Der lange Weg des Hieronymus K.

Der lange Weg des Hieronymus K.

Franzi Hermann


EUR 12,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 144
ISBN: 978-3-99146-153-1
Erscheinungsdatum: 21.08.2023
Ein junger Mann aus der Steiermark wird wegen der unbarmherzigen Verfolgung der Protestanten durch Erzherzog Ferdinand II. zur Flucht aus seiner Heimat gezwungen, weil er nicht bereit ist, seinem Glauben abzuschwören. Fern der Heimat findet er sein Glück.
Erstes Kapitel


Spätsommer 1599, Leoben, Steiermark

Ihm war kalt, als er aufwachte. Die Sonne hatte sich noch hinter den Bergen versteckt, nur das fahle Mondlicht erhellte die Ritzen seiner kleinen Kammer oberhalb der Wirtschaftsräume. Die Fensterläden hatte er verschlossen, damit die kalte Herbstluft noch ein wenig ferngehalten wurde.
Er hatte schlecht geschlafen, immer wieder war er aufgewacht und hatte sich Sorgen um eine seiner Kühe gemacht, die sich gestern am rechten Vorderfuß verletzt hatte, nun ein geschwollenes Fußgelenk hatte und arg humpelte. In drei Tagen sollte es hinabgehen ins Tal, wo die Besitzer der siebenunddreißig Kühe auf die Rückkehr von der Alm warteten, die er, Hieronymus Köhler, gemeinsam mit einem weiteren Senner, dem Strobel Alois und einer Sennerin, der Stalhuber Liesl, den Sommer über auf der Kreuzeckalm oberhalb von Leoben betreute.
Die Kreuzeckalm war eine Alm, von der aus man einen wunderbaren Blick auf das angrenzende Bergpanorama hatte. Auf der Alm wuchsen die verschiedensten Kräuter, die der Milch und dem daraus gewonnenen Käse ihr spezielles Aroma gaben.
Kurz oberhalb der Alm wuchsen Latschenkiefern, die bei einem Steinschlag die Wucht der herabstürzenden Gesteine ein wenig bremsten und so die Alm ein wenig schützten.
Ein paar Murmeltiere hatten ihren Bau ganz in der Nähe. Sie waren stets aufmerksam, aber dennoch recht zutraulich, hatten sie sich doch an die anderen Almbewohner längst gewöhnt.
Ein kleiner Bergbach spendete mit seinem frischen Quellwasser immer genug zu trinken für Mensch und Tier.
Die Almhütte war schon in die Jahre gekommen, erfüllte aber noch immer ihren Zweck. Lediglich die Fundamente waren aus Stein, alles andere war aus massiven Holzbalken zu einer Blockhütte zusammengefügt, die dem stetigen Einfluss des Wetters inzwischen ihren Tribut zollten.
Im Sommer ließ es sich hier ganz gut leben, im Winter allerdings wohnte hier niemand. Die Bewohner waren mit den Kühen ins Tal gezogen und hatten die Hütte verlassen. Wenn der Winter Einzug hielt, war sie regelmäßig schon frühzeitig eingeschneit.

Der Strobel Alois war ein junger Mann und gerade einmal fünfzehn Jahre alt. Er war das erste Mal, dass er als Senner mit auf der Alm war, und Hieronymus musste anerkennen, dass Alois trotz seiner jungen Jahre die Arbeit auf der Alm gut machte. Er melkte zügig die ihm zugewiesenen Kühe, mistete den Stall ordentlich aus und half bei der Käseherstellung tatkräftig mit. Er war bescheiden und zurückhaltend, hatte aber immer einen übermäßigen Appetit, was bei Jugendlichen in seinem Alter und bei der schweren Arbeit auf der Alm auch niemanden wundert.
Wenn sich einmal eine Kuh verstiegen hatte und am Nachmittag nicht zum Melken kam, war Alois es, der schnell und behände den Berg hinauflief, um die verirrte Kuh zu suchen und zurück zur Almhütte zu treiben.

Die Stalhuber Liesl war schon eine alte Frau über Fünfzig. Ihr machte das Rheuma arg zu schaffen und mit dem Hören war es auch nicht so gut. Sie war schon viele Jahre als Sennerin auf der Alm gewesen und kannte alle Probleme, die den Sommer über auf der Alm auftreten. Sie war hauptsächlich für die Käseherstellung verantwortlich. Hier hatte sie die meiste Erfahrung und ihr Bergkäse war von außerordentlicher Qualität.
Außerdem versorgte sie die Männer mit schmackhaftem Essen und backte ein köstliches Brot.
Das Melken der Kühe übernahmen. die Männer, Liesl hatte ohnehin genug zu tun und mit ihren vom Rheuma steifen Fingern war ein Melken kaum möglich.
Während Hieronymus und Alois gemeinsam in einer Kammer unter dem Dach schliefen, hatte Liesl eine kleine Kammer im Erdgeschoss, unmittelbar am Stall. Die Kühe spendeten ein wenig Wärme und so war es auch in Liesls Kammer nachts angenehm warm.
Die Kühe waren nur tagsüber auf der Almweide, nachts blieben sie im Stall, denn in dieser einsamen Gegend streifte ein alter Braunbär umher, der durchaus in der Lage war, eine Kuh zu reißen, um sich daran satt zu fressen. Einmal hatte er auf der Nachbaralm, auf der die Ziegen des Dorfes gehütet wurden, mehrere Ziegen gerissen. Das sollte den Kühen, für die Hieronymus verantwortlich war, nicht passieren.
Hieronymus Köhler war nun schon sechs Jahre Knecht auf dem Bergkramerhof. Als er dreizehn Jahre alt war, hatte er seine Arbeit dort begonnen und war nun schon im dritten Jahr den Sommer über auf der Alm. Stets hatte er die Arbeit zur vollsten Zufriedenheit seines Bauern und der Besitzer der übrigen Kühe ausgeführt und nun, in diesem Jahr, musste sich ausgerechnet die beste Kuh drei Tage vor Almabtrieb am Fuß verletzen! Welch ein Pech!
Zwar hatte Hieronymus immer eine Salbe parat, die er aus selbst gesammelten Kräutern hergestellt hatte. Damit hatte er das Gelenk der kranken Kuh auch schon mehrmals eingerieben, trotzdem konnte sie mit dem rechten Vorderfuß wegen der Verletzung nicht fest auftreten. Ein riesiges Problem beim Almabtrieb, denn der Weg ins Tal führte mehrere Kilometer über steiniges Gelände und über enge und steile Pfade.
Hieronymus hörte von ferne die Turmuhr der Sankt Jakobus Kirche von Leoben fünf Uhr schlagen. „Noch eine halbe Stunde“, dachte er, „dann läuten die Glocken zur Frühmesse für die Katholiken.“ Die Katholiken hatten längst die Mehrheit im Land, nachdem Erzherzog Ferdinand II. seit 1590 die Herrschaft über Innerösterreich, also über Kärnten, Krain und die Steiermark, zu der auch Leoben, der Heimatort von Hieronymus Köhler gehört, übernommen hatte.

Erzherzog Ferdinand II. war ein überzeugter Katholik und würde seinen Untertanen den Protestantismus, den sein Vater Erzherzog Karl II. zumindest toleriert hatte, schon austreiben. Was bildete sich dieser Luther eigentlich ein? Seine katholische Kirche reformieren? Eine Bibel, die jeder lesen kann? Keine Beichte mehr? Pastoren, die heiraten und Kinder haben? Nein! Nicht mit ihm!
Ferdinand II. war am 5. Juli 1578 in Graz geboren, hatte bei den Jesuiten, die den Protestantismus kategorisch ablehnten, das Gymnasium besucht und studiert. Hier war ihm gelehrt worden, dass es einen Protestantismus nicht geben dürfe und nur allein der Katholizismus die einzig richtige Religion sei. Diese Erziehung bei den Jesuiten dürfte maßgeblich für seine spätere Ablehnung gegenüber dem Protestantismus gewesen sein.
Ferdinand war bereits 1590 nach dem Tode seines Vaters Karl II. Erzherzog von Innerösterreich geworden. Da er aber noch nicht volljährig war und zunächst noch von den Jesuiten unterrichtet wurde und studierte, führte seine Mutter erst einmal die Geschäfte.
1596 trat er eine Pilgerreise nach Lorento in den Marken an. Hier legte er ein freiwilliges Gelübde ab, wonach er den Katholizismus um jeden Preis wieder zur allgemeinen Religion in seinem Land machen wolle. Auf dieser Reise hatte er auch Papst Clemens VIII. getroffen, der ihn in seiner negativen Ablehnung des Protestantismus bekräftigte. So kehrte Ferdinand II., gefestigt in seiner Meinung, aus Lorento in den Marken zurück nach Graz und vertrat von nun an einen Kurs der Absolution und der Gegenreform.
Im Dezember 1596 huldigten ihm die Stände der Steiermark, ein Jahr später die von Kärnten und der Krain. Nun konnte er damit beginnen, sein Gelübde einzulösen.
Viel zu viele seiner Untertanen hatten sich schon zum evangelischen Glauben bekannt. Das musste geändert werden! Sofort! Mit allen Mitteln. „Besser eine Wüste regieren als ein Land voller Ketzer!“, soll Ferdinand II. einmal geäußert haben.
Entweder diese Protestanten verließen sein Land oder sie würden hart bestraft werden! Noch bevor das Jahrhundert beendet sein würde, sollten alle seine Untertanen wieder katholisch sein. Dafür blieb nicht viel Zeit!
Um dieses Ziel zu erreichen, rief er die Fürsten seines Landes zusammen und befahl ihnen, dafür zu sorgen, dass sämtliche Protestanten bis zum Jahresende zu den Katholiken konvertieren. „Sollten sie sich weigern, bestraft sie hart. Verprügelt sie, steckt ihre Häuser in Brand oder werft sie in den Kerker! Vernichtet ihre Kirchen und verwüstet ihre Friedhöfe! Keiner soll ungeschoren davonkommen!“, befahl er und ließ keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit aufkommen.
Nicht alle Fürsten aber waren der gleichen Meinung. Einige von ihnen waren Protestanten und so wurde in einigen Fürstentümern nur sehr zögerlich mit der Umsetzung begonnen.

In Graz allerdings hatte man auf diese Anordnung längst gewartet und war froh, nun den Protestanten den Kampf ansagen zu können. Zuerst wurden alle evangelischen Bücher eingesammelt und, wie es heißt, Wagenladungen davon auf dem Marktplatz verbrannt.
Dann waren die Priester und Gelehrten dran. Sie wurden des Landes verwiesen. Unter ihnen der Mathematiker Johannes Kepler. Anschließend sollten die wohlhabenden Geschäftsleute zum Katholizismus konvertieren. Da viele dieser Aufforderung nicht nachkamen, wurden auch sie des Landes verwiesen. Letztendlich führte das dazu, dass die Wirtschaft des Landes schwer geschädigt wurde.

Hieronymus war, wie seine Eltern und Geschwister, ein überzeugter Protestant. Alle waren ehrlich, fleißig und fest in ihrem Glauben. Auch Drohungen und harte Strafen, von denen man gehört hatte, brachten sie nicht davon ab, ihrer evangelischen Kirche die Treue zu halten.
„Mein Sohn, sei stark in deinem Glauben und vertraue auf Gott! Lass dich durch nichts und von niemandem von deiner Überzeugung abbringen und bleibe unbeirrt auf deinem Weg!“, hatte ihm einmal sein Vater mit auf den Weg gegeben.
Auch Hieronymus hatte von dem Vorhaben des Erzherzogs Ferdinand II. gehört, doch hatte er alle Bedenken mit einer Handbewegung abgetan und gemeint, ihn und seine Familie würde das nicht betreffen.
Der Herzog würde schon zur Vernunft kommen und den Protestanten ihren Platz lassen, schließlich zahlten sie ihren Zehnten ebenso wie die Katholiken.
Während er, schon wach, noch auf seinem Strohlager ruhte und auf den neuen Morgen wartete, machte er sich Gedanken über sein Leben und seine Zukunft. Schon in wenigen Monaten würde das Jahrhundert zu Ende gehen und man würde das Jahr 1600 schreiben. Was das neue Jahrhundert wohl bringen würde? Würde er noch weitere Jahre beim Bauern auf dem Bergkramerhof arbeiten? Würde er weiter jeden Sommer auf der Alm verbringen? Würden seine Eltern, die eine gut gehende Tuchhandlung betrieben, weiterhin auch ohne ihn zurechtkommen?
Würden alle gesund bleiben und würde die Ernte so gut werden, dass alle satt zu essen hätten und nicht hungern müssten?
Nun gut, sein älterer Bruder war ebenfalls im Tuchhandel tätig. Dieser sollte das Geschäft einmal übernehmen. Aber jetzt arbeitete er noch in Graz in einem großen Handelshaus, um seine Kenntnisse zu vertiefen.
„Vielleicht hätte ich doch besser zu Hause bleiben sollen, um den Eltern zu helfen. Aber der Tuchhandel gefiel mir ganz und gar nicht. Den ganzen Tag im Geschäft stehen und kein Tageslicht sehen? Nein, das wäre nichts für mich ! Ich brauche Freiheit und die Natur, auch wenn es manchmal eine harte Arbeit ist!“, dachte er und war mit seiner Arbeit als Senner auf der Alm voll und ganz zufrieden.
Über allem stand aber die Frage, was aus ihm werden würde. Er war nun neunzehn Jahre alt und noch nicht verheiratet. Es gab einmal ein Mädchen im Dorf, das hätte er sich als seine Frau vorstellen können. Sie war hübsch und gut gewachsen. So ein Mädchen wünschte er sich zur Frau. Nur leider hatten ihre Eltern etwas anderes mit ihr vor. Kurzerhand wurde sie an den jüngeren Bruder auf dem Bergkramerhof vergeben. Ausgerechnet auf den Hof, auf dem er als Knecht arbeitete. Es war zum Haare raufen. Aber gegen den Willen ihrer Eltern war da nichts zu machen. Außerdem wusste sie gar nichts davon, dass er sie im Stillen verehrte.
Inzwischen war es Zeit zum Aufstehen. Hieronymus weckte seinen Mitbewohner Alois und ging dann zum Fenster, um die Fensterläden zu öffnen. Der Blick nach draußen ließ ihn erschrecken. In der Nacht war der erste Schnee gefallen. Die Schneegrenze reichte bis auf wenige Meter an die Alm heran.
Wenn in der nächsten Nacht auch wieder Schnee fiel, würde es sicherlich noch kälter werden und die Schneegrenze weiter sinken. Dann wäre die Alm zugeschneit und die Kühe hätten nichts mehr zu fressen. Eine Katastrophe!

Zuerst wunderte sich Hieronymus, dass die Kühe im Stall plötzlich unruhig wurden. Dann klopfte es heftig an der Haustür. Hieronymus öffnete die Tür und rief erstaunt: „Mutter!“ Noch ehe er irgendetwas sagen oder fragen konnte, drängte die Mutter in die Hütte. Sie war völlig durchgefroren, hatte sie doch den langen Weg bis zur Almhütte noch vor Sonnenaufgang gemacht. Lediglich der Mond hatte ihr den Weg geleuchtet, wenn er denn hin und wieder zwischen den Wolken hervorgekommen war.
Hieronymus wollte seiner Mutter einen warmen Kräutertee bereiten, die winkte aber ab: „Hieronymus, wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Schergen von Erzherzog Ferdinand sind im Dorf und bedrängen alle Protestanten, dass sie wieder zum katholischen Glauben übertreten sollen. Wer sich weigert, soll hart bestraft werden.“
„Vater haben sie auch schon geholt. Zuerst haben sie ihn verprügelt und dann mitgenommen. Es war schrecklich! Zwei Männer haben ihn festgehalten, ein Dritter hat immer wieder auf ihn eingeschlagen! Er blutete aus mehreren Wunden am Kopf. Ich konnte ihm nicht helfen! Jetzt ist er fort und ich weiß nicht, wohin sie ihn gebracht haben und was sie mit ihm machen werden. Nachdem sie ihn abgeführt hatten, drohte mir der Anführer, er würde unser Haus anzünden, wenn Vater nicht katholisch würde!“
Jetzt brach sie in Tränen aus und Hieronymus, der bis dahin schweigend und erstaunt zugehört hatte, versuchte sie zu trösten: „Mutter, es wird sich alles zum Guten fügen. Wir haben immer pünktlich unseren Zehnten bezahlt, darauf wird der Herzog nicht verzichten wollen. Vater kommt bestimmt bald zurück!“
Im Stillen wusste Hieronymus, dass das so nicht passieren würde. Sein Vater würde nicht einknicken und zum Katholizismus konvertieren. Das würde er als Verrat ansehen. Dafür kannte er den Vater zu gut und wusste, dass dieser lieber sterben würde, bevor er von seiner festen Überzeugung abrückt.
Die Mutter wusste es auch. Sie wusste aber auch, dass Hieronymus ebenso wenig seinen Glauben leugnen würde und so fürchtete sie, dass sie am Ende beide, ihren Mann und ihren Sohn, verlieren könnte.
„Hieronymus, du musst fort von hier! Sofort! Bevor die Schergen kommen und dich mitnehmen! Ich habe dir ein Bündel mit den nötigsten Sachen gepackt und ich gebe dir Geld von unserem Ersparten mit, damit du dir etwas zu Essen kaufen und dich freikaufen kannst, wenn dich jemand aufhalten will! Hier sind ein paar Taler auf die Hand fürs Allernötigste. Den Rest habe ich dir in einen Brustbeutel eingenäht. Trage ihn immer am Körper, damit man ihn dir nicht stiehlt. Vielleicht kannst du ja in einem Jahr zurückkommen, dann bring ihn wieder mit, wenn nicht, baue dir damit ein neues Leben auf!“
„Aber Mutter, wohin soll ich denn gehen? Außerdem kann ich euch nicht alleine lassen, vor allem nicht, solange wir nicht wissen, was mit Vater geschieht! Wenn er wieder zu Hause ist, sehen wir weiter“, warf Hieronymus ein.
Die Mutter aber ließ sich nicht beirren: „Junge, du musst gehen, und zwar sofort. Vielleicht sind die Schergen schon auf dem Weg hierher. Irgendwann wird sich alles beruhigt haben, dann kannst du zurückkommen, jetzt aber gehe! Sofort! Jetzt hast du einen Vorsprung. Und Alois und Liesl werden sagen, du seist schon mehrere Tage fort. Dann werden sie dich nicht verfolgen!“
Liesl und Alois, die das ganze Gespräch schweigend und erstaunt mitverfolgt hatten, nickten und drängten Hieronymus ebenfalls, so schnell wie möglich zu verschwinden. „Die Kühe bringen wir schon allein ins Dorf“, meinte Alois, „sie kennen den Weg, außerdem bin ich ein guter Hirte! Nun geh schon und komm in ein paar Monaten heil wieder!“

Nach einer kurzen Bedenkzeit nahm Hieronymus den Brustbeutel, hängte ihn sich um den Hals, umarmte seine geliebte Mutter und verabschiedete sich von Alois und Liesl, mit denen ihn inzwischen eine enge Freundschaft verband. Dann schnappte er sich das Bündel, das ihm die Mutter geschnürt hatte und verließ die Almhütte, ohne sich noch einmal umzusehen.
Wohin er gehen würde, wusste er noch nicht. Auf jeden Fall erst einmal in eine Richtung, in der ihn die Schergen des Herzogs nicht vermuten würden. So weit weg sollte es nicht sein. Schließlich wollte er so schnell wie möglich wieder zurück in seine Heimat, nach Leoben.
Dass er seinen Heimatort Leoben, seine Alm, die Steiermark, vor allem aber seine geliebte Mutter und den Vater niemals wiedersehen würde, ahnte Hieronymus zu diesem Zeitpunkt nicht.
Hieronymus war gut zu Fuß und der ganze Tag lag vor ihm. So konnte er, wenn er zügig gehen würde, Leoben ein gutes Stück weit hinter sich lassen.
Zuerst ging er an der Schneegrenze entlang, dann bog er nach links in das Aubachtal ab, folgte dem Aubach, bis dieser in die Mur mündete. Es war ein mühsamer Abstieg, der ihn viel Zeit kostete. Dann folgte er dem Lauf der Mur, jedoch immer in größerem Abstand, damit man ihn nicht sofort entdeckte, sollten die Schergen des Herzogs nach ihm suchen.
Am Spätnachmittag erreichte er Bruck, einen kleinen Ort im Murtal, in dem eine kleine Kirche stand. Zu seiner Freude war es eine evangelische Kirche und Hieronymus hoffte, dass er hier eine Unterkunft finden würde. Er klopfte am Pfarrhaus und wurde nach wenigen Augenblicken eingelassen. Eingelassen ist eigentlich der falsche Ausdruck. Er wurde geradezu hereingerissen und die Tür hinter ihm sofort verriegelt und verschlossen.
Der Pastor, ein kleiner, hagerer Mann, so um die fünfzig Jahre alt, begrüßte ihn herzlich und bat ihn in sein Pfarrzimmer, wo beide in gemütlichen Sesseln Platz nahmen.
„Lieber Mann, wir haben Sie kommen sehen und vermuten, dass Sie auf der Flucht vor den Schergen des Herzogs sind. Deshalb haben wir Ihnen so schnell die Tür geöffnet und Sie hereingebeten“, begann der Pastor das Gespräch: „Erzählen Sie, wer sind Sie, wo kommen Sie her und wohin wollen Sie? Was haben Sie erlebt? Sind Ihnen die Schergen des Herzogs auf der Spur?“
Hieronymus bedankte sich für den schnellen Einlass und die Offenheit, mit der ihn der Pastor empfangen hatte. Dann fing er an zu erzählen, berichtete über seine Herkunft, seinen Namen, seine Eltern, über seine Arbeit auf der Alm, über den Besuch der Mutter und dass die Schergen seinen Vater arg misshandelt hätten, weil er nicht zum katholischen Glauben konvertieren wollte. Weiter erzählte er, dass er den evangelischen Glauben standhaft verteidigen würde und ein Übertritt zum Katholizismus für ihn nicht infrage käme.
Dann erzählte er, dass er an einen Ort wolle, wo man Protestanten nicht drangsaliert oder ausweist, wo er einer geordneten Arbeit nachgehen könne, fleißig und kräftig sei er. Nur wisse er nicht, wo er einen sicheren Ort und eine ordentliche Arbeit finden könne.
Der Pastor, der ja auf einer höheren Schule gewesen war und dort auch Kenntnisse in Geographie erlangt hatte und sehr wohl wusste, welche Länder katholisch oder evangelisch waren, hatte gut zugehört und gab nun seinen Ratschlag, wohin und auf welchem Wege Hieronymus ein Land erreichen könnte, in dem er vor Verfolgung sicher sei.
Ein Land, in dem er Arbeit finden würde und in dem er vor Verfolgung sicher sei, sei das Königreich Sachsen. Hier solle er zunächst nach Dresden gehen und sich dort beim Pastor der evangelischen Katharinenkirche melden. Der Pastor sei ein guter alter Freund, man habe gemeinsam das Theologiestudium besucht. Ein ordentliches Empfehlungsschreiben wolle er ihm wohl mitgeben.
Nun aber sei es an der Zeit, erst einmal ausgiebig zu speisen, sein Gast sehe ja sehr hungrig aus, meinte der Pastor und seine Frau habe bestimmt schon ein ordentliches Abendessen bereitet.
5 Sterne
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Tolles spannendes Buch.

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