, ein Sehnsuchtsort, der alles bietet, was Verliebte sich wünschen.
Ihre Hand, die wie vergessen schon länger auf seinem Arm lag, ihr rotes, kurzes Kleid, das noch weiter nach oben gerutscht war, ihre gebräunten Beine, die die seinen berührten, ihr zärtlicher Blick und ihre roten, auffordernden Lippen, die immer näherkamen.
– Spürst du sie auch manchmal, diese Sehnsucht? hauchte sie, diese Sehnsucht, die aus dem Alltag ausbrechen will, die das Leben, die Liebe in vollen Zügen genießen will, diese tiefe Sehnsucht, die unsere Träume und Wünsche wahr werden lassen will? Sie sah ihn sehr innig an und fuhr dann fort: Sollte man so einer Sehnsucht nicht eine Chance geben?
Der Lärm in der Bar trat zurück, die anderen Gäste hörten auf zu existieren. Für ihn gab es nur noch sie, sie, die plötzlich mit ihren Fingerkuppen sanft über seine rechte Wange strich, sie, die mit ihren Worten und Gesten unverhohlener Zärtlichkeit ein kaum noch zu unterdrückendes Verlangen in ihm weckte. Sie, die mit ihrem innigen, liebevollen Lächeln selbst den letzten Funken Verstand in ihm auslöschte und mit ihrem sinnverwirrenden Charisma ihn so sehr in ihren Bann zog, dass er ihren Blick, mit dem sie ihn immer wieder, nur für den Bruchteil einer Sekunde, scharf taxierte, gar nicht bemerkte. Dieser alles durchdringende, gnadenlos berechnende Blick, mit dem sie jede seiner Gesten, jede kleinste Gefühlsregung an seiner Mimik genauestens registrierte, um jedes ihrer Worte sehr sorgfältig darauf abzustimmen, er bemerkte ihn nicht. Er beachtete auch nicht die Typen, bei denen Sylvia vorher gesessen hatte, sie interessierten ihn nicht, auch dass Lars jetzt bei ihnen saß, dass sie immer wieder zu ihm herüberblickten und grinsten, registrierte er nicht. Er sah nur noch sie, fühlte sich neben ihr so gut wie noch nie, schwebte schon auf Wolke sieben.


Jahre später
Donnerstag, 8. Juni 2006

Er stand am geöffneten Fenster und blickte auf das glitzernde Lichtermeer der Stadt Stuttgart, die bunten, leuchtenden Werbebotschaften, die immer größer und greller, um Aufmerksamkeit heischend, das Stadtbild bestimmten, den pulsierenden Verkehr und die vielen Menschen, die noch unterwegs waren. Menschen mit all ihren Wünschen und Sehnsüchten, inmitten dieses Lichterlabyrinths, in dieser Vergnügungs- und Konsumwelt, die auch nachts nicht zur Ruhe kam. Er hatte den obersten Knopf seines Hemdes geöffnet, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Es war ein warmer Sommerabend, der erste warme Sommerabend in diesem Jahr. Und während der Lärm der turbulenten Stadt zu ihm herauf drang, ruhte sein Blick minutenlang auf diesen Nachtschwärmern, die alle nichts versäumen wollten, die etwas erleben wollten, wenn ihre Sehnsüchte und die Nachtclubs zum Leben erwachten.
Er zündete sich eine Zigarette an und für einen kurzen Moment spürte auch er diese Sehnsucht, verlor sich in Erinnerungen, Träumen, die er einst geträumt hatte, doch dann wurden seine Gesichtszüge hart und seine Gedanken konzentrierten sich auf sie. Wie würde sie auf seinen Anruf reagieren? Würde sie gleich wieder auflegen? Zuzutrauen wäre es ihr. Und wenn schon, dachte er und nahm einen kräftigen Zug, blies den Rauch genüsslich in die Luft und sah zu, wie er nach oben stieg und sich in einem Spinnennetz über ihm in der linken Fensternische verfing. Es würde sein Vorhaben nicht nennenswert verändern, nein, das würde es nicht. Und doch, plötzlich war da ein unbehagliches Gefühl, doch nur so flüchtig, dass es ignoriert werden konnte.
Er heftete seinen Blick erneut auf das fragile Gebilde zwischen Fensterrahmen und Mauerwerk. Mit einem fast wissenschaftlichen Interesse betrachtete er fasziniert die fein gesponnenen, fast unsichtbaren Fäden dieses Spinnennetzes. Die Spinne, die diese meisterhafte Konstruktion geschaffen hatte, konnte er nirgends entdecken, aber irgendwo war sie, irgendwo saß sie lauernd und wartete auf ihr Opfer. Was für ein intelligentes Tier, was für eine perfekt ausgeklügelte Strategie, dachte er, und instinktiv huschte ein amüsiertes, anerkennendes Lächeln über sein Gesicht. Das Opfer, es würde kommen, das wusste die Spinne, sie musste es dazu nicht zwingen, völlig freiwillig würde es in ihr Netz fliegen und sich in diesen hauchdünnen, kaum sichtbaren Fäden verfangen. Die Spinne musste nur warten. Und während die Stadt, in der sie lebte, sich im Ausnahmezustand befand, saß sie, ungerührt von diesem ganzen Treiben, hier irgendwo in ihrem Versteck und wartete.

Er wandte sich vom Spinnennetz ab und sah hinunter auf die Straße, wo ein paar Jugendliche fahnenschwenkend vorbeizogen und Fußball ist unser Leben, denn König Fußball regiert die Welt grölten. Fußball, seit Wochen, ja Monaten, drehte sich in erwartungsfroher Stimmung alles nur noch um König Fußball, um einen Ball, zusammengesetzt aus schwarzen und weißen Fünf- und Sechsecken, der seine uneingeschränkte Herrschaft angetreten hatte und die Marketing- und Werbemaschinerie zu Hochtouren auflaufen ließ. Überall in den Schaufenstern Bälle, umlagert von Fußball-Accessoires, von der FIFA-Kappe bis zu den passenden Fußballsocken, Fußball-Suppe auf dem mit Fußball dekorierten Geschirr, Kugelgrill in Fußball-Form, WM-Fußballer aus Quarkteig oder kickende Gartenzwerge. Das Geschäft mit dem Ball boomte. Alle spielten mit, die Konsumgüterindustrie und der Handel, die Gastwirte, Metzger, Bäcker und Event-Veranstalter, und die Werbung sowieso. Die FIFA-Sponsoren, die eine Menge Geld investiert hatten, brachten eine gigantische Vermarktungswalze ins Rollen. Sie überließen nichts dem Zufall. Keiner durfte ihren Werbebotschaften entkommen, der allgegenwärtigen WM-Manie, diesem Milliardengeschäft rund um den Ball.

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