Der Junge aus dem Nichts

Der Junge aus dem Nichts

Manfred Schwebs


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 574
ISBN: 978-3-99048-236-0
Erscheinungsdatum: 29.10.2015

Leseprobe:

Es begann alles mit Frauen in langen, schwarz-weißen Gewändern, die mit einer Art von Arroganz ihr Habit trugen.
Ihre strengen, kantigen Gesichter machten mir von Anfang an Angst, als ich 1953 mit fünf Jahren zum Liebfrauenhaus in den Kindergarten St. Martin nach Liblar kam.
Ihre Gesichter waren vom steifen Stoff so eingeschnürt, dass die ungepflegte Haut sich am Kinn gequollen herausdrückte.
Das Feuer knisterte im Ofen und spärliches Licht fiel in den großen, kalten Raum, als ich zu dieser Zeit noch artig meinen Arm hob, so, wie man es mir mit Prügel beigebracht hatte.
„Ich muss mal auf die Toilette, Schwester Barbara!“
„Nein! Du warst heute schon einmal auf dem Klo, Manfred.
Spiele weiter!“ Ich zuckte zusammen, als ihre schrillen Worte durch den Kindergarten schallten. Die Ordensfrau, die sich gerade ihre Kukulle übergezogen hatte, saß seitlich an ihrem Schreibtisch. Dabei strich sie in selbstgefälliger Art über das Kleidungsstück und versuchte dabei, die Falten zu bändigen. Ich fragte sie noch einmal, aber das Luder schaute nicht einmal hoch. Mit hängendem Kopf machte ich mich auf den Nachhauseweg und ärgerte mich, dass ich in die Hose gemacht hatte.
Nach einigen Metern auf der Carl-Schurz-Straße bog ich nach rechts und ging durch ein großes, offenes Tor direkt auf den Wassergraben zu. Der ganze Kanal war bis dort, wo die Schwäne und Stockenten sich tummelten, zugefroren.
Beim Verlassen der schützenden Häuserreihe traf mich ein eisiger Wind, der mich bis an einen Baum drückte.
Es klebte alles am Hintern, sodass ich mir kurzerhand die lange Hose auszog und meinen Schlüpfer mit Inhalt unter großen Blättern auf der Kastanienallee versteckte.
Aus Scham und mit der Ungewissheit, was mich zu Hause erwartete, erreichte ich nur zögernd unsere Wohnung.
„Wo ist denn deine Unterhose, Manfred?“, fragte Klara, meine Mutter, überrascht, als sie mir die kalten Sachen auszog.
„Ich habe sie verloren, Mama!“, kam nur zögernd aus mir heraus. „Wo denn, Junge?“
„Ich weiß es nicht mehr! Ich habe es vergessen“, sagte ich zu ihr, indem ich das erste Mal bewusst log.
„Komm, wir suchen sie!“, rief Klara, die sich dabei ihre gefütterte Winterjacke mit Kapuze überzog. Trotz der vielen Irrwege, die ich aus Scham mit ihr ging, fand sie die gefrorene Unterhose doch.
Das Positive war, Mutter schickte mich nicht mehr zu den schwarz-weißen Frauen ohne Haare ins Liebfrauenhaus.

Ein Schrei! „Ich bin gebissen worden!“
Mona und Tanja waren sofort hellwach und bei Vera an der Matratze. „Was ist passiert?“
Die beiden waren außer sich.
„Mama, Mama, die Ratten sind wieder da!“, schrie Vera ängstlich.
Kurz darauf erschien meine Mutter mit einer brennenden Kerze und die Nager huschten schnell durch die Löcher der morschen Bretterwand zurück.

Ich stand wieder einmal in der Strafecke und der Bambusstock sauste, von Schwester Elisabeth geschwungen, auf mich nieder. Ich hielt meine Hände wie befohlen geöffnet, sodass jeder Schlag besondere Schmerzen verursachte. Anschließend beugte sie mich nach vorne, riss mir von hinten die Hose herunter und die Schläge tobten auf meinem nackten Hintern weiter. Du bist eine böse Frau! Sie ist eine böse Frau! Es tut so weh. Hör endlich auf. Hör auf damit, Schwester Elisab…!
Manchmal war sie sehr besorgt um mich. Besonders beim Austreten!
Sie drückte mich dann mit kräftigen Händen gegen die Toilette, zog mir die Hosen bis auf die Knie und schaute mir von der Seite beim Pinkeln zu.
„Wenn du dich versaust, schimpft deine Mutter mit dir und dann gibt es Senge!“ Sie lachte mich an und war wie selten dabei von guter Laune gezeichnet.

Mit Tränen in den Augen wurde ich wach.
Gott sei Dank! Es war vorbei. Wir wohnten nicht mehr gemeinsam mit Familie Pleismann und Tuschel in der alten Holzbaracke von Herrn Tammel. Die quietschenden Ratten waren verschwunden und es gab keine Schläge mehr von Schwester Elisabeth.
Unser neues Zuhause war eine Zweizimmerwohnung auf dem Schulhof, ohne Bad und WC, neben den Schulhoftoiletten in Liblar.
Meine Gedanken liefen weiter und weiter und machten schließlich kehrt marsch. Verhalte dich ruhig, sodass keiner etwas merkt. Sei ein Mann und weine nicht! Mit einem tiefen Seufzer schlief ich ein und wusste nichts davon, dass Edmund Hillary bereits im Mai den Mount Everest, den höchsten Berg der Erde, bestiegen hatte.

Tausende von Kerzen und Lichtern erhellten den großen Saal.
Überall standen geschmückte Tannenbäume und wir wussten nicht, wo wir zuerst hinschauen sollten. Der Klostersaal St. Peter in Liblar erstrahlte in einer nie von mir gesehenen weihnachtlichen Pracht.
Wir waren alle wie aus dem Ei gepellt und trugen Sachen, die Mutter für uns geschneidert hatte. Oft arbeitete sie nächtelang, sodass wir immer gut und sauber angezogen waren.
Klara und meine drei älteren Schwestern bahnten sich einen Weg durch den Saal, wo Mutters Freunde, die sie von früher kannte, auf uns warteten.
„Ich habe Angst, Vera! Ich habe mein Gedicht vergessen!“, sagte Mona kleinlaut.
„Ich auch!“ Tanja hing sich natürlich hintendran und wusste auf einmal auch nichts mehr.
„Wir schaffen das schon, Mädels!“
Mit einem Schmunzeln auf den Lippen verkündete Vera pure Selbstsicherheit.
Als ich meine drei Schwestern so ansah, kam ich ins Grübeln und sagte leise zu mir:
„Typisch! Wenn es drauf ankommt, wisst ihr nichts mehr, ihr blöden Gänse. Aber schön seid ihr, Mädels!“, stellte ich wieder einmal mit Stolz fest.
Dort, vor den Tannenbäumen mit den brennenden Kerzen, saßen sie. In Reih und Glied, der Größe nach sortiert. Die Haare voller Locken. Ja, es war ein außerordentlich schönes Bild. Das gestand sich der kleine Betrachter, der Manni, neidlos ein. Weihnachtsfeier der Vertriebenen nannte man das große Treffen kurz vor Weihnachten. Es war das Fest der Pimocken und Polacken, wie man uns oft beschimpfte. Hunderte von Menschen saßen auf ihren Stühlen oder waren mit irgendetwas beschäftigt. Die Ober liefen hin und her und bedienten die Gäste mit Getränken und Zigaretten. Alle anwesenden Kinder hofften mit glühenden Gesichtern auf ein Geschenk, wenn sie ihre Gedichte auf dem Podest vor allen Leuten aufgesagt hatten. Auch der Weihnachtsmann mit seinem langen, weißen Bart war anwesend. Er saß vor seinem Schlitten auf der linken Seite der Bühne.
„Mona, Tanja, Vera Schwäps, ihr seid an der Reihe und der kleine Manfred soll auch mitkommen. Kommt bitte hoch und zeigt, was ihr gelernt habt!“, schallte es von der Bühne durch einen knarrenden Lautsprecher.
Die Mädchen zierten sich, hatten Angst und wollten nicht von ihren Stühlen aufstehen. Es wurde ruhig im Saal, was ein leises Murmeln nach sich zog. Alle schauten schon auf sie.
„Ich habe Pipi in die Hose gemacht!“, sagte Tanja aufgeregt und drückte ihre Knie fest zusammen.
„Das fehlt jetzt noch, Tanja! Jetzt stellt euch nicht so an.
Ihr habt doch alles gelernt, kommt!“
Erst als die Mutter aufstand und Richtung Bühne ging, lief der Rest der Familie hinterher. Auf dem Podest näherten wir uns nur zögernd dem roten Mann, der uns alle einzeln und mit Namen begrüßte.
Meine Schwestern leierten hintereinander mit roten Wangen ihre erlernten Gedichte herunter, sodass alle Anwesenden den verdienten Beifall spendeten. Da ich auch etwas gelernt hatte, ärgerte es mich, dass keiner von mir ein Weihnachtsgedicht hören wollte.
Es blitzte schon den ganzen Nachmittag bis in den frühen Abend.
Unzählige Fotos wurden von den Gästen geschossen, immer und immer wieder. Zum Abschied bekamen wir alle noch einen Stuten und eine weiße Tüte mit Süßigkeiten.

Da es in der vorherigen Nacht stark geschneit und das gestreute Salz nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte, war der Weg zum Kloster durch den Schneematsch schon sehr schwierig. Aber auf dem Rückweg hielten wir uns überall, wo es möglich war, fest und schlitterten von Haus zu Haus in Richtung Schule.
„Versaut euch nicht, Kinder! Besonders du, Manfred!“, rief plötzlich unsere Mutter … als ein VW-Käfer an uns vorbeifuhr und uns von oben bis unten vollspritzte. Mit viel Mühe und auf Umwegen fanden wir schließlich den Weg bis in unser neues Zuhause!

Meine Zähne klapperten gegeneinander, als ich am nächsten Tag hinaustrat und die Stufe hinunterschlitterte. Scharf blies der eisige Wind und ich musste mich am Geländer festhalten, um nicht abzurutschen. Die Kälte drang durch meinen dicken Wollpullover, den Mutter gerade erst für mich gestrickt hatte. Ich griff mit beiden Händen in den pappigen Schnee und rieb diesen über mein Gesicht, was mich augenblicklich warm machte. Erschreckt schaute ich auf und sah eine Anzahl schwarzer Nebelkrähen, die übers Feld flogen, um sich in den kargen Bäumen des Kapellenwäldchens abzusetzen.
Sie schimpften wie immer und zankten sich ohne Rast.
Es war Pause und alle Kinder hielten sich trotz der Kälte auf dem Schulhof auf.
„Komm, Manfred! Wir bauen einen Schneemann!“, rief Edgar mit ungeduldiger Miene lautstark über den Schulhof.
„Ich komme, Ed!“
Ich nickte ihm zu und stellte fest, dass er viel zu große Fausthandschuhe und eine Mütze von seinem Vater trug, die ihm fast beide Augen verdeckte. Nach jeder hastigen Bewegung packte er die Mütze an der Rotznase vorbei und schob sie wieder in den Nacken zurück. Seine Wangen glühten und erinnerten mich an reife Sommeräpfel.
Ein leichtes Schneetreiben hatte eingesetzt und der Wind fuhr mit den Flocken Karussell, als mein Freund die rechte Hand hob und sagte:
„Hier sind einige Stücke Kohle und eine Mohrrübe, Oma Becker hat sie mir gegeben, damit wir Augen und eine Nase für den Schneemann haben.“
Nach diesen Worten zog er wieder seine Rotze hoch, die er anschließend herunterschluckte.
Wir beiden bauten den schönsten und größten Schneemann, der je auf dem Schulhof in Liblar gestanden hatte. Es klingelte! Alle Kinder stürmten in die Wärme und der Platz war in kurzer Zeit wie leer gefegt. Wir beide schlitterten noch eine Weile über den Schulhof. Dabei sah ich durch die von Eisblumen geschmückten Scheiben und beobachtete meine älteren Schwestern, die artig beim Unterricht saßen.
Ich hob meinen Arm zum Gruß, als Lehrer Hansen mich erblickte.
Den Dank gab er mir mit einem Lächeln zurück.
Er war ein netter und feiner Herr, der im Schulgebäude eine Wohnung mit seiner hübschen Frau bewohnte. Ich half beiden manchmal in ihrem großen Garten, der hinter dem Klinkerbau lag.
Ed musste nach Hause und ich suchte die Toiletten auf.
Wasserpfützen – Schneereste, vermischt mit Toilettenpapier und Schmutz – breiteten sich überall auf dem Boden aus. Ich musste sehr aufpassen, um dort nicht auszurutschen.
Deutlich nahm der Schneefall zu, als ich quer über den Platz auf die Straße lief. Das Pferdefuhrwerk von Herrn Seidel mit Max war bei diesem starken Schneetreiben kaum noch auszumachen.
Doch die Umrisse von zwei schwarzen Männern mit Pudelmützen, die Kohlensäcke auf ihrem Rücken in Richtung von Fräulein Müllers Keller trugen, waren deutlich zu sehen. Eine Tür fiel ins Schloss.
„Guten Tag, Manfred! Kannst du mir mal zur Hand gehen?“
„Ja, gerne, Herr Fuchs!“
Ich folgte ihm über einen schneebedeckten, mit Asche bestreuten Betonweg durch seinen Garten, an den Wäscheleinen vorbei zum Gerätehaus. Neugierig schauten die Hälse des Rosenkohls mit ihren gepuderten Köpfen aus dem Schnee. Eine wohlige Wärme berührte mich von Kopf bis Fuß, als die Tür geöffnet wurde. Der verrostete Kanonenofen in der Ecke erfüllte seinen Dienst mit voller Leistung und brachte die Platte zum Glühen.
„Geh nicht zu dicht ran!“, ermahnte mich Herr Fuchs liebenswürdig.
Neben vielen Gartengeräten, Materialien und Werkzeugen sah ich einen halb fertigen Holzroller, der an zwei Seilen von der Decke hing.
„Wem gehört denn dieser wunderschöne Roller, Herr Fuchs?“, fragte ich neugierig.
„Ich habe ihn für einen kleinen Jungen gebaut, der ihn zu Weihnachten bekommt. Halt hier mal fest! Ich muss noch ein Loch für die Achse bohren.“
Der Schneefall gönnte sich eine kurze Atempause. Die Arbeit war beendet und ich wollte gerade nach Hause gehen, als …
„Warte, Manfred, warte! Ich möchte dir noch mein neues Auto zeigen!“, rief Herr Fuchs mir hinterher, während er sein Gerätehaus verschloss.
„Schau mal!“, sagte er, als wir vorne in der Garage standen.
„Das ist eine BMW Isetta, die in Serienproduktion gefertigt wird. Ja … hm … und mittlerweile fahren über eine Million Autos auf unseren Straßen. Wo soll das noch hinführen, Manfred?“
Dabei hob er gleichgültig seine Schulter und verabschiedete sich mit einem geräuschvollen Gähnen. Jetzt hielt Väterchen Frost seinen Einzug, den er voll ausnutzte. Die Bürgersteige und Straßen waren total vereist, sodass sich kaum noch etwas auf ihnen bewegte. Die beiden blauen Lloyd LT 400 auf der Brühler Straße, voll beladen mit Getränken, quälten sich mit Schneeketten zur Luxemburger Straße.
Meine Mutter stand schon in der Tür, als ich über den Schulhof schlitterte, und begrüßte mich mit folgenden lieben Worten:
„Du kommst viel zu spät! Wo warst du schon wieder?“
Die Kälte wich schnell aus allen Körperteilen, als ich versuchte, Mutter zu erzählen, was ich erlebt hatte. Anschließend schlenderte ich mit einer Tasse Kakao und einem Schmalzbrot an Tanja, Vera und Mona vorbei, die vor ihren Schularbeiten saßen.
„Morgen kommen der Nikolaus und der Knecht Ruprecht! Dann kommst du in den Sack, weil du immer so frech bist“, meckerte Mona laut und keck.
Obwohl ich große Angst davor hatte, erwiderte ich:
„Der schafft das nicht! Eher stecke ich ihn da rein.“
Mit diesen Gedanken schlief ich an diesem Abend ein und träumte von dem schönen Holzroller bei Herrn Fuchs, mit dem ich hin und her fuhr.
Am nächsten Morgen beim Standardfrühstück, das aus Broten mit Kunsthonig, Rübenkraut und Griebenschmalz bestand, fragte ich:
„Bekomme ich zu Weihachten auch einen Holzroller, Mama?“
„Nein, Junge! Dafür haben wir keine Geld!“
Traurig schaute sie dabei auf den Boden. Hoffentlich heult sie nicht schon wieder! Dies war im Augenblick meine größte Sorge.
Sie gab dabei Geräusche von sich, wie unsere Oma das auch konnte.
Es war ein Gemisch aus Weinen und Jammern, das mir unter die Haut ging. Die anklagenden Laute verletzten stets meine Seele mehr als die Prügel. Dabei vergaß sie nie, mehrmals „Wir haben ja kein Geld!“ einzubringen.
„Papa ist schon lange tot und wir haben wenig Geld und …“
„Ich will aber auch einen Papa haben! So wie alle anderen auf der Welt!“
„Dein Vater hat dich sehr geliebt, Junge. Er holte dich kurz nach der Geburt aus der Wiege und zeigte dich dem lieben Gott. Ihm liefen die Tränen, während er sprach, ohne Kontrolle durch sein Gesicht. ‚Beschütze meinen Jungen, halte deine gütige Hand über ihn und lasse ihn zu einem glücklichen Menschen heranwachsen. Mache ihn stark, gerecht und beschütze die Mädchen und meine Frau‘.“
Mit klagenden Lauten verließen diese Worte Mutters Lippen.
„Er war ein guter Mensch, Manfred! Nie war ihm etwas zu viel.
Als der Krieg ausbrach, holte die Wehrmacht ihn einfach von unserem Hof und schickte ihn zum Töten auf die Krim. Er konnte doch keiner Fliege etwas zuleide tun!“ Sie schluchzte kurz auf, putzte sich die Nase und begann erneut.
„Wir waren bis Kriegsende schutzlos den Partisanen ausgeliefert. Nach und nach nahmen sie uns alles, sodass ich für deine Schwestern und die Oma kaum noch etwas zum Essen hatte. Gott sei Dank haben sie uns keinen Schaden an Leib und Seele zugefügt.“
Sie machte eine kurze Pause und sprach mit nachdenklicher Miene weiter.
„Die Russen rückten näher zur Grenze und die Geräusche des Krieges wurden immer lauter, die uns Tag und Nacht bedrängten.
Es war nicht mehr zum Aushalten, alle um uns herum flohen aus Panik in den Westen. Auch wir packten aus Angst unseren Heuwagen, spannten das letzte Pferd davor, mit dem wir unsere Heimat verließen. Nach der Flucht aus Lasinsk kamen wir über viele Stationen mit dem Sammeltransport und den nötigen Papieren in Liblar an. Man wollte uns hier nicht haben und wir saßen die ganze Nacht vor dem Amt. Am folgenden Morgen bekamen wir dann vom Bürgermeister eine unerwartete, gute Nachricht und machten uns alle auf, um nach Lehrte zu fahren. Da Papa nicht wusste, wo wir waren, hatte er sich dort aus der Gefangenschaft zurückgemeldet.“ Sie weinte leise vor sich hin.
„Aber auch dort wollte man uns nicht, mein Kleiner. Die Papiere waren auf Liblar ausgestellt und dort mussten wir nach wenigen Tagen mit deinem Vater alle wieder hin!“
Nach einer kurzen Pause sprach sie betrübt weiter.
„Dort, im ehemaligen Donatusdorf Oberliblar, wurden uns von Herrn Weiß vorübergehend Schlafplätze in der Glück-Auf-Halle zugewiesen. Deine Oma blieb bei Tante Berta und Onkel Fritz in Lehrte zurück. Ja … dein Papa kam sehr krank aus dem Krieg zurück und es grenzte schon an ein Wunder, dass er noch so lange lebte. Der Krebs hatte ihn schon so gezeichnet, dass ich ihn kaum wiedererkannte. Er arbeitete dann als Handlanger bei der Fa. Meros, bis er mit zweiunddreißig starb. Ja … hm … Du warst gerade knapp zwei Jahre alt, mein Junge!“
Sie putzte sich die Nase und sprach leise weiter.
„‚Lass mich noch etwas leben für den Jungen. Der ist doch noch so klein!‘ Er betete viel und nahm dich immer wieder auf den Schoß. Trotz seiner schweren Krankheit war er in diesen Augenblicken, bis er starb, immer sehr glücklich.“
Ich konnte meine Tränen nicht mehr halten, stürmte zur Tür … riss sie auf und lief barfuß durch den Schnee. Bog um die Ecke, landete in der dunklen Waschküche und ließ meinen nassen Gefühlen freien Lauf. Die eisige Kälte war gnadenlos und siegte, sodass ich nach kurzer Zeit mit verweinten Augen zurück und Mutter direkt in die Arme lief.
„Mutter, mir ist so kalt, die Füße tun mir weh!“, klagte ich weinerlich.
„Bis du verheiratet bist, ist das alles wieder gut!“
Der einzige Trost, zu dem meine Mutter je fähig war.
Tag für Tag, wenn die drei Mädchen aus der Schule kamen, begannen sie sofort, ihre erlernten Gedichte aufzusagen.
Immer und immer wieder nervten sie mich damit.

Der Abend kam und mit ihm Nikolaus und der Knecht Ruprecht.
Es schneite ein wenig, die Laternen geizten mit ihrer Helligkeit und es fiel nur spärliches Licht auf den Schulhof.
Die beiden Gestalten! Der eine aufrecht gehend, der andere gebeugt, mit einem Sack auf dem Rücken, schwankte hin und her.
Mit lautem Kettengerassel bewegten die beiden sich nur langsam in unsere Richtung. Eine große Angst machte sich in mir breit.
Am liebsten wäre ich weggelaufen. Die vielen Drohungen von Teufel und Hölle saßen mir im Nacken und hatten deutliche Spuren hinterlassen.
Tanja, die neben der Tür am Fenster stand, begann sofort mit hochrotem Kopf, ihre erlernten Gedichte aufzusagen. Dabei leuchteten ihre großen, blauen Augen noch heller als sonst.
„Warte noch, bis sie hier sind!“, rief Mutter hitzig.
„Ich muss mal!“
Schnell lief sie aus der Wohnung … hin zu den dunklen Schulhoftoiletten. Vera aß in Ruhe selbst gebackene Plätzchen und Mona spielte nervös an ihrem kaputten Teddybären herum.

Es begann alles mit Frauen in langen, schwarz-weißen Gewändern, die mit einer Art von Arroganz ihr Habit trugen.
Ihre strengen, kantigen Gesichter machten mir von Anfang an Angst, als ich 1953 mit fünf Jahren zum Liebfrauenhaus in den Kindergarten St. Martin nach Liblar kam.
Ihre Gesichter waren vom steifen Stoff so eingeschnürt, dass die ungepflegte Haut sich am Kinn gequollen herausdrückte.
Das Feuer knisterte im Ofen und spärliches Licht fiel in den großen, kalten Raum, als ich zu dieser Zeit noch artig meinen Arm hob, so, wie man es mir mit Prügel beigebracht hatte.
„Ich muss mal auf die Toilette, Schwester Barbara!“
„Nein! Du warst heute schon einmal auf dem Klo, Manfred.
Spiele weiter!“ Ich zuckte zusammen, als ihre schrillen Worte durch den Kindergarten schallten. Die Ordensfrau, die sich gerade ihre Kukulle übergezogen hatte, saß seitlich an ihrem Schreibtisch. Dabei strich sie in selbstgefälliger Art über das Kleidungsstück und versuchte dabei, die Falten zu bändigen. Ich fragte sie noch einmal, aber das Luder schaute nicht einmal hoch. Mit hängendem Kopf machte ich mich auf den Nachhauseweg und ärgerte mich, dass ich in die Hose gemacht hatte.
Nach einigen Metern auf der Carl-Schurz-Straße bog ich nach rechts und ging durch ein großes, offenes Tor direkt auf den Wassergraben zu. Der ganze Kanal war bis dort, wo die Schwäne und Stockenten sich tummelten, zugefroren.
Beim Verlassen der schützenden Häuserreihe traf mich ein eisiger Wind, der mich bis an einen Baum drückte.
Es klebte alles am Hintern, sodass ich mir kurzerhand die lange Hose auszog und meinen Schlüpfer mit Inhalt unter großen Blättern auf der Kastanienallee versteckte.
Aus Scham und mit der Ungewissheit, was mich zu Hause erwartete, erreichte ich nur zögernd unsere Wohnung.
„Wo ist denn deine Unterhose, Manfred?“, fragte Klara, meine Mutter, überrascht, als sie mir die kalten Sachen auszog.
„Ich habe sie verloren, Mama!“, kam nur zögernd aus mir heraus. „Wo denn, Junge?“
„Ich weiß es nicht mehr! Ich habe es vergessen“, sagte ich zu ihr, indem ich das erste Mal bewusst log.
„Komm, wir suchen sie!“, rief Klara, die sich dabei ihre gefütterte Winterjacke mit Kapuze überzog. Trotz der vielen Irrwege, die ich aus Scham mit ihr ging, fand sie die gefrorene Unterhose doch.
Das Positive war, Mutter schickte mich nicht mehr zu den schwarz-weißen Frauen ohne Haare ins Liebfrauenhaus.

Ein Schrei! „Ich bin gebissen worden!“
Mona und Tanja waren sofort hellwach und bei Vera an der Matratze. „Was ist passiert?“
Die beiden waren außer sich.
„Mama, Mama, die Ratten sind wieder da!“, schrie Vera ängstlich.
Kurz darauf erschien meine Mutter mit einer brennenden Kerze und die Nager huschten schnell durch die Löcher der morschen Bretterwand zurück.

Ich stand wieder einmal in der Strafecke und der Bambusstock sauste, von Schwester Elisabeth geschwungen, auf mich nieder. Ich hielt meine Hände wie befohlen geöffnet, sodass jeder Schlag besondere Schmerzen verursachte. Anschließend beugte sie mich nach vorne, riss mir von hinten die Hose herunter und die Schläge tobten auf meinem nackten Hintern weiter. Du bist eine böse Frau! Sie ist eine böse Frau! Es tut so weh. Hör endlich auf. Hör auf damit, Schwester Elisab…!
Manchmal war sie sehr besorgt um mich. Besonders beim Austreten!
Sie drückte mich dann mit kräftigen Händen gegen die Toilette, zog mir die Hosen bis auf die Knie und schaute mir von der Seite beim Pinkeln zu.
„Wenn du dich versaust, schimpft deine Mutter mit dir und dann gibt es Senge!“ Sie lachte mich an und war wie selten dabei von guter Laune gezeichnet.

Mit Tränen in den Augen wurde ich wach.
Gott sei Dank! Es war vorbei. Wir wohnten nicht mehr gemeinsam mit Familie Pleismann und Tuschel in der alten Holzbaracke von Herrn Tammel. Die quietschenden Ratten waren verschwunden und es gab keine Schläge mehr von Schwester Elisabeth.
Unser neues Zuhause war eine Zweizimmerwohnung auf dem Schulhof, ohne Bad und WC, neben den Schulhoftoiletten in Liblar.
Meine Gedanken liefen weiter und weiter und machten schließlich kehrt marsch. Verhalte dich ruhig, sodass keiner etwas merkt. Sei ein Mann und weine nicht! Mit einem tiefen Seufzer schlief ich ein und wusste nichts davon, dass Edmund Hillary bereits im Mai den Mount Everest, den höchsten Berg der Erde, bestiegen hatte.

Tausende von Kerzen und Lichtern erhellten den großen Saal.
Überall standen geschmückte Tannenbäume und wir wussten nicht, wo wir zuerst hinschauen sollten. Der Klostersaal St. Peter in Liblar erstrahlte in einer nie von mir gesehenen weihnachtlichen Pracht.
Wir waren alle wie aus dem Ei gepellt und trugen Sachen, die Mutter für uns geschneidert hatte. Oft arbeitete sie nächtelang, sodass wir immer gut und sauber angezogen waren.
Klara und meine drei älteren Schwestern bahnten sich einen Weg durch den Saal, wo Mutters Freunde, die sie von früher kannte, auf uns warteten.
„Ich habe Angst, Vera! Ich habe mein Gedicht vergessen!“, sagte Mona kleinlaut.
„Ich auch!“ Tanja hing sich natürlich hintendran und wusste auf einmal auch nichts mehr.
„Wir schaffen das schon, Mädels!“
Mit einem Schmunzeln auf den Lippen verkündete Vera pure Selbstsicherheit.
Als ich meine drei Schwestern so ansah, kam ich ins Grübeln und sagte leise zu mir:
„Typisch! Wenn es drauf ankommt, wisst ihr nichts mehr, ihr blöden Gänse. Aber schön seid ihr, Mädels!“, stellte ich wieder einmal mit Stolz fest.
Dort, vor den Tannenbäumen mit den brennenden Kerzen, saßen sie. In Reih und Glied, der Größe nach sortiert. Die Haare voller Locken. Ja, es war ein außerordentlich schönes Bild. Das gestand sich der kleine Betrachter, der Manni, neidlos ein. Weihnachtsfeier der Vertriebenen nannte man das große Treffen kurz vor Weihnachten. Es war das Fest der Pimocken und Polacken, wie man uns oft beschimpfte. Hunderte von Menschen saßen auf ihren Stühlen oder waren mit irgendetwas beschäftigt. Die Ober liefen hin und her und bedienten die Gäste mit Getränken und Zigaretten. Alle anwesenden Kinder hofften mit glühenden Gesichtern auf ein Geschenk, wenn sie ihre Gedichte auf dem Podest vor allen Leuten aufgesagt hatten. Auch der Weihnachtsmann mit seinem langen, weißen Bart war anwesend. Er saß vor seinem Schlitten auf der linken Seite der Bühne.
„Mona, Tanja, Vera Schwäps, ihr seid an der Reihe und der kleine Manfred soll auch mitkommen. Kommt bitte hoch und zeigt, was ihr gelernt habt!“, schallte es von der Bühne durch einen knarrenden Lautsprecher.
Die Mädchen zierten sich, hatten Angst und wollten nicht von ihren Stühlen aufstehen. Es wurde ruhig im Saal, was ein leises Murmeln nach sich zog. Alle schauten schon auf sie.
„Ich habe Pipi in die Hose gemacht!“, sagte Tanja aufgeregt und drückte ihre Knie fest zusammen.
„Das fehlt jetzt noch, Tanja! Jetzt stellt euch nicht so an.
Ihr habt doch alles gelernt, kommt!“
Erst als die Mutter aufstand und Richtung Bühne ging, lief der Rest der Familie hinterher. Auf dem Podest näherten wir uns nur zögernd dem roten Mann, der uns alle einzeln und mit Namen begrüßte.
Meine Schwestern leierten hintereinander mit roten Wangen ihre erlernten Gedichte herunter, sodass alle Anwesenden den verdienten Beifall spendeten. Da ich auch etwas gelernt hatte, ärgerte es mich, dass keiner von mir ein Weihnachtsgedicht hören wollte.
Es blitzte schon den ganzen Nachmittag bis in den frühen Abend.
Unzählige Fotos wurden von den Gästen geschossen, immer und immer wieder. Zum Abschied bekamen wir alle noch einen Stuten und eine weiße Tüte mit Süßigkeiten.

Da es in der vorherigen Nacht stark geschneit und das gestreute Salz nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte, war der Weg zum Kloster durch den Schneematsch schon sehr schwierig. Aber auf dem Rückweg hielten wir uns überall, wo es möglich war, fest und schlitterten von Haus zu Haus in Richtung Schule.
„Versaut euch nicht, Kinder! Besonders du, Manfred!“, rief plötzlich unsere Mutter … als ein VW-Käfer an uns vorbeifuhr und uns von oben bis unten vollspritzte. Mit viel Mühe und auf Umwegen fanden wir schließlich den Weg bis in unser neues Zuhause!

Meine Zähne klapperten gegeneinander, als ich am nächsten Tag hinaustrat und die Stufe hinunterschlitterte. Scharf blies der eisige Wind und ich musste mich am Geländer festhalten, um nicht abzurutschen. Die Kälte drang durch meinen dicken Wollpullover, den Mutter gerade erst für mich gestrickt hatte. Ich griff mit beiden Händen in den pappigen Schnee und rieb diesen über mein Gesicht, was mich augenblicklich warm machte. Erschreckt schaute ich auf und sah eine Anzahl schwarzer Nebelkrähen, die übers Feld flogen, um sich in den kargen Bäumen des Kapellenwäldchens abzusetzen.
Sie schimpften wie immer und zankten sich ohne Rast.
Es war Pause und alle Kinder hielten sich trotz der Kälte auf dem Schulhof auf.
„Komm, Manfred! Wir bauen einen Schneemann!“, rief Edgar mit ungeduldiger Miene lautstark über den Schulhof.
„Ich komme, Ed!“
Ich nickte ihm zu und stellte fest, dass er viel zu große Fausthandschuhe und eine Mütze von seinem Vater trug, die ihm fast beide Augen verdeckte. Nach jeder hastigen Bewegung packte er die Mütze an der Rotznase vorbei und schob sie wieder in den Nacken zurück. Seine Wangen glühten und erinnerten mich an reife Sommeräpfel.
Ein leichtes Schneetreiben hatte eingesetzt und der Wind fuhr mit den Flocken Karussell, als mein Freund die rechte Hand hob und sagte:
„Hier sind einige Stücke Kohle und eine Mohrrübe, Oma Becker hat sie mir gegeben, damit wir Augen und eine Nase für den Schneemann haben.“
Nach diesen Worten zog er wieder seine Rotze hoch, die er anschließend herunterschluckte.
Wir beiden bauten den schönsten und größten Schneemann, der je auf dem Schulhof in Liblar gestanden hatte. Es klingelte! Alle Kinder stürmten in die Wärme und der Platz war in kurzer Zeit wie leer gefegt. Wir beide schlitterten noch eine Weile über den Schulhof. Dabei sah ich durch die von Eisblumen geschmückten Scheiben und beobachtete meine älteren Schwestern, die artig beim Unterricht saßen.
Ich hob meinen Arm zum Gruß, als Lehrer Hansen mich erblickte.
Den Dank gab er mir mit einem Lächeln zurück.
Er war ein netter und feiner Herr, der im Schulgebäude eine Wohnung mit seiner hübschen Frau bewohnte. Ich half beiden manchmal in ihrem großen Garten, der hinter dem Klinkerbau lag.
Ed musste nach Hause und ich suchte die Toiletten auf.
Wasserpfützen – Schneereste, vermischt mit Toilettenpapier und Schmutz – breiteten sich überall auf dem Boden aus. Ich musste sehr aufpassen, um dort nicht auszurutschen.
Deutlich nahm der Schneefall zu, als ich quer über den Platz auf die Straße lief. Das Pferdefuhrwerk von Herrn Seidel mit Max war bei diesem starken Schneetreiben kaum noch auszumachen.
Doch die Umrisse von zwei schwarzen Männern mit Pudelmützen, die Kohlensäcke auf ihrem Rücken in Richtung von Fräulein Müllers Keller trugen, waren deutlich zu sehen. Eine Tür fiel ins Schloss.
„Guten Tag, Manfred! Kannst du mir mal zur Hand gehen?“
„Ja, gerne, Herr Fuchs!“
Ich folgte ihm über einen schneebedeckten, mit Asche bestreuten Betonweg durch seinen Garten, an den Wäscheleinen vorbei zum Gerätehaus. Neugierig schauten die Hälse des Rosenkohls mit ihren gepuderten Köpfen aus dem Schnee. Eine wohlige Wärme berührte mich von Kopf bis Fuß, als die Tür geöffnet wurde. Der verrostete Kanonenofen in der Ecke erfüllte seinen Dienst mit voller Leistung und brachte die Platte zum Glühen.
„Geh nicht zu dicht ran!“, ermahnte mich Herr Fuchs liebenswürdig.
Neben vielen Gartengeräten, Materialien und Werkzeugen sah ich einen halb fertigen Holzroller, der an zwei Seilen von der Decke hing.
„Wem gehört denn dieser wunderschöne Roller, Herr Fuchs?“, fragte ich neugierig.
„Ich habe ihn für einen kleinen Jungen gebaut, der ihn zu Weihnachten bekommt. Halt hier mal fest! Ich muss noch ein Loch für die Achse bohren.“
Der Schneefall gönnte sich eine kurze Atempause. Die Arbeit war beendet und ich wollte gerade nach Hause gehen, als …
„Warte, Manfred, warte! Ich möchte dir noch mein neues Auto zeigen!“, rief Herr Fuchs mir hinterher, während er sein Gerätehaus verschloss.
„Schau mal!“, sagte er, als wir vorne in der Garage standen.
„Das ist eine BMW Isetta, die in Serienproduktion gefertigt wird. Ja … hm … und mittlerweile fahren über eine Million Autos auf unseren Straßen. Wo soll das noch hinführen, Manfred?“
Dabei hob er gleichgültig seine Schulter und verabschiedete sich mit einem geräuschvollen Gähnen. Jetzt hielt Väterchen Frost seinen Einzug, den er voll ausnutzte. Die Bürgersteige und Straßen waren total vereist, sodass sich kaum noch etwas auf ihnen bewegte. Die beiden blauen Lloyd LT 400 auf der Brühler Straße, voll beladen mit Getränken, quälten sich mit Schneeketten zur Luxemburger Straße.
Meine Mutter stand schon in der Tür, als ich über den Schulhof schlitterte, und begrüßte mich mit folgenden lieben Worten:
„Du kommst viel zu spät! Wo warst du schon wieder?“
Die Kälte wich schnell aus allen Körperteilen, als ich versuchte, Mutter zu erzählen, was ich erlebt hatte. Anschließend schlenderte ich mit einer Tasse Kakao und einem Schmalzbrot an Tanja, Vera und Mona vorbei, die vor ihren Schularbeiten saßen.
„Morgen kommen der Nikolaus und der Knecht Ruprecht! Dann kommst du in den Sack, weil du immer so frech bist“, meckerte Mona laut und keck.
Obwohl ich große Angst davor hatte, erwiderte ich:
„Der schafft das nicht! Eher stecke ich ihn da rein.“
Mit diesen Gedanken schlief ich an diesem Abend ein und träumte von dem schönen Holzroller bei Herrn Fuchs, mit dem ich hin und her fuhr.
Am nächsten Morgen beim Standardfrühstück, das aus Broten mit Kunsthonig, Rübenkraut und Griebenschmalz bestand, fragte ich:
„Bekomme ich zu Weihachten auch einen Holzroller, Mama?“
„Nein, Junge! Dafür haben wir keine Geld!“
Traurig schaute sie dabei auf den Boden. Hoffentlich heult sie nicht schon wieder! Dies war im Augenblick meine größte Sorge.
Sie gab dabei Geräusche von sich, wie unsere Oma das auch konnte.
Es war ein Gemisch aus Weinen und Jammern, das mir unter die Haut ging. Die anklagenden Laute verletzten stets meine Seele mehr als die Prügel. Dabei vergaß sie nie, mehrmals „Wir haben ja kein Geld!“ einzubringen.
„Papa ist schon lange tot und wir haben wenig Geld und …“
„Ich will aber auch einen Papa haben! So wie alle anderen auf der Welt!“
„Dein Vater hat dich sehr geliebt, Junge. Er holte dich kurz nach der Geburt aus der Wiege und zeigte dich dem lieben Gott. Ihm liefen die Tränen, während er sprach, ohne Kontrolle durch sein Gesicht. ‚Beschütze meinen Jungen, halte deine gütige Hand über ihn und lasse ihn zu einem glücklichen Menschen heranwachsen. Mache ihn stark, gerecht und beschütze die Mädchen und meine Frau‘.“
Mit klagenden Lauten verließen diese Worte Mutters Lippen.
„Er war ein guter Mensch, Manfred! Nie war ihm etwas zu viel.
Als der Krieg ausbrach, holte die Wehrmacht ihn einfach von unserem Hof und schickte ihn zum Töten auf die Krim. Er konnte doch keiner Fliege etwas zuleide tun!“ Sie schluchzte kurz auf, putzte sich die Nase und begann erneut.
„Wir waren bis Kriegsende schutzlos den Partisanen ausgeliefert. Nach und nach nahmen sie uns alles, sodass ich für deine Schwestern und die Oma kaum noch etwas zum Essen hatte. Gott sei Dank haben sie uns keinen Schaden an Leib und Seele zugefügt.“
Sie machte eine kurze Pause und sprach mit nachdenklicher Miene weiter.
„Die Russen rückten näher zur Grenze und die Geräusche des Krieges wurden immer lauter, die uns Tag und Nacht bedrängten.
Es war nicht mehr zum Aushalten, alle um uns herum flohen aus Panik in den Westen. Auch wir packten aus Angst unseren Heuwagen, spannten das letzte Pferd davor, mit dem wir unsere Heimat verließen. Nach der Flucht aus Lasinsk kamen wir über viele Stationen mit dem Sammeltransport und den nötigen Papieren in Liblar an. Man wollte uns hier nicht haben und wir saßen die ganze Nacht vor dem Amt. Am folgenden Morgen bekamen wir dann vom Bürgermeister eine unerwartete, gute Nachricht und machten uns alle auf, um nach Lehrte zu fahren. Da Papa nicht wusste, wo wir waren, hatte er sich dort aus der Gefangenschaft zurückgemeldet.“ Sie weinte leise vor sich hin.
„Aber auch dort wollte man uns nicht, mein Kleiner. Die Papiere waren auf Liblar ausgestellt und dort mussten wir nach wenigen Tagen mit deinem Vater alle wieder hin!“
Nach einer kurzen Pause sprach sie betrübt weiter.
„Dort, im ehemaligen Donatusdorf Oberliblar, wurden uns von Herrn Weiß vorübergehend Schlafplätze in der Glück-Auf-Halle zugewiesen. Deine Oma blieb bei Tante Berta und Onkel Fritz in Lehrte zurück. Ja … dein Papa kam sehr krank aus dem Krieg zurück und es grenzte schon an ein Wunder, dass er noch so lange lebte. Der Krebs hatte ihn schon so gezeichnet, dass ich ihn kaum wiedererkannte. Er arbeitete dann als Handlanger bei der Fa. Meros, bis er mit zweiunddreißig starb. Ja … hm … Du warst gerade knapp zwei Jahre alt, mein Junge!“
Sie putzte sich die Nase und sprach leise weiter.
„‚Lass mich noch etwas leben für den Jungen. Der ist doch noch so klein!‘ Er betete viel und nahm dich immer wieder auf den Schoß. Trotz seiner schweren Krankheit war er in diesen Augenblicken, bis er starb, immer sehr glücklich.“
Ich konnte meine Tränen nicht mehr halten, stürmte zur Tür … riss sie auf und lief barfuß durch den Schnee. Bog um die Ecke, landete in der dunklen Waschküche und ließ meinen nassen Gefühlen freien Lauf. Die eisige Kälte war gnadenlos und siegte, sodass ich nach kurzer Zeit mit verweinten Augen zurück und Mutter direkt in die Arme lief.
„Mutter, mir ist so kalt, die Füße tun mir weh!“, klagte ich weinerlich.
„Bis du verheiratet bist, ist das alles wieder gut!“
Der einzige Trost, zu dem meine Mutter je fähig war.
Tag für Tag, wenn die drei Mädchen aus der Schule kamen, begannen sie sofort, ihre erlernten Gedichte aufzusagen.
Immer und immer wieder nervten sie mich damit.

Der Abend kam und mit ihm Nikolaus und der Knecht Ruprecht.
Es schneite ein wenig, die Laternen geizten mit ihrer Helligkeit und es fiel nur spärliches Licht auf den Schulhof.
Die beiden Gestalten! Der eine aufrecht gehend, der andere gebeugt, mit einem Sack auf dem Rücken, schwankte hin und her.
Mit lautem Kettengerassel bewegten die beiden sich nur langsam in unsere Richtung. Eine große Angst machte sich in mir breit.
Am liebsten wäre ich weggelaufen. Die vielen Drohungen von Teufel und Hölle saßen mir im Nacken und hatten deutliche Spuren hinterlassen.
Tanja, die neben der Tür am Fenster stand, begann sofort mit hochrotem Kopf, ihre erlernten Gedichte aufzusagen. Dabei leuchteten ihre großen, blauen Augen noch heller als sonst.
„Warte noch, bis sie hier sind!“, rief Mutter hitzig.
„Ich muss mal!“
Schnell lief sie aus der Wohnung … hin zu den dunklen Schulhoftoiletten. Vera aß in Ruhe selbst gebackene Plätzchen und Mona spielte nervös an ihrem kaputten Teddybären herum.
4 Sterne
Der Junge aus dem Nichts - 10.08.2016
Heidi Kulmbach

Ich konnte das Buch nicht zur Seite legen.Einfach spitze.

4 Sterne
Der Junge aus dem Nichts - 19.07.2016
Walter Palm

Spannend Humorvoll und Echt.Kein Kinderbuch.

4 Sterne
Der Junge aus dem Nichts - 12.07.2016
Barbara Strelitz

Eine Geschichte kaum zu glauben aber super gut.

3 Sterne
Der Junge aus dem Nichts - 12.07.2016
Kurt Neubauter

Spannend von der ersten bis zur letzten Seite.

5 Sterne
Der Junge aus dem Nichts - 10.07.2016
H Vollmer

Wir haben uns in die fünfziger Jahre zurück versetz. Eine tolle Geschichte.

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