Der tiefe Sinn und das Äquivalent des Händewaschens

Der tiefe Sinn und das Äquivalent des Händewaschens

Hendrik Senner


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 264
ISBN: 978-3-99146-147-0
Erscheinungsdatum: 24.07.2023

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War’s Sommer noch oder schon junger Herbst? Kalenderdaten beiseite, war es jedenfalls subtropisch warm, die Natur prangte in zeitlos üppiger Fülle in den ihr noch zugestandenen Bereichen, dazu funkelte die Sonne in tänzerischem Glitzern auf dem träge schwappenden Strom infolge maschineller Verwirbelungen durch zahlreiche Schiffe mit unterschiedlicher, wohl vorwiegend touristischer Funktion. Dazu auch der Verkehrslärm oberhalb der Uferpromenade, der ein Aufkommen idyllischer Empfindungen im Ansatz abwürgte, den irritierten Blick freisetzte über das lautmalende Menschengewimmel zum Schweifen über die imposante Großstadtkulisse aus zeittypischen Bauten von ufersäumenden Villen – unzerstört oder wieder neu errichtet – zu den unvermeidlichen Türmen der Moderne mehr als der Kirchen.
Fortschreitend kehrte die Wahrnehmung auf die unmittelbare Umgebung zurück, vermied absichernd Begegnung, Hindernisse, verhielt bei einer lässig gelagerten menschlichen Gestalt vorübergehend, deren genußmüde geschlossenen Augen möglicherweise durch wahrgenommene Aufmerksamkeit belebt sich an mich hefteten und in meiner Verfolgung den gesamten Organismus gemächlich aus seiner Position löste. Vermeintlich ungezielte Bewegung konkretisierte sich bald in meine Richtung, wobei eine definitive Absicht noch nicht klar erkenntlich, wiewohl aber zu vermuten war. Zeit also noch für prinzipielle Vermeidung. Jedoch wankte die mittelalte, verfilztbärtige, ausgemergelte, äußerlich vernachlässigte Gestalt in abgerissener, dauer- nicht gelegenheitsschmutziger, doch exotischer Kleidung in ungefähr meine Richtung. Ahnungsvoll vermeidungsgewillt beschleunigte ich meine Schritte, damit allerdings eine Beziehungsaufnahme beweisend, wandte meinen Blick in Abschätzung einer möglichen Begegnung von ihrem an der Promenadenwand gelagerten Bündel über die schwankende Person in meine ursprüngliche Laufrichtung, seine Bewegung im peripheren Blickfeld kontrollierend. Doch nach einer kurzfristigen Verzögerung beschleunigte er seine Schritte und hielt entschlossen gezielt auf mich zu. Bei annähernd gleicher Schrittfolge war eine Begegnung nicht mehr zu vermeiden und entsprechend stand er mir baldigst obstruierend im Wege. Peinlich berührt, gleichsam enttarnt, machte ich ein paar Ausfallschritte, die er richtungsändernd kompensierte. Und jetzt seinen Mund öffnete zu einer schwer verständlichen Sprache bezüglich Nationalität und auch Artikulation, eigenartig jedenfalls, undeutlich, gepreßt leise, fast verlegen. Sie ließ an eine Anomalie des Sprechapparates denken, eine Fehlbildung des Mundes oder des Gaumens, was aber bei flüchtigem Blick auch wegen des Bartes nicht sicher zu erkennen war, warum nicht auch Alkohol oder Drogenwirkung, was immer, jedenfalls brachte er das erwartete Wesentliche zum Ausdruck : Geld, freilich, wie sonst war sein Gestammel zu interpretieren, er fragte allerdings monoton gleichmütig wie nach dem Wochentag, dem Datum, der Uhrzeit oder den Wetteraussichten beispielsweise für morgen, irgendwie höflich. Ich legte seine Frage wie gesagt erwartetermaßen so aus und war entsprechend von vornherein negativ gestimmt, abgesehen davon, daß ich einen Überfall nicht gänzlich ausschließen wollte. Absichernd umklammerte ich meine Geldbörse und sah mich nach Zeugen oder möglichem Beistand um. Aber von seiner Seite kam keine Bedrohung, etwas nachdrücklich scheint’s bewegte er eine Innenhandfläche zögernd aus seiner Körpervertikale geringfügig nach vorne, sie leicht und beliebig schwenkend.
Immerhin ließ sein dichter Bart ein relativ offenes Gesicht darunter vermuten, in dem sich seltsam matte Augen vertieften, die einer direkten Begegnung zunächst suchend auszuweichen schienen, dann aber doch zu einer Ausrichtung kamen, wobei eine struppige Haarfülle unwillkürlich eine Augenmaskenvorstellung aufdrängte. Ich trat einen Schritt zurück, um mir einen Eindruck von seinem gesamten Äußeren zu verschaffen, das freilich nur weitgehende Vernachlässigung offenbarte.
Die zögernde Hand war zwischenzeitlich wieder in die Senkrechte zurückgefallen. Ich wußte nicht, wie ich reagieren sollte, stand unschlüssig abwägend, verlor mich in Unbestimmtheit, war daran, meine Individualität dahinzugeben, vergewisserte mich mühsam durch seinen Außenreiz meiner Innerlichkeit und kehrte zur gegenwärtigen Situation zurück. Warum sollte ich seine Passivität unterstützen? Wurde mir mein Geld etwa geschenkt? Gab es nicht genug Möglichkeiten, seinen Lebensunterhalt zu bewerkstelligen bei entsprechender Eigeninitiative? Ich sah ihn jetzt nochmals abschätzend an, er wirkte trotz seines Äußeren nicht unsympathisch und irgendetwas weckte mein Interesse. Es war sicher keine Mitmenschlichkeit, eher seine abgehobene Gleichgültigkeit, sein Gesamteindruck oder einfach die augenblickliche Situation. Ich hielt meine Geldbörse weiter umklammert und fragte ihn, warum er überhaupt und dann ausgerechnet mich anbettelte, ja bettelte, Alter, Gesundheitsstatus, Lebenswille, Sinngebung bei bezweifelt vorausgesetzter diesbezüglicher Ansprechbarkeit, weitere Gemeinplätze. Mit seinen matten pupillengeweiteten Augen musterte er mich nun seinerseits eine Weile und zuckte schließlich mit seinen Schultern.



Zuvörderst war wesenlose Alternative: Urexistenz jenseits menschlicher Vorstellungsdimensionen und absolutes Nichts, und die Urexistenz war Energie und die Energie war Materie, Materie und Energie aber formten Schöpfung. Und die Schöpfung war somit Existenz und die Existenz somit Schöpfung. Die Schöpfung aber setzte sich fort, und alle Möglichkeiten sind in ihr und nichts kann sein, was nicht existierte. Die Existenz aber ist unbegreiflich, warum nicht auch sich selbst konträr ? Ihre Abkunft krümme sich also mit jeglicher Interpretation in vorläufiger Fragestellung, die nach Breitengraden, Denkweisen, Mentalität, Traditionen und Vorstellungsvermögen zu jeweils ihrer Zeit bedacht werde, die Existenz als solche sei jedoch über jeden Zweifel erhaben, die Begrifflosigkeit vor einem immerhin möglichen Beginn somit komprimiert, ein hypothetischer Energie-Materiekomplex unvorstellbaren Ausmaßes geballt, der Sonnenmyriaden geborsten, sich zu Systemen strukturiert, mit ihnen Beziehung und Raum geschaffen habe für mähliche Differenzierung. Beliebiges Wuchern zunächst, grenzenloser Fortdrang nach hintaufgezwungener Systematik, Gesetze nach dem Prinzip Versuch und Irrtum, doch jedem Anfang wohnt ein prinzipielles Ende inne, und im Sauseschritt nähern wir uns einer ungefähren Zahl von Jahrhunderttausenden vor unserer Zeit: ecce homo, offiziell sapiens, doch mit Weisheit allein wäre er nicht weit gekommen, treffender astutus: verschlagen, listig, schlau.
Die Wahrscheinlichkeit ist groß, daß er schrie, nachdem er aus dem flüssigwarmen, dunklen, schützenden, mütterlichen Schoß wehrlos nackt in das vergleichsweise technischkühle, trockene grelle Kreißsaallicht vereinzelt worden war, schrie aus mehreren Gründen, wie vorwiegend wegen der befreienden Weiterung des Brustkorbes und damit der Lunge durch die einströmende Erstluft, wohl auch wegen des Temperaturschocks und des jähen Lichteinfalls nach der vorangehenden völligen entwicklungslangen Dunkelheit, vielleicht auch wegen des traditionellen Routineklapses der diensttuenden Hebamme oder auch als Ausdruck des unbewußt instinktiven Protestes, gezeugt und in diese Welt gedrängt worden zu sein ohne zuvor erforschte Stellungnahme seinerseits als nachheriges Gedankenspiel. Überhaupt der Schrei nur als möglich erachtet, nicht notwendig oder nachweisbar in Ermangelung von Zeitzeugen. Auch fehlte anfänglich ein ideeller Hintergrund, abgesehen davon, daß eine eigenständige Urteilsfähigkeit zu diesem Zeitpunkt bisher nicht nachgewiesen und vernünftigerweise auch nicht vermutet werden kann. Dazu gaben die seinerzeitigen Umstände auch keine Veranlassung, wurde er doch in eine zumindest anzunehmend intakte Familie geboren als Ergebnis wohl einer theoretisch voraussetzbaren Entscheidung.
Da war ich also und in vager Erinnerung hatte alles seine Stimmigkeit etwa der derzeitig essentiellen Umstände: Nahrung, Wärme, Geborgenheit, Unterkunft, Schutz und Zuwendung. Das war – von den natürlichen Bedürfnissen abgesehen – für Momente die absolute Selbstbezüglichkeit, die aber bald aufgebrochen wurde durch den überkommenen klerikalen Vereinnahmungsakt der Taufe, auch hier wieder ohne meine Zustimmung, die freilich auch nicht zu erwarten war.
Und beispielhafte Evolution im Schnelldurchgang, Einfügung in übermittelte Tradition.
Dann nahm alles seinen natürlichen Verlauf: die Ersterfahrung der wunderbaren weiblichen Brust, wenn auch zunächst im belebend ernährenden Sinn, als erste intuitive Sinnesäußerung, und die Entdeckung der eigenen Körperlichkeit mit zunehmendem Verständnis. Tollpatschiges Schlenkern und Zucken der vorderen Extremitäten geriet zur gezielten Bewegung, die begleitende Programmierung zeitigte erste Kontaktaufnahme, die tastende Wahrnehmung der Finger ermöglichte Fassen, Befühlen, Besitzergreifen, mit Hilfe des Mundes als nächste Errungenschaft. Dann erfolgte die eigenständige Veränderung der Körperlage, die Aufrichtung zunächst des Kopfes mit Erweiterung des Gesichtskreises, des Oberkörpers, die erste Benutzung der Gliedmaßen zum Krabbeln, zum Sitzen, Stehen und baldigst zur Fortbewegung in vergleichsweise plumper Gangart. Der folgende Eroberungsdrang entlockte ein begeistertes Krächzen. All das vermerkt, verbunden, kombiniert bei beginnender Fähigkeit des verbalen Ausdrucks, der im weiteren Verlauf allerdings diametrale Anwendung beinhaltete. Doch zunächst: HIC SUM ! Und die Welt bot sich der Eroberung.
Vorerst jedoch kein kreatives Denken, Aufnahme nur, Programmierung, da Eigeninitiative noch unnötig, wurde ich doch ausreichend umsorgt. Doch je mehr Einzelergebnisse sich summierten, desto deutlicher ergaben sich Zusammenhänge und nach vermittelter Benennung und damit Beziehungsaufnahme bahnte sich ein versuchendes Denken an. Ich machte mir einen zugeteilten Namen zu eigen, lernte mich als Individuum zu begreifen, wurde aus Gedanken formendem Organismus zur konkreten Person. Die sich entwickelte, ausreifte, im Spiel er- und begriff mit der Beobachtung, der aufkommenden Frage: was. Hände ausgestreckt: schon frühkindlich vorweggenommen: haben, und dazu die transferierende Namensgebung: Apfel, Ball, Auto, was immer, in nahezu überwältigender Geschwindigkeit, Inbesitznahme auch der eigenen Person. Ich heiße, also existiere ich als Entität, wurde mir meiner selbst bewußt und machte mir ein Grundrecht des Besitzens zu eigen, wenn dies auch etwas später. Umsorgung erfolgte von außen, den Eltern, daher kindliche Sorglosigkeit. Mit dem aufkommenden Gefühl der vorerst hilfsbedürftigen Eigenständigkeit aber noch unbewußte Suche nach führender Gemeinschaft in Form der Kontaktaufnahme mit den körperlich größeren Erwachsenen, Schoß, Arm, Hand, sinnbildliches Streben nach oben, Lokalisation einer außerpersönlichen Zuflucht über mir. Und die fürsorglich traditionelle Ausrichtung auf ein wegweisend Obriges schon einmal.
Freilich: trotz all dem stand spielerisches Lernen im Vordergrund, das Sozialwesen Mensch schloß Freundschaft und entwickelte mit ihr zunehmende Selbständigkeit. Die Zeit raste unbemerkt, im Freund fand ich Gemeinsamkeit der langsam andrängenden Fragen, fühlte mich nur jung, stark, frei, warf mich übermütig in einen Gedankenstrudel, der mich abenteuerlich voranriß, rauschender, turbulenter, ja lustvoller schäumte, bis er dann unversehens versiegte. Hart schlug ich auf, strandete bei einem Wort: warum, ohne spezifischen Anlaß. Einfache Neugier? Damit aber überkam mich die Schwellenahnung einer prinzipiellen Begrenzung.
Das schloß Unmittelbares zunächst aus, Weiterführendes lag noch in weiter Ferne, war im Grunde nur Neugier, Wißbegierde, gedankliches Tummeln, Jugendsturm, Raumaustastung, Versuch einer Stellungnahme in einer zu entdeckenden Umwelt, indem ich die Bedeutung der Relationen herauszufinden trachtete. Das war gewiß mit einer unbändigen Lebenslust verbunden, obwohl die Nächte vereinzelt nicht zu kompensierende aufflackernde Gedankeneinsamkeit beinhalteten. Die ich zu übertünchen vermochte durch Verlängerung meiner tageszeitlichen Unternehmungen.
Dafür aber häuften die angeordneten Ruhepausen umso häufiger vielfällige Fragestellungen an, die in selbstschützender kindlicher Naivität dem Lebensalter zugeschrieben wurden. Er wollte seinem Unverständnis vorauseilen, lehnte sich gegen die noch nicht relevante Zeit auf: im Spiegel eines der Badezimmer zeichnete er die rätselhaft erscheinende Erwachsenenwelt nach durch Furchung seiner glatten Jugendstirn, Verschmälerung seiner Augen zu dieser geheimnisvollen Nachdenklichkeit, die immer wieder einen ehrfürchtigen Schauer in ihm wachgerufen hatte. Und wenn er mit seinen Grimassen zufrieden war, mußte er über sein läppisches Bemühen lachen. Doch manchmal gelang es ihm, Aufmerksamkeit zu erregen, was ihn unbeschreiblich aufwertete, wenn seine Mimik in seinem theatralischen Sinn verstanden wurde. Es ist nichts, winkte er dann resigniert ab, lächelte gequält, wie er es vor dem Spiegel geübt hatte und war stolz auf seine schauspielerische Leistung. Eine Glaubwürdigkeit dieser Schau war wohl auf sein Bangen um deren Erfolg zurückzuführen. War da aber etwa doch schon mehr dahinter?
So kam das Gymnasium keineswegs ungelegen. Zwar vergrößerte es die mählich aufkommende Verwirrung, obwohl oder gerade weil es eine gewisse Systematik in seine Denkweise einbrachte, die er mit seinem Freund spielerisch erprobte. Nachmittage und zunehmend Abende verbrachten sie in ihrer Freizeit erst mit körperlichen Aktivitäten und dann auch mit Diskussionen, die immer ausgedehnter wurden. Schlüsse waren zumeist aussichtslos, ihre Welt aber stand festgefügt, noch vierdimensional ordentlich, deshalb dazumal fraglos. Die Existenz gründete aus sich selbst und aus gefühlter Zugehörigkeit fügten sie sich vorbehaltlos in die empfundene Allgültigkeit zum Beispiel des Wetters, der Jahreszeit, der Stunde, die ablief aber identisch wiederkehrte ohne registrierte Vergangenheit, was ihnen eine verbindende Sicherheit gab. Allein der Gedanke an diese Freundschaft machte ihn weihevoll schaudern, erweckten diese Augenblicke doch eine unbekannte Ahnung.
Eines Tages, erstmalig müde des Spiels, des ergebnislosen Redens, einer gemeinsamen Unschlüssigkeit bei erschrockener Unfähigkeit der Trennung, stand der Freund nach einer kindlichen Endlosigkeit auf, ging zu einem Grammophon, hantierte daran herum, schnitt eine sich aufdrängende Frage ab mit einem Lächeln und einem Finger vor dem Mund, ließ die Jalousie herunter, setzte sich mit Körperkontakt neben mich. Ich spürte seine Nähe, seine wachsame Gespanntheit, seine reglose Hingabe, und versank dann meinerseits in traumhaft heitere Gedankenferne. Irgendwann war das, damals, daß ich erstmals Musik hörte, Ablenkungsmöglichkeiten aufgezeigt wurden, Widrigkeiten verblassten. Ein unbeschreibliches, bis dann nie erlebtes Glücksgefühl durchströmte mich, ich vergaß Gegenwart und Eigensein, war Klangkörper, Tonalität und entwand mich unversehens der körperlichen Schwere. Es dauerte nach den letzten Klängen eine träumerische Ewigkeit, bis ich mich wieder zurechtfand, zögernd meine vertränten Augen der wohligen Dämmerung öffnete, gleichsam berauscht war, und langsam nur verebbte mein Hochgefühl, in dem ich den Freund stürmisch umarmte.
Strandete bei dem Wort warum, das immer mehr, wie Grundrauschen, bis dahin klar scheinende Realitäten in Frage stellte. Der stabile Grund, auf dem er sich bisher in gemächlicher Gangart fortbewegt hatte, wurde klüftig, erwärmte sich stetig und zwang ihn zu rascheren, raumgreifenden Schritten, zu Sprüngen zuweilen, um jählings aufklaffende Tiefen zu überbrücken. Und passend kam da der Tanzkurs, der die Schrittfolge musikalisch ausrichtete. Auch die körperliche Nähe zu dem anderen Geschlecht, die plötzlich auftretende Fremdheit, das instinktiv empfundene Anderssein.
Die zunächst verlegene, dann bewußt besitzergreifende Umarmung, der Drehschwindel, die Ausgelassenheit, der jugendliche Überschwang, all das war neu, aufregend, motivierend. Und doch stieß das warum immer wieder durch, er verfiel öfters in stumpfsinnig negierende Niedergeschlagenheit, aus der ihn keiner der Schulkameraden herausholen konnte. Nur seinem Freund gelang es häufig. Wenn er auch mit diesem in den meisten Fällen zu keiner Problemlösung kam, führten die gemeinsamen ausgelassenen Aktivitäten doch zu einer Erschöpfungspause und nach kurzer Erholung oft in das ersehnte Zauberreich der Musik.
Sommerferien dann, Fragenpause, keine obstrusen Vermutungen, kein Zweifeln, Grübeln, seltene Niedergeschlagenheit, dafür Fülle, Schönheit, Leichtigkeit auf bereitschaftsbeliebigen Abruf. Jugend, die sich zukunftsgewandt einem verantwortungsgichtigen Zugriff entzog, Augenblicke, deren Kreisempfindung alle Fragen schon in ihrer Stellung beantwortet vermeinte, Erschöpfung ruhte nach vollbrachter Zeugung, Geborgenheit bot der schwellenden Frucht: die heranreifte zu umfassender Geltung.
Kein Zufall, daß die Geburt in diesen Sommer fiel, der das Land in übermächtiger Wucht vereinnahmte: strotzende Reife blinzele Erwartung, Sattheit schmatzendes Schwappen tändele Abgrenzung, lockendes Balzen imitiere Erfüllung, Mutwillen breite zeitlose Orgie, Leuchtkäfer funkeln im scheidenden Licht.
Dazu die duftschweren Nächte der Freundschaft, euphorische Heiterkeit, noch geschlechtslose Zuneigung: Freund, Mensch! Es ging ja doch zeitweise ohne Zweifel. Mensch, weiteres verschluckt in gänzlich unpassendem Jungengekicher, Bestätigungseilen, Hastkeuchen. Und vor allem die anderen Nächte, Götterdämmerung, Ahnungsscheu, glückliche Akzeptanz der Vorgabeneinsicht, Weltbrüderschaft, Möglichkeitsphantasie, Tränen gar elysäischer Liebe. Pathos dehne jugendliche Behältnisgrenzen, schäume über zu hehrem Gesang: Dank Götter Dank! Pubertäres Empfinden eben.
Welch kindlicher Geniestreich: Kompetenzzuordnung an eine Institution außerhalb, die spielerisch notwendig die eigenen Fähigkeiten überbietet, vollkommen sicherheitshalber, die menschlichen Eigenschaften in toto perfektioniert: Menschgott? Die Konsequenz war ihm in dieser Ausgelassenheit nicht gewärtig, er fühlte sich nur frei, verantwortungslos, außenbestimmt, er unterwarf sich damit willig der eigenen Kreation.
Und zurück zu besagtem Sommer, zu den hysterisch anmutenden fünf Minuten: spieleinleitendes Tändeln, Kräftefreisetzung, Offenbarung unzähliger Möglichkeiten, abrundendes Gefühl der Erstmaligkeit, nachträgliches Wissen um Glück. Doch rasch gingen die Ferien zu Ende, die Sonne strahlte intensiv, Jugend und Endfurcht äußerten sich in kräftezehrendem Übermut, der zu ersatzbedürftigem Flüssigkeitsverlust führte. Die Suche nach Trinkbarem endete im Weinkeller, die überlegungsschwankende Hand glitt glutpulsend über die Flaschen, Erfahrungsdrang, Neugier und Durst stillten bekannte Warnung. Schon die Farbeffekte der teilentleerten Flasche gegen das sinkende Licht des einbrechenden Abends! Der Gong zur Abendvesper leitete unsere unsicheren Schritte gegen den Olymp.
Unser Zustand nun setzte sich über jede gezielte Reaktion hinweg, die ohnehin im Augenblick nichts hätte ändern können: noch dürfte unsere Stimmung so ungewichtig heiter gewesen sein wie unsere gewissenslinkischen Vertuschungsversuche der Alkoholerstwirkung, unser Lachen so ansteckend arglos. Doch distanzierende Kälte lähmte den Höhenflug, einsetzende Ebbe versiegte im Schlick. Holla, nur der Alkohol?

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