Der Manuskriptfund in der Lunigiana

Der Manuskriptfund in der Lunigiana

und andere fantastische Erzählungen

Stephan de Groote


EUR 13,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 130
ISBN: 978-3-99146-551-5
Erscheinungsdatum: 17.01.2024
Mit seinen vielseitigen Kurzgeschichten in Ägypten, im Schwarzwald und vielen weiteren Orten schafft Stephan de Groote den Rahmen für seine fantastischen Erzählungen. Dabei kämpft Godefroy mit dem Genitiv, Rinuccio ist auf der Suche nach seiner Traumfrau…
Vorwort

Schräg sind gewiss alle Erzählungen dieses Bändchens. Dennoch sind sie in ihrem Grundton oder, sagen wir, in ihrer Dramaturgie unterschiedlich. Es beginnt mit – hoffentlich – witzig und verspielt, so bleibt es dann auch eine ganze Weile. Über verschiedene Zwischentöne wird es dann am Ende bitterernst. Die Leserinnen und Leser werden es natürlich merken, wenn sie sich, worüber ich mich selbstredend sehr freuen würde, dazu entschließen sollten, das Büchlein bis zu seinem Ende durchzulesen.



Der Motorschaden

Die Idee zu dieser Geschichte kam mir bei der Lektüre der kleinen Meistererzählung „Der geheilte Patient“ von Johann Peter Hebel aus dem „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“.

Matthias’ Auto hatte einen Motorschaden. Auch noch mitten in der Wildnis. Der ADAC musste gerufen werden. Der Mechaniker in der Werkstatt legte die Stirn in sorgenvolle Falten. Der Motor sei hinüber, ihn habe das Zeitliche gesegnet, Wiederbelebungsversuche seien zwecklos. Ein neuer Motor müsse her. Den habe er aber nicht vorrätig. Ihn zu bestellen könne dauern. Vier Tage, vielleicht aber auch fünf oder sechs. Man wisse es nicht genau und müsse hoffen. Würde jedenfalls ein richtig fettes Sümmchen kosten. Vielleicht besser gleich einen neuen Wagen kaufen? Aber Matthias – für seine Freunde Matze – war sein Auto ans Herz gewachsen wie ein guter alter Kumpel. Hatte er doch auf seinem Rücksitz manche Male die Wonnen der Liebe ausgekostet. Seinen Kameraden verschrotten zu lassen, kam für ihn nicht in Frage. Es war ja auch ein getunter BMW mit nachgerüsteter Soundanlage einschließlich Subwoofer und Bass-Modul, mit dessen Lichthupe er andere Verkehrsteilnehmer wie aufgescheuchte Hühner von der Fahrbahn jagte, seiner.

Was sollte Matze tun? Mit seinem Schicksal hadern? Wehklagen? Nein, das war nicht seine Art. Er beschloss, das unter den gegebenen Umständen Beste aus der Situation zu machen. Er hätte sonst ja auch mit dem Zug hin- und wieder zurückfahren müssen und wusste doch gar nicht, wie das geht. Eine Auszeit nehmen, für ein paar Tage mal raus aus der immergleichen Tretmühle, wäre vielleicht gar nicht verkehrt, sagte er sich. Termine waren schnell abgesagt. Er war ja der Chef und brauchte niemanden um Erlaubnis zu fragen. Der Alkoholpegel in seinem kleinen mittelständischen Unternehmen würde wohl in den nächsten Tagen steigen und es würde viel früher Feierabend gemacht werden. Wenn die Katze aus dem Haus ist … Aber was soll’s? Waren doch alles feine Kerle. Sollten sie doch ruhig seine Abwesenheit für ein paar Tage genießen! Der Laden würde schon nicht abbrennen.

Nun bot die Kleinstadt, in der er gestrandet war, nicht gerade viel Zerstreuung und Vergnügungsmöglichkeiten. Ein paar Gasthöfe – „Zum Ochsen“, „Zum Bären“ und „Zum Schwan“ geheißen -, mit Kachelöfen, rustikaler Einrichtung, gestreng dreinblickenden Altvorderen mit Backenbärten oder Hirschen im Morgengrauen in wuchtigen geschnitzten Bilderrahmen und mit deftigen Speisen, das schon. Auch hopfiges feincremiges Bier aus der lokalen Kleinbrauerei, 1831 gegründet, gab es. Aber sollte er jetzt vier Tage oder länger biertrinkend und Schweinebraten verzehrend zubringen? Ein oder zwei vielleicht, aber nicht mehr. Das Lesen war auch nie Matzes Ding gewesen.

Nun wollte es der Zufall, dass sich der Ort einer gewissen Beliebtheit unter verschrobenen Wanderern im Outdoor-Look erfreute. Wegen seiner unverfälschten Natur, seiner Holzwege über schäumende Bäche, seiner verzauberten Schluchten, wie aus der Zeit gefallen, seiner lauschigen Plätze zum Verweilen und so weiter. Längere Strecken zu Fuß zurückgelegt hatte Matze schon oft. Aber als Jugendlicher, bevor er sein erstes Auto hatte. Danach wäre er, wenn möglich, auch noch mit dem Auto zum Klo gefahren. Zu Fuß gehen oder Öffis benutzen, das war einmal, nicht mal mehr zum Brötchenholen um die Ecke. Ich bin doch auf mein Auto angewiesen, flennte er jedes Mal, wenn er von Benzinpreiserhöhungen hörte. Den Spaß am Fahren mit seinem Verbrenner ließ er sich nicht von den griesgrämigen unfrohen Grünen von der Verbotspartei vermiesen. Dann wollten diese miesepetrigen Müslihirne auch noch Geschwindigkeitsbegrenzungen einführen! Hallo, geht’s noch? Gut, dass es die FDP gab. Freie Fahrt für freie Bürger!

Aber warum nicht mal ein Abenteuer wagen, von dem er danach daheim in geselliger Runde zum allgemeinen Erstaunen erzählen könnte? Gleich am nächsten Morgen legte er sich Gore-Tex-Hikingschuhe und einen Wanderstock aus Echtholz mit einem eingeschnitzten Wurzelmann zu. Von der Verkäuferin ließ er sich auch zum Kauf eines zünftigen Huts aus dickem, graumeliertem Filz mit einem Trachtenband und Naturfedergesteck überreden. Das trage der Wanderer von heute, es sei aber auch zeitlos, ein Klassiker. So machte er sich perfekt ausgestattet auf den Weg.

Schon bald ging ihm die Puste aus, aber sowas von. Die Sonne brannte, die gelbe Sau. Die Schuhe drückten ihn, er lief sich eine Blase. Kein Lüftchen wehte. Schweiß überströmte ihn. An eine Outdoor-Ausstattung wie aus dem Bergfreunde.de-Onlineshop hatte er gedacht, aber nicht an eine Wasserflasche. Mitleidige Weggefährten flößten ihm das kühle, erquickende Nass ein. Aus schierer Bosheit zertrat er niedliche Ameisen, die seinen Weg kreuzten. Wie Gämse huschten andere Wanderer an ihm vorbei. Ein zwitscherndes Vöglein brüllte er an, doch einfach die Klappe zu halten. Junge Dinger fragten ihn, ob sie ihn stützen sollten. „Erst nach dem zweiten Schlaganfall“, stöhnte Matze. Aber überzeugend klang das nicht. Wanderer, die ihm ihren Gruß entboten und einen schönen Tag wünschten, wollte er fragen, ob sie ihn verarschen wollten. Aber schon sein Gesichtsausdruck ließ sie zurückweichen. Nur einmal überholte er ein Pärchen, aber allein deswegen, weil die sich Händchen haltend und knutschend alle Zeit der Welt ließen. All dies hätte aber trotzdem nicht für sein Überholmanöver ausgereicht, wenn die beiden nicht auf einmal im Unterholz verschwunden wären. So drangvoll ist manchmal die Jugend. Einige Zeit später zogen sie aber doch wieder an ihm vorbei. Der Wurzelmann auf seinem Wanderstock schien ihn höhnisch anzugrinsen. Mit der Feder auf seinem Hut kam er sich vollends als Lachnummer vor. Ein Junge, den er fragte, wie lange es denn noch um Gottes willen bis zum Ausflugslokal (mit herrlicher Sicht über die dunklen wogenden Wälder) sei, antwortete ihm: „No, es werdens wohl noch zwoahalb Kilometr soan, in zwoa odr droa Stondn kennens dös schaffn.“ Darüber musste er sehr lachen. Der Junge, nicht Matze. Mit ohnmächtiger Wut stellte er dann am Ende seines Kreuzweges fest, dass das Ausflugslokal seinen Ruhetag hatte. Also auch nichts zu essen und zu trinken. Dabei hatte ihm den ganzen Weg über das eine oder andere Frischgezapfte und Kräuterlikörchen vor Augen gestanden, mit einer herzhaften Brotzeit, nur dieser Gedanke hatte ihn doch aufrecht gehalten. Und dann erst der Rückweg! Ein Taxi rufen ging nicht. „Dös homs mia hia nett“, hieß es. Außerdem steckte er in einem Funkloch. Nie hatte er sich so verlassen gefühlt. Die Dame von der Touristeninfo bekäme was von ihm zu hören. Er musste Dampf ablassen. Die Schweinshaxe am Abend fand er zäh. Fast hätte er den Kellner angeschrien, als er Matze fragte, ob es ihm schmeckte. Die Knödel ließ er zur Hälfte zurückgehen, was er noch nie gemacht hatte. In was für eine Hölle war er geraten?

Nun ist das menschliche Leben bisweilen ein wunderliches Ding. Am nächsten Morgen wachte er ausgeruhter denn je auf, an der Nase wachgekitzelt von den ersten, noch zaghaften Strahlen der aufgehenden Sonne, der Gütigen. Schon ewig hatte Matze nicht mehr richtig gut geschlafen, niedergedrückt von seinen Problemen – dem raffgierigen Finanzamt, reklamierenden Kunden, die ihr Geld zurückhaben wollten, säumigen Zahlern mit all ihren miesen Tricks, der in die Brüche gegangenen Beziehung, die aber auch schon vorher nicht so toll gewesen war und vielem mehr. Der Psychotherapeut konnte ihm auch nicht helfen. Er führte Matzes Probleme darauf zurück, dass er wahrscheinlich einmal als Kleinkind seine Eltern beim Sex beobachtet hatte. Für einen solchen Scheiß gab Matze nicht weiter sein sauer erwirtschaftetes Geld aus. Das sagte er dem Psycho auch rundheraus ins Gesicht, der bedrückt wirkte und danach vielleicht auch eine Psychotherapie benötigte. Auch mit Alkohol konnte Matze seine Sorgen nur vorübergehend ertränken, denn diese Biester konnten schwimmen. Frustessen machte alles nur noch schlimmer. Selbst von der FDP fühlte er sich immer weniger verstanden. Ein Schnösel mit Dreitagebart und Marken-Sneakern als Vorsitzender, der in der freien Wirtschaft nur Konkurs angemeldet und seine nichtswürdige Existenz dann in die Politik gerettet hatte. Nee, das war nicht seine Welt. Die AFD konnte er aber auch nicht wählen. Asis, vor allem aus dem Osten, die für ihr Elend alle und jeden verantwortlich machten, nur nicht sich selbst und ernsthaft glaubten, er als Wessi, der sich alles selbst aufgebaut hatte und dem nichts geschenkt wurde, schulde ihnen irgendetwas. Das ging mit ihm schon mal gar nicht. So war sein düsteres, wolkenverhangenes Weltbild.

Aber jetzt? Wann hatte er zum letzten Mal so gut geschlafen? In jenen fernen Zeiten, als die Welt noch jung war und er noch an die Liebe glaubte? Nach einem gehaltvollen Frühstück – wie herrlich duftete der knusprige Speck auf den Rühreiern, wie köstlich mundete die frische Kuhmilch – brach er geschwinden Fußes wieder auf. Die Blase hatte er mit einem Pflaster und kühlender Salbe behandelt, die ihm seine Gastwirte, rührend besorgt um sein Wohlergehen, zur Verfügung gestellt hatten. Ganz ohne zusätzliche Berechnung! Eingedenk seiner gestrigen Erfahrungen dachte er diesmal auch an Mineralwasser und ein Fläschchen Himbeergeist. Und was das Beste war? Alles kam aus der Region! Der frühe Nebel verzog sich bald. Wann hatte er schon einmal bemerkt, wie frisch der Morgentau auf dem Gras in den frühen Strahlen der Sonne glitzerte, wie rot der Mohn im Korn war und wie belebend, die Sinne und das Gemüt anregend, gerade gemähtes Heu roch? Noch nie. Der strahlend blaue Himmel, nur mit ein paar Wölkchen in der Form von niedlichen Schafen oder Drachen betupft, herzte die sattgrüne Erde. Tannen rauschten. Ein Wasserfall sprudelte in Kaskaden. Der wilde ungestüme Bach schäumte. Er kühlte seine Füße, die ihm heute so gute Dienste leisteten, in Wasser wie fließender blauer Stahl und labte sich daran. Bäume murmelten. Vögel schwatzten. Kühe mampften. Wurzeln rankten. Feldblumen betörten ihn mit ihrem Duft. Vor allen Wanderern, die ihn begegneten, lüftete er den Hut mit einem frohgemuten „Hobts noch oan schenan Doog!“ Diese Redewendung hatte er in der Wirtsstube aufgeschnappt. Seine Fröhlichkeit wirkte ansteckend. Mit einem Blatt half er einer Ameise über ein Rinnsal. Verschnaufpausen musste er einlegen, das schon, auch nicht wenige. Aber in weiser Voraussicht hatte Matze ja an den Himbeergeist gedacht. Der spornte ihn an. Interessiert las er eine Tafel des Bundes für Natur- und Vogelschutz. Dem wollte er beitreten. Scheiß doch auf die FDP!

Als er um eine Ecke bog, stand sie plötzlich vor ihm. Nein, keine Waldfee, sondern eine Burgruine. Vielmehr das, was noch von ihr übriggeblieben war, nachdem die Dorfbewohner sie wohl jahrhundertelang als Steinbruch zweckentfremdet hatten. Die Mauerreste waren mit dichtem Moos überwuchert, was dem Ort eine geheimnisumwitterte Aura verlieh. Nachts müsste es dort schaurig sein. Die Fundamente eines romanischen Kapitells. Raubritter Kuno hatte dort gehaust, wie ihm eine lehrreiche Tafel verriet. Danach verschiedene blaublütige Burgherren. Es halte sich das Gerücht, dass dort ein Schatz vergraben liege, bewacht von Kobolden. Dem weiteren Verfall der Ruine werde Einhalt geboten. Windschiefe Überbleibsel eines Bergfried genannten Turms. „Betreten verboten! Einsturzgefahr“ sagte ihm ein Schild am eisenbeschlagenen Holztor. Gerade wollte Matze daran rütteln, als ihm von innen geöffnet wurde. Von einem alten verhutzelten Männlein, das sich Matze als „der Erdgeist“ vorstellte. Natürlich ein Scherz. Ein wundersamer Gesell, gar kurios anzusehen mit seinem altehrwürdigen Bratenrock und seiner gepuderten Perücke. Man plauderte angeregt über Gottes oder des Urknalls herrliche Schöpfung. Anekdoten und Scharaden über das unterirdische Leben in den tiefen Wäldern wusste der Erdgeist gefällig und amüsant in seinem altertümlichen Deutsch wie zu Klopstocks Zeiten zu erzählen. Dann musste er auch schon weiterziehen. Seine Pflicht rief. Wer, wenn nicht er und sein Heer von Gnomen würden sonst die gurgelnden Bächlein in Gang halten und erschöpfte Wanderer, die von ihrem Weg abgekommen waren, sicher nach Hause zu ihrem behaglichen Bett geleiten? Verwundert wurde Matze auf seinem weiteren Weg gewahr, dass sein Fläschchen Himbeergeist, das er zur Gänze geleert zu haben meinte, wieder randvoll war. Zwerge mit Grubenlampen und rußgeschwärzten Gesichtern, die ihrem Bergwerk entstiegen, kreuzten Matzes Pfad und wünschten ihm frohgemut „Glück auf!“

Das Ausflugslokal übertraf auch seine hochgestecktesten Erwartungen. Eine in Holz geschnitzte possierliche Wildsau erwartete ihn am Eingang, Matze zog vor ihr ehrerbietig seinen Hut. Gepflegte Biergartenkultur mit regionaltypischen Schmankerln in urigem Ambiente. Von der Speisekarte gab es auch eine Übersetzung ins Hochdeutsche. Hier wertschätzte man den Touristen und müden Wandersmann noch, zu seiner Labsal wurde frischgezapftes Bier, mit Enzian zur Abrundung, ausgeschenkt. Wie würzig dufteten die Kiefernwälder! Ein mildes Lüftchen wehte. Ausgelassenes Kinderlachen vom nahegelegenen Waldspielplatz, dem „Wichtelparadies“, mit seinem Baumhaus, dem Sandkasten und der Rutsche, erfüllte die Luft. Und dann erst die Aussicht auf den kristallklaren See in der Senke, bibbernd vor erfrischender Kälte, und die Bauernhäuser mit ihren strohgedeckten Dächern, die von hier oben wie Miniaturen wirkten! Aus einigen Schornsteinen qualmte Rauch. Emsige Landleute ackerten mit ihren Spielzeugtraktoren und zogen Furchen. Der ferne Klang einer Kirchturmglocke wehte zu ihm hinüber. In Matzes brettplatter Heimat im Tiefland gab es solche Ausblicke nicht, poetische Empfindungen kamen dort auch eher selten auf. Wie es wohl wäre, wie ein Adler über alldem zu schweben? Er beschloss, sich das für nach dem sechsten oder siebten Enzian aufzuheben.

Matze empfand es als wohltuend, dass die rumänische Kellnerin kein Dirndl trug. Das Folkloristische wollte er ja auch nicht übertreiben. Aber fesch war sie. Besser Deutsch als die Einheimischen sprach sie auch. Matze dankte es ihr am Ende eines stundenlangen Aufenthalts mit einem üppigen Trinkgeld, für das er mit einem strahlenden Lächeln beschenkt wurde. Er lernte auch nette holländische Wanderfreunde kennen. Die Berge ihrer Heimat waren ihnen schon zur Genüge bekannt, sie wollten zu neuen Ufern oder, besser gesagt, Anhöhen aufbrechen. Das es nette Holländer gab! Matze kannte sie bisher nur als Drängler oder umgekehrt Fahrbahnblockierer mit Wohnwagen auf Autobahnen. Grauburgunder und Kirschwasser mochten sie auch, es musste ja nicht immer Heineken und Genever sein. Man schenkte sich beim Trinken nichts bzw. nur gegenseitig ein. Am Ende nahm man mit innigen Umarmungen voneinander Abschied. Auch Facebook- und WhatsApp-Freunde waren sie jetzt. Man würde sich wiedersehen. Im Ausflugslokal. Ihrem Ausflugslokal.

Reisen bildet, heißt es immer, aber das ist Quatsch. Wie oft war Matze schon in Antalya und einmal auch auf den Seychellen gewesen. Hatte ihn das vielleicht irgendwie gebildet? Keinen Furz. Wandern bildet, so muss es heißen! Das lässt sich auch wissenschaftlich begründen. Man erlebt alles sehr viel intensiver, je mehr man sich dafür Zeit lässt. Also nicht fliegen oder Auto fahren, sondern zu Fuß gehen. Zugfahren geht aber auch, am besten mit der Bummelbahn. Vielleicht sollte er es auch einmal per Anhalter versuchen. Aber wer würde ihn mitnehmen? Womöglich in ansehnlicher Begleitung und er erst einmal hinter einem Gebüsch versteckt? Aber wo sollte er eine solche Begleitung hernehmen? Er dachte an die rumänische Kellnerin. Ja, das wäre was. Aber durchbrennen würde sie mit ihm ganz sicher nicht. Schade eigentlich. Und schon wieder Auto fahren? Nee!

Es dunkelte irgendwann, die Nacht brach an. Sterne funkelten, was das Zeug hielt. Wie Matze zu seinem Gasthof zurückfand, wissen wir nicht. Dort oben gab es ja, wie die geneigten Leserinnen und Leser schon wissen, keine Taxis. Ein gütiger Engel muss ihn begleitet und geführt haben. Oder war der Wurzelmann der gute Geist gewesen? Matze hielt das für sehr wahrscheinlich.

Am nächsten Morgen stand Matze schon gegen halb fünf auf – der Wecker auf seinem Handy machte es möglich –, um den Sonnenaufgang nicht zu verpassen, von dem ihm seine gefällige Wirtin vorgeschwärmt hatte. Über den Sonnenaufgang dort unten ist doch im Grunde schon alles gesagt worden. Das Nebelmeer, das sich zunehmend verflüchtigt, die noch rote Sonne, ihr Widerschein auf den Gipfeln mit Zinnen wie eine Trutzburg, brennende Wolken, der Wohlklang der ersten Kuhglocken, die Ruhe, das Gefühl des Friedens, das den Betrachter überkommt. Hat man alles schon tausendmal gelesen, aber es bleibt trotzdem wahr. Matze malte sich die vielen Urlaube aus, die er hier noch verbringen würde, an seinem Sehnsuchtsort, seinem Shangri-La. In demselben Gasthof, das stand für ihn fest. Aber, um seinen Radius zu erweitern und Neues kennen zu lernen, auch in anderen, öko-zertifizierten. Ein Zelt würde er sich aber nicht zulegen. Oder vielleicht doch? Man könnte es ja mal ausprobieren. Nur von dem Ausflugslokal würde er allenfalls seinen besten Freunden vorschwärmen, es sollte sein Geheimtipp bleiben. Andere gingen in die Kirche, um erweckt zu werden, aber nach Matzes Eindruck schien das nicht zu funktionieren. Er hatte dafür nur einen Tag in der Natur gebraucht.

Wieder nahm Matze danach ein Körper und Seele labendes Frühstück zu sich. Den Speck auf den Rühreiern ließ er diesmal aber weg. Ein angenehmes Körpergefühl hatte ihn überkommen, er meinte, das eine oder andere Pfündchen abgenommen zu haben. Seine holländischen Freunde grüßten ihn auf seinem Handy mit Cookies von einem rüstig ausschreitenden Wandersmann mit Gamsbarthut und zwei aneinandergestoßenen Gläschen mit einem sicherlich bekömmlichen Inhalt. Vielleicht Enzian. Oder auch Genever. Er erwiderte den Gruß mit einem Selfie von sich und der aufgehenden rotflammenden Sonne über dem wabernden, schon zerfetzten Wolkenmeer im Hintergrund. Gestärkt schritt er danach aus. Sein Auto hatte er mittlerweile ganz vergessen bzw. den Gedanken daran völlig verdrängt, wie an etwas, das einen schlechten Beigeschmack hinterlassen hat. Da erreichte ihn ein verhängnisvoller Anruf. Auf seinem Handy. Von dem Mechaniker. Der Motor sei früher als erwartet eingetroffen und bereits eingebaut, der Wagen sei sozusagen abholbereit. Schweren Herzens ging Matze zur Werkstatt. Sollte sein neues Glück schon wieder zerrinnen wie Sand in der nach ihm benannten Uhr? Sollte der motorisierte Albtraum ihn wieder mit seinen unbarmherzigen Krallen packen? Nein, das konnte, das durfte Matze nicht zulassen!

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