Der letzte Stein

Der letzte Stein

Ilse Nekut


EUR 11,90
EUR 7,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 140
ISBN: 978-3-99107-706-0
Erscheinungsdatum: 28.07.2021
Das Leben der Wienerin Dora wird anhand von markanten Ereignissen spürbar. Am Ende entsteht ein buntes Lebensmosaik aus kleinen Puzzlesteinen: Der erste Kuss, der Mord an Kennedy und Paul, die Liebe ihres Lebens, sind nur einige dieser „Lebenssteine“.
Die Geburt

Dora war eine Minute alt,
als sie zwei Jahre nach dem großen Krieg das grelle Weltlicht erblickte.

Ein riesiges verschwommenes Weiß sah sie, sonst nichts. Nur weiß. Ein weißes, unscharfes Licht.
Sie war im Frühling geboren. Ihre Mutter versicherte allen:
„Es war eine leichte Geburt“.
Versprach eine leichte Geburt auch einen leichten Tod?

Dora kam also auf die Welt. Woher kam sie? Und wohin würde sie danach gehen?

Noch war sie ahnungslos, besinnungslos.




Die Operation

Dora war drei,
als Mama sie verließ.

Sie hatte Schmerzen im Oberschenkel. Ihre Mama nahm die Sache sorgfältig unter die Lupe.
„Ich glaube, das ist etwas fürs Spital“, meinte sie.

Dora ist zu klein, um sich später daran erinnern zu können.
Alles, was sie in Zukunft, nach neun oder zehn Jahren, von ihrer Mutter darüber erfahren wird, das ist jetzt, mit den Schmerzen im Schenkel, ihre Gegenwart. Sie wird all das aber nicht mehr wissen, später.

Sie fuhren ins Spital. Papa und ein Onkel, der ein Auto besaß. Dora war in eine rosa Decke gehüllt, lag auf der Rückbank des Autos, hatte hohes Fieber. Mama musste daheimbleiben. Doras große Schwester Terese war noch nicht alt genug, um allein zu Hause zu warten. Also ließ Mama die dreijährige kranke kleine Tochter im Stich, übergab sie Papa und dem Onkel. Dora, verlassen von Mama, zum ersten Mal, ohne Vorwarnung, ohne Absicht. Nur die beiden Männer kümmerten sich um sie, das war zu wenig. Sie weinte nicht einmal. Dafür war der Schock zu groß. Ohne Mama.

Das Letzte, was Dora vor der Operation sah, war ein grün maskiertes Gesicht. Die Ärzte operierten Dora - das wird ihr ihre Mutter später einmal erzählen - an der Innenseite des Oberschenkels. Ein Schlauch musste durch zwei Öffnungen in Doras Fleisch eingezogen werden, damit der Eiter abfließen konnte.
Nach überstandener Nacht - der Eingriff war vorbei - war sie allein, mutterseelenallein. Kein Papa, keine Mama, nur die weißen Krankenschwestern um sie herum. Dora erstarrte und sprach nicht mehr. Sie war für immer verlassen worden, dessen war sie sich ganz sicher.

„Du hast einfach nicht mehr gesprochen, und dein Gesicht war todernst, so oft ich dich besucht habe.“
Das wird Mama ihr später, in zehn Jahren, schildern.
„Verzweifelt war ich. Und ich habe gedacht, dich hat jemand ausgetauscht. Daheim hast du immer geredet, ziemlich viel geredet. Eine Plaudertasche.
Weißt du, früher mussten die Kinder im Spital allein bleiben, also auch du. Die Eltern durften nur kurz auf Besuch kommen. Heutzutage ist das schon ein wenig anders.“

Ein paar Stunden nach der Operation, einer Ewigkeit, kam Mama ins Spital. Sie sah ihre Tochter an und erschrak. Dora musterte die Mutter mit weit aufgerissenen, erschrockenen Augen und begann dann zu schreien. Und sie schrie, bis Mama wieder weg war.
An den Spielen der anderen kranken Kinder beteiligte sie sich nicht. Sie schwieg einfach.
Wenn Mama kam, schrie sie.
Wenn Mama wegging, hörte sie auf zu schreien und verstummte.
Das wiederholte sich unzählige Male. Doras Mutter wurde beinahe verrückt vor Sorge.

Dora war allein im Krankenhaus, von der ganzen Familie verlassen. Sie lebte im Glauben, es wäre für ihr ganzes Leben. Ein Leben lang allein. Mit Bitternis und Entsetzen verbrachte sie die Zeit im Spital.
Eine schreckliche Zeit, für immer in sie gemeißelt.


Später wird ihre Mutter ihr alles erzählen, und sie wird das alles zu verstehen versuchen. Aber es wird nicht viel zu verstehen geben. Sie war verlassen worden, das wird sich nicht wegreden lassen. Auch wenn ihre Mutter glauben wird, all das sei vorbei.

Dora durfte heim. Die Wunde verheilte, die Operation war gut verlaufen.
Gut?



Der Unfall

Dora war vier,
als sie das Wort ‚Unfall‘ lernte.

Es war abends, Dora schon im Bett. Die Oma, Mamas Mutter, auf Besuch. Die Gute-Nacht-Geschichte, heute vorgelesen von Oma, das war der Plan, ließ noch auf sich warten. Solange dieses Märchen nicht gelesen wurde, schlief Dora sicher nicht.

Mama war ohne Papa zu Hause. Der arbeitete wieder einmal ‚beim Film‘.

Im Vorzimmer klingelte das Telefon, es klang bedrohlich. Doras Mutter hob ab und horchte offensichtlich schweigend auf das, was man ihr sagte. Nur eine Frage konnte Dora hören:
„Wo?“
Danach kam Mama aufgeregt ins Kinderzimmer, hatte blasse Wangen, sprudelte die Worte in Kaskaden heraus.
„Oma“, sagte sie zu ihrer Mutter.
„Die Anni hat einen Unfall gehabt, eben erst!“
Anni, das war Omas zweite Tochter, Doras Tante.
„Was ist passiert?“
„Sie und Hans hatten mit dem Motorrad einen Unfall, ganz in der Nähe, vor dem Konsum, keine zwei Minuten von hier. Die Polizei hat mich angerufen, die Rettung ist unterwegs.“
Doras Mutter achtete nicht auf ihre erschrockene Tochter, sagte nur zu Oma:
„Ich lauf da hin, du bist ja ohnehin bei den Kindern. Gut?“
Und schon war sie verschwunden, ohne ein Wort zu Dora. Oma war nicht gesprächig, las auch keine Geschichte vor. Sie saß nur stumm und schaute ins Leere.
„Was ist ein ‚Unfall‘?“

„Ach, nichts Besonderes, Kind. Wahrscheinlich sind deine Tante und dein Onkel Hans mit dem Motorrad umgefallen, das passiert manchmal.“
Omas Beruhigungsversuche waren nicht glaubwürdig, Dora sprach ihre Oma besser nicht mehr an. Sie dachte allein über den ‚Unfall‘ nach. ‚Vielleicht hieß es Umfall, nicht Unfall. Oma hatte doch so etwas angedeutet. Und wieso war von ‚Fall‘ die Rede?‘ Dora kannte einen Wasserfall, einen Überfall, sogar einen Todesfall, aber einen Motorradfall, den kannte sie nicht. Es war der erste Motorradfall in ihrem kurzen Leben, und sie war verwirrt, kannte sich nicht aus, hatte Angst um ihre verunglückte Tante, aber vor allem sorgte sie sich um ihre Mutter.
‚Ohne mich anzusehen, ist Mama fortgerannt, keinen Blick hat sie auf mich geworfen‘, dachte Dora entsetzt, und sie hatte eine Heidenangst, dass Mama nicht mehr wiederkommen würde. Warum sie befürchtete, dass dieser schreckliche Fall eintreten könnte, wusste sie nicht. Ihre Angst war riesengroß und füllte ihren Kopf vollständig aus.
Von Mama verlassen zu werden, das hatte Dora schon einmal erlebt, vor zwei Jahren, aber sie erinnerte sich nicht, sie war zu klein gewesen.

Dora litt Höllenqualen. Tante Anni und ihr Motorrad waren ihr auf einmal gleichgültig, aber ihre Mutter, ihre Mama, musste wiederkommen! Ansonsten würde sie sterben, ganz bestimmt. Auch wenn sie noch nicht so recht wusste, was ‚sterben‘ bedeutete. Dass Leute, die gestorben waren, nicht mehr da waren, plötzlich unsichtbar waren, das hatte sie schon erlebt. Aber das eigene Sterben?

Gut eine Stunde war Mama weg gewesen, aber nicht gestorben. Auch Dora nicht. Sie lebte noch.
Die Mutter beruhigte ihr Kind und auch Oma. Schließlich war es Omas Tochter, die da einen ‚Unfall‘ gehabt hatte.
„Es ist nicht so schlimm, Oma“, beschwichtige Mama die Großmutter.

„Anni hat einen gebrochenen Fuß und Abschürfungen, aber sie wird in ein gutes Spital geführt. Sie hat mir sogar durch die vielen Schaulustigen hindurch ein schwaches Lächeln gezeigt. Also keine Angst. Du kannst sie morgen besuchen.“

Keine Angst. Die Angst Doras um ihre Mama, die Angst vor dem schrecklichen Fall des Verlassenwerdens war verschwunden. Sie war erleichtert.
Später wird sie sich auch daran nicht erinnern.

Oma las auf Doras Bitten hin noch eine Gute-Nacht-Geschichte, war aber nicht ganz bei der Sache.
Dora schlief beruhigt ein und beschloss davor noch, nie mit einem Motorrad zu fahren. Ein Umfall konnte dabei ja offenbar leicht geschehen.



Sprachverwirrung

Dora war fünf,
als sie nichts verstand.

In einem heißen Sommer, zwei Jahre später, fuhren Dora und ihre Familie an einen kleinen See im südlichen Kärnten. Sie campierten dort. Ein neues Wort, Camping, hatte sich in den Sprachgebrauch der Leute eingeschlichen.
Man campierte also.
Für Dora war so ein Urlaub paradiesisch. Sie durfte baden, wann sie wollte, schwimmen konnte sie schon. Sie konnte essen, wann sie gerade Hunger hatte, ihre Mutter nahm das nicht so genau. Mama genoss selbst die Freiheit des Campingurlaubs, ungebunden, von keinen Regeln eingezwängt.

Das Einkaufen im nächsten Ort übernahm Papa. Dora, ihre Schwester Terese und Papa fuhren mit dem alten Wehrmachtsauto, das der Vater nach dem Krieg fahrtüchtig gemacht hatte, in diesen Ort. Jeden zweiten Tag.

Diesmal war alles ein bisschen anders. Papa beschloss, das Gemüse, das sie brauchten, 1 Kilo Paradeiser, diesmal beim kleinen Gemüseladen gegenüber zu kaufen und nicht in dem großen Geschäft, das sie sonst aufsuchten.
Er traf, wie in jedem Urlaub, einen Berufskollegen vom Film. Dora machte sich keine Gedanken über den Ausdruck ‚beim Film‘, auch wenn sie nicht wirklich verstand, was er bedeutete. Sie wusste nur, dass Papa ‚beim Film‘ arbeitete. Ohne recht nachzudenken.
Vor dem Gemüseladen traf Vater also einen Kollegen. Man tratschte, man lachte, den beiden Mädchen wurde es langweilig. Da meinte der Vater, dass seine Mädchen allein in den Laden gehen sollten, um die Paradeiser zu kaufen.
„Einfach so? Allein?“
Die ältere Schwester war ein wenig schüchtern und wollte den Laden nicht betreten. Dora aber öffnete mit beherztem Schwung die Ladentür, betrat den Raum und stellte sich hinten an der Warteschlange an. Ihre Schwester würde draußen auf sie warten, hatte sie gesagt. Das Geld hatte sie Dora mitgegeben.
‚Natürlich kann ich schon allein einkaufen, das ist klar‘, dachte sie, aber das mulmige Gefühl im Magen verriet ihr, dass sie ein wenig aufgeregt war. Ihr Herz klopfte etwas schneller.

Dann geschah Beunruhigendes.
Die Leute in der Warteschlange vor ihr sprachen miteinander, aber ihre Worte waren für Dora unverständlich. Sogar die Verkäuferinnen, die Paprika und Erdäpfel einpackten, redeten eine fremde Sprache. Dora wurde blass, ihr Puls stieg. Sie hatte noch nie mit Ausländern gesprochen, sie wusste nicht, wie das klang. Außerdem war doch hier nicht Ausland. Hier war Kärnten! Ausland, das war weit weg, Amerika, Afrika vielleicht.
Verstört scherte sie aus der Warteschlange aus, rannte zum Ausgang zurück, flüchtete zu ihrer Schwester.
„Die verstehen mich nicht da drinnen!“, rief sie verzweifelt.
Sie weinte haltlos. Sie verstanden sie nicht in diesem Laden, glaubte sie zumindest. Es musste furchtbar sein, in einem sogenannten Ausland zu sein und nichts zu verstehen und nicht verstanden zu werden! Schrecklich musste das sein.
Die Mädchen liefen zum tratschenden Vater, erklärten ihm das Unglück und warteten auf Erklärung. Papa lachte nur.
„Das sind Slowenen, die hier wohnen. Keine Angst, die verstehen dich, Dora. Sie sprechen slowenisch, das ist alles.“

Dora war auf der Rückfahrt sehr still. Papa hatte sie ausgelacht, das war kränkend. Eines aber hatte dieses Missgeschick bewirkt. Dora begann, über Sprache und Wörter nachzudenken, aber sie verschob die genaue Auseinandersetzung auf später, wenn sie größer sein würde.



Omas Geschichten

Dora war sechs,
als sie Oma lauschte.

Einmal im Monat besuchte Doras Familie die Großmutter, Vaters Mutter. Auch der Großvater war meistens dabei. Er war Dora fremd.
Was Oma auszeichnete, war ihre unglaubliche Fähigkeit, Geschichten zu erzählen, selbst erfundene Märchen, von Riesen, Zwergen, Palästen. Wenn Dora sie bat, eine Geschichte zum Wort ‚Katzengold‘ zu erfinden, dann wusste Oma sofort, dass die Kratergräben auf der Marsoberfläche eigentlich Katzengoldadern waren, die sich alle 700 Jahre verbreitern und auseinanderbrechen, und dann quellen da alle möglichen Gestalten hervor: Feen in Organza, Zwerge in Samt, mit verzauberten langen Nasen, Elevinnen in türkisfarbenen Tutus. Und dann tanzten in Omas Geschichten diese Gestalten zu Flöten- und Gambenmusik.
Dora befand sich mitten in diesem Tanz. Sie tanzte mit den Feen, mit den Zwergen. Besonders die Elevinnen in ihren schimmernden, hellgrünen Kleidern hatten es ihr angetan. Sie hatte selbst ja solch ein Kleid daheim, mit Rüschen und hellgrünen Volants. In diesem Kleid wollte sie doch schon so oft vom Balkon aus in die Weite fliegen, bis zur Sonne oder bis zum Mars mit seinen Katzengoldadern, vielleicht bis zum Neptun, dem Meeresgott. Dora kannte sich aus in der griechischen und römischen Sagenwelt. Da machte ihr niemand etwas vor.

Die besten Geschichten waren die, in denen silberne Paläste mit goldenen Fensterrahmen vorkamen. Und manchmal auch Prinzen, die in diesen Palästen wohnten, mit goldenen Haaren, farblich verwandt mit den Fensterrahmen. Alles funkelte, auch die Gesichter der edlen Prinzen.
Natürlich wusste Dora ganz genau, dass Oma diese Geschichten nicht gelesen hatte, sondern sie allesamt erfand. Nichts war real, das wusste sie, und obwohl sie schon sechs war, also nach Mamas Ansicht ein großes Mädchen, mochte sie diese Spiele mit der Großmutter. Ihre Schwester war wohl schon zu alt für solche Märchen. Sie saß mit Opa und den anderen im getäfelten Esszimmer der alten Villa und hörte dem realen Tratsch des letzten Monats zu.
Dora aber saß mit Oma im Nebenzimmer und lauschte den wunderbaren Erzählungen über türkisfarbene Tutus und goldhaarige Prinzen. In ihrem Kopf vermischte sich das von Oma Geschilderte mit ihrer eigenen Phantasiewelt. Sie vergaß, dass sie mit ihrer Familie nur auf Besuch hier war, und sie vergaß die Zeit. Die Zeit existierte nicht mehr. Es war wunderbar.

Dora genoss diese kostbaren Stunden mit der Märchenoma.
Ihrer großen Schwester konnte sie von all dem nichts erzählen, die würde sie auslachen und sagen: ‚Kinderkram‘.

Daheim hatte Dora eine alte Holzkiste voller Glitzerzeug und Tüllkleidern. Masken, Federboas, goldene Reifen und Perlenketten aus Glas besaß sie. Mit all diesen Dingen verkleidete sie sich immer wieder, und dann spielte sie Theater. Es war eine Vorbereitung auf die geplante Laufbahn als Schauspielerin, dessen war Dora sich sicher. Und wenn sie spielte, dann machte die Welt rundherum einem riesengroßen Zauber Platz. Sie war Zirkusprinzessin, Seiltänzerin und Filmdiva in einem.
Und immer wieder spielte sie die Geschichten ihrer Großmutter nach. Sorgfältig darauf bedacht, die Erzählungen nicht nur zu wiederholen, sondern sie zu ergänzen und auszuweiten.

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