Das magische Spiel
Ahmed Al-Tayi
EUR 15,90
EUR 9,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 46
ISBN: 978-3-99038-854-9
Erscheinungsdatum: 29.06.2015
Wussten Sie, dass viele Puzzleteile einfach nur auf der Suche nach einem passenden, nach „ihrem“ Platz in dieser Welt sind? Nachdem die Puzzleteile aus der Dunkelheit der Schachtel in ihre neue Welt purzeln, fangen sie an zu leben und begeben sich auf Pilgerreise nach dem Sinn ihres Daseins. Gibt es einen Sinn im Leben? Und wenn ja, wer gibt ihn uns?
Ein Herbstabend
Es war ein windiger, regnerischer Tag, als alles begann. Obwohl, bis zum späten Nachmittag hätte man fast meinen können, dass es noch Sommer war und noch Sommer sein würde – ein letzter, nachhaltiger Gruß von ihm, serviert mit Sonnenschein und der besonderen Luft des Sommers, die wir alle so gut kennen. Aber aufkommender Wind und Regen waren soeben hereingebrochen. Man konnte an den gegen die Fensterscheiben trommelnden Regentropfen vernehmen, dass es kein Sommerregen mehr war. Der Wind war anders, und die Luft roch schon ein bisschen nach den Vorboten des Herbstes. Als die Bewohnerin des Hauses einen der offenen Fensterläden zuzog, roch sie schon förmlich die schwere trockene Erde und wie diese den Regen dankbar begrüßte. Für den offenbar letzten Tag des Altweibersommers war unsere Bewohnerin des Hauses schon fertig mit ihren alltäglichen Wegen, der Arbeit in ihrem Garten und dem Tratsch mit den anderen Bewohnern dieser, ihrer Welt. Man hatte über das Wetter gesprochen, über den unaufhaltsamen Lauf der Dinge, und man hatte sich wieder getrennt. Jeder ging wieder seiner Wege und wusste, man würde sich wiedertreffen, und es würde so wie immer sein. Es war fast so, als ob sich an diesem Ort außer den Jahreszeiten nichts änderte. Alles blieb, wie es ist – schon eine ganze Ewigkeit war das so. Aber halt: Diese Geschichte handelt nicht vom Leben der Bewohnerin des Hauses, auf die Eure Aufmerksamkeit zu lenken ich gerade begonnen habe. Vielmehr ist es ihre Leidenschaft für ein ganz besonderes Spiel. Und der Herbst und der darauffolgende Winter waren wie geschaffen für dieses Spiel. Denn nachdem Sie sich von den anderen Bewohnern getrennt hatte und sich aufmachte, um nach Hause zu gehen, hatte sie schon allein beim Gedanken die Freude in sich aufkeimen gespürt, dass sie wieder dieses alte Spiel spielen würde. Ein Spiel, das eigentlich kein Spiel im engeren Sinne war. Es hatte zwar Platz in einer relativ kleinen Schachtel, und diese wiederum hatte Platz auf einem relativ kleinen Regal oberhalb ihres Küchentisches, aber ob Spiel oder nicht, es bedeutete die Welt für sie! Der Inhalt der Schachtel bestand aus vielen Teilen, Tausenden von Teilen, denn nur dann machte ein Puzzlespiel für einen Puzzle-Spieler wirklich Spaß. Je mehr Teile, desto aufwändiger war es, und desto mehr Geduld und Überlegung brauchte man. Aber vorher, und auch das war ein Ritual, wie fast alles, was die alte Frau in dieser Phase ihres Lebens tat, stellte sie einen kleinen Wasserkessel auf den Herd, um sich eine Tasse heißen Tees zu kochen. In der Zwischenzeit holte sie aus ihrem Vorratsraum ein Bündel Wiesenblumen, die sie im Sommer gesammelt und dort zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie nahm eine Handvoll Blätter, natürlich nicht, ohne sich vorher bei der Natur zu bedanken – für die Kraft, die sie bald mit dem Tee, direkt von der Natur, also von Erde, Licht und Wasser zusammengebraut, zu sich nehmen würde. Ja, auch das war ein Ritual. Die Schachtel mit den vielen Puzzleteilen lag schon auf dem Tisch bereit; sie wartete sozusagen schon auf die alte Frau, damit sie sich mit ihr und ihrem Inhalt beschäftigte. So gesehen war es vielleicht nicht wirklich ein Spiel, sondern das Ausleben einer ganz besonderen Beziehung zwischen dem, was in der Schachtel war und dem, was aus deren Inhalt entstehen konnte. Jetzt war der Tee auch schon bereit. Sie goss ihn nach dem Aufbrühen der Wiesenblumen in ihre Lieblingsschale, setzte sich hin und betrachtete mit liebevollen und sehnsüchtigen Augen die Schachtel. Ein bisschen Aufregung war auch jedes Mal dabei, bevor sie sich endlich entschloss, mit dem Spiel zu beginnen. Aber das war schon solange sie sich erinnern konnte so. Aufregung davor – Genugtuung danach. Dazwischen Hoffnung und Neugierde, wie sich der Inhalt der Schachtel wohl dieses Mal wieder zusammenfügen würde. Nun war es aber Zeit: das Kissen im Rücken der alten Frau zurechtgerückt, die Lampe oberhalb des Tisches angezündet, der Tisch, bis auf den Teebecher, leergeräumt. Ein großes weißes Tischtuch spannte sie noch über ihren Küchentisch, sodass es einfacher war, nach Beendigung des Spieles das Puzzle wieder zusammenzuraffen und in der Schachtel zu verstauen. Jetzt sprach die alte Frau noch ein Gebet und wünschte dem Spiel, seinem Inhalt und ihrer Zeit damit, dass es wieder gut werden sollte. Sie hob den Deckel der Schachtel und legte seinen Inhalt frei. Dann drehte sie die Schachtel mit einem Schwung um, sodass alle Teile auf dem weißen Tischtuch landeten. Sie achtete genau darauf, dass kein Teil seines Inhalts verloren ging, also unter den Tisch fiel, und daher das Bild nie fertig zusammengesetzt werden könnte. Denn es kam darauf an, dass wirklich alle Teile mitspielten. Wenn nur eines fehlen würde, wäre es nicht vollkommen. Jetzt fiel der Inhalt der Schachtel heraus, Tausende von Puzzleteilen, die nur darauf gewartet hatten – auf diesen Moment, diesen entscheidenden Moment, in dem sie durch die Luft taumelnd aus der Schachtel purzelten. Vorher war es noch ein Berg von Teilen in der Dunkelheit der Schachtel gewesen – jetzt ein Berg von Teilen, aufgehäuft auf dem Tisch, im hellen Schein der Lampe. Hier, meine Lieben, würde man meinen, wäre die Geschichte zu Ende, weil jeder, der schon einmal ein Puzzle zusammengebaut hat, weiß, wie es weitergeht. Aber hier ist auch der Moment, da sich das Puzzle, das wir kennen, sich vom jahrtausendealten Puzzle der alten Frau unterscheidet. Die Frau lehnte sich in ihrem Lehnstuhl zurück, hob ihren heißen Tee an den Mund, um den ersten Schluck zu trinken, und betrachtete, so wie sie das immer tat, wenn sie dieses Spiel spielte, den riesigen Berg der Puzzleteile, der noch immer, so wie sie herausgepurzelt waren, dalag. Und wartete, bis Bewegung in die Geschichte kam. Denn jetzt fängt unser MAGISCHES Spiel erst wirklich an.
Wir müssen runter!
„Aua! He, das tat weh! Pass doch mal auf, wo du hintrittst. Du hast mich voll getroffen“, schrie Farblos, ein Puzzleteil, das sich unter einem ganz großen Haufen von anderen Teilen befand. Während es das tat, fiel ihm auf, dass auch andere Teile gerade vor Schmerz losbrüllten. Ja, es gab Schmerzensschreie von oben, unten und auch von allen Seiten. Alle waren entsetzt über das Herauspurzeln aus der dunklen Welt der Schachtel. Farblos erkannte, dass eigentlich jeder über jeden, quer und schräg, lag. Viele Teile hatten Zeichnungen und Symbole auf ihren Rücken, und keines sah aus wie das andere. Einige schienen auf ihren Rücken zu liegen. Das konnte man nur erkennen, weil sie offensichtlich, so verschieden sie auch auf den Rücken gezeichnet waren, auf den Bauchseiten einheitlich hellblau waren. Wieso Farblos das alles auffiel? Naja, bis zum Herauspurzeln fiel ihm und wahrscheinlich allen anderen eigentlich gar nichts auf – es herrschte ja vollkommene Dunkelheit! Sie hatten auch kein Gefühl für oben und unten, links oder rechts, und auch jegliches Zeitgefühl fehlte ihnen. Das konnte schon passieren, wenn man ziemlich viel Zeit in der Dunkelheit verbrachte. Das, was er jetzt aber auf dieser weißen Welt des Tischtuches der alten Frau erlebte, war etwas ganz anderes. Farblos war überwältigt von der schieren Menge der mit ihm herausgefallenen Puzzleteile. In der Dunkelheit kam man ja auch nie auf den Gedanken, alle mal durchzuzählen. Brachte ja nichts, wenn man nichts sehen konnte. Bitte, und wie viele waren denn das überhaupt? Und wieso war es so hell hier? Farblos schaute nach oben und sah ein flackerndes, gleißendes Licht, das offenbar allen ihre Form und Farbe gab. Musste ja so sein, weil es so etwas in der Schachtel schließlich nicht gab. Er erkannte aber auch, dass alle Puzzleteile auf einer Seite einheitlich hellblau, auf der Rückseite aber wirklich wunderschön und ganz verschieden waren, und er konnte gar nicht beschreiben, was sie alles an Formen und Farben repräsentierten. Eines wusste Farblos aber schon: Lange würde er es inmitten dieses großen Puzzleteile-Haufens nicht mehr aushalten, so weh tat ihm alles! Und er wollte mehr von diesem neuen Licht sehen. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich kaum bewegen. Das einzig Konstante in seinem neuen Leben waren das Licht und der Schmerz, zu dem sich langsam ein Gefühl der Ausweglosigkeit gesellte. Von irgendwoher rief auf einmal jemand etwas echt Vernünftiges, nachdem er sich ein paar Mal mit lautem „Hört mal alle bitte zu“ Gehör verschafft hatte. „He Leute, wenn ich nach oben schaue, sehe ich zwischen den Teilen, die über mir liegen, dass es da oben hell ist. Wenn ich nach unten schaue, sehe ich zwischen den Teilen, die unter mir liegen, dass es da unten dunkel ist. Nachdem es aber unter uns so dunkel ist, wie es vor dem Fall war und über uns so hell, schlage ich Folgendes vor.“ Er machte eine Pause, damit er wirklich die Aufmerksamkeit aller Teile bekam. Es war sehr still geworden, und alle hörten ihm zu. „WEITER“, riefen sie unisono. „WEITER“, wiederholten sie im Chor. „Wie wäre es, wenn das oberste Puzzleteil ganz einfach mal diesen Berg runterklettert, bis es auf echtem Boden steht. Und dann macht es das Nächste so und das Nächste – so lange, bis kein Teil mehr über einem anderen liegt?“ Es dauerte eine Weile, bis der Haufen seine Idee verstand. Und dann ging es sehr schnell: Von dem Zeitpunkt an, als das oberste Puzzleteil begriffen hatte, dass es den Anfang machen musste. Langsam kam Bewegung in den Haufen, und gleichsam wie Zuckerkristalle den Zuckerberg nach unten rieselten, wanderte Teil nach Teil vom Haufen hinunter. Für den Betrachter musste das ein wahres Schauspiel sein. Man stelle sich einen Berg von tausenden Puzzleteilen vor, der sich langsam, aber sicher auflöste. Die Puzzleteile natürlich wussten nicht, dass sie Puzzleteile waren, auch nicht, dass das Licht über ihnen nur eine Lampe war und schon gar nicht, dass ihre Welt nur ein Tischtuch war. So hatten die alte Frau und die Puzzleteile grundverschiedene Ansichten über den Sinn dieses Geschehens. Für Erstere war es ein Zeitvertreib – für die Letzteren bedeutete es die ganze Welt! Das Einzige, das sie aber wirklich wussten, war, dass kein Teil jemals wieder über einem anderen Teil liegen wollte. Ja, mehr noch: Es wurde zu einem unumstößlichen Prinzip dieser Welt, dass niemals wieder ein Teil über einem anderen Teil liegen oder gehen würde. Jetzt konnte der nächste Akt des „Sich Findens“ beginnen.
Look at the sun and be happy!
„He, das war lustig“, rief Farblos. „Und was machen wir jetzt?“ „Genieß doch mal die Aussicht, schau in die Sonne und sei glücklich“, meinte Zweigerl, ein Teil, auf dessen Rücken eine Zeichnung war, die offenbar einem Teil eines Zweiges ähnelte. Farblos entgegnete: „Wieso soll ich glücklich sein, wenn ich nur daliege und den ganzen Tag in die Sonne schauen soll?“ „Na ja, erinnere dich doch, wo du vorher warst“, meinte Wolkig – der hatte wiederum eine Zeichnung, die irgendwie einer Wolke ähnelte. „Ist denn das nicht herrlich und besser als damals?“ „Ja schon, sicher hast du recht“, meinte Farblos. Nach einer Weile fragte aber Farblos trotzdem nach, noch verwirrt über die Antwort: „Aber meinst du, besser als der Zustand, als wir in einem Haufen aufgetürmt dalagen oder der Zustand vor dem Purzeln?“ Farblos hatte viele Fragen. Er ergänzte: „Jetzt liegen wir nur da und tun gar nix.“ „Irgendwie verstehe ich den nicht“, meinte wieder ein anderes Teil frech. „Bis vor Kurzem haben wir, und er natürlich auch, nicht einmal gewusst, dass er ‚Nuppen‘ (Ausbuchtungen) und ‚Gegennuppen‘ (Einbuchtungen) hat, und jetzt ist er schon wieder unzufrieden!“ Alle stimmten dem letzten Teil zu und schauten Farblos verständnislos an. „Na ja, so kann es ja doch nicht weitergehen, es muss doch einen Sinn haben, dass wir da sind, so wie jetzt“, sagte Farblos, um seinem Argument noch mehr Nachdruck zu verleihen, da ihm von allen Seiten bisher nur Unverständnis entgegenschlug. „Da muss ja was getan werden“, setzte er noch nach. Wolkig fragte nach, weil er Farblos’ Anliegen noch immer nicht wirklich verstand: „Also, was liegt dir am Herzen, und was bist du überhaupt für einer?“ „Ich bin … ich bin … komisch, ich fühle zwar, dass ich bin, aber nicht wer und was ich bin.“ „Soll ich dir sagen, wer du bist?“, meinte Zweigerl, der neben ihm lag. „Ja, bitte sag mir, wer ich bin“, bat Farblos. „Oje, das ist, wenn ich es mir so recht überlege, gar nicht so einfach!“, meinte Zweigerl und drehte sich bei der Frage zu Wolkig: „Was meinst Du, Wolkig?“ Ganz aufgeregt und fast stockend fragte Farblos: „Wieso? Warum? Erklärt mir das!“ „Na ja, was meint ihr, wem oder was er ähnelt?“, fragte Wolkig in die Runde der Puzzleteile, wohl wissend, dass die Antwort darauf schwierig und nicht leicht zu geben war. Alle Puzzleteile, die sich von seiner Frage angesprochen fühlten, betrachteten noch einmal ausführlich Farblos’ Rücken und stupsten Zweigerl an, doch die Führung zu übernehmen und Farblos die schreckliche Wahrheit zu sagen: „Hm, wie sollen wir dir sagen, was du bist, wenn du auf deinem Rücken weder eine Zeichnung noch eine Farbe trägst?“, meinte Zweigerl. „Was sagst du?“, fragte Farblos ganz entsetzt. „Ich meine, ich kann doch sehen, welche Zeichnungen und Farben IHR auf euren Rücken tragt, und ich sehe auch, wie ihr euch alle gegenseitig beschreibt, was ihr seht, aber wieso habe ich NICHTS auf meinem Rücken?“ „Ich glaube, deswegen hast du den Spitznamen ‚Farblos‘ von uns bekommen. Und jetzt bin ich auch erleichtert, weil es jetzt endlich ausgesprochen ist!“, brach Wolkig das betretene Schweigen, das sich in der Runde ausgebreitet hatte. Langsam spürte Farblos eine Welle der Verzweiflung in sich hochkommen und fragte flehentlich: „Aber wie gibt es denn so etwas? Ich sehe doch, dass du Wolkig von den anderen genannt wirst, weil du ein bisschen was von einer Wolke hast und auch ein bisschen von einem blauen Himmel. Weiter hast du drei Nuppen und eine Gegennuppe. Und du, du Zweigerl – bei dir kann ich ein Stück eines Zweiges mit ein paar grünen Blättern sehen und im Hintergrund noch eine andere Farbe. Außerdem hast du zwei Nuppen und zwei Gegennuppen. Also wieso ist auf meinem Rücken dann gar nix?“ Als Wolkig und Zweigerl Farblos sahen, wie er so verzweifelt dastand, tat er ihnen richtig leid. Hätte er Augen gehabt, so würden Sie traurig dreingeschaut haben. So krümmte er sich nur unter der Last der Bedeutungslosigkeit, die sich in ihm ausbreitete. Ja, das war es, was Farblos empfand. Dass er offenbar im Vergleich zu den anderen Teilen nichts bedeutete! Denn es gab viele Puzzleteile, die Zweigerl ähnelten. Und es gab auch viele Teile, die Wolkig ähnelten. Mehr oder weniger halt. Aber wenn er gar nichts darstellte … was dann? „Könnt ihr mir zumindest sagen, welche Form ich habe?“, fragte er mit resignierter Stimme. „Na ja, du hast eine Nuppe und drei Gegennuppen“, antwortete Wolkig. „Aber leider keinen einzigen Punkt oder Fleck, der irgendwas symbolisieren könnte“, setzte Wolkig fort. Farblos war am Ende. Mit der Wahrheit konfrontiert schlich sich auch die heimliche Erkenntnis ein, dass er wahrscheinlich nie jemanden treffen würde, der genauso aussah wie er: nämlich farblos! Plötzlich fühlte er sich ganz allein auf dieser Welt. „Ok, Zweigerl und Wolkig“, sagte Farblos nach einem Moment, schon in etwas besserer Stimmung als zuvor, da er so niedergeschmettert gewesen war – im Angesicht der unausweichlichen Wahrheit, die ihm die anderen so präsentiert hatten. „Ich glaube, für heute habe ich ziemlich viel über mich erfahren, und ich merke, wie ich richtig erschöpft bin und mir der Kopf schwirrt.“ „Seid ihr einverstanden, wenn wir es für heute gut sein lassen? Ich glaube, ich werde heute doch nichts mehr tun und mich ganz einfach nur ausruhen.“ Wolkig sah den müden Farblos an, schaute noch ein weiteres Mal in die Runde der weit verstreuten Puzzleteile und wollte eben Farblos etwas vorschlagen: „Weißt du was, Farblos?“ – in diesem Moment ging das Licht aus. „Ooooooh“, riefen die Teile alle miteinander, irgendwie traurig und enttäuscht, dass die helle Zeit nur von so kurzer Dauer gewesen war. Gerade erst hatten sie das Licht entdeckt, und nun ging es schon wieder aus! „Also gut“, sagte Wolkig. „Dann ruhen wir uns halt auch aus, es hat ja keinen Sinn, in der Dunkelheit herumzuirren und die Gegend zu erkunden. Morgen werden wir dir helfen, jemanden zu finden, der so aussieht wie du, einverstanden?“ Aber Farblos hörte das nur noch ganz vage, während seine Augen schon zufielen und er in den Puzzleteile-Schlaf entglitt. Was er sich aber noch sehnlichst wünschte, war, dass die beiden, Wolkig und Zweigerl, sich ganz einfach neben ihm hinlegten, ganz egal, ob sie sich ähnlich waren oder nicht.
Es war ein windiger, regnerischer Tag, als alles begann. Obwohl, bis zum späten Nachmittag hätte man fast meinen können, dass es noch Sommer war und noch Sommer sein würde – ein letzter, nachhaltiger Gruß von ihm, serviert mit Sonnenschein und der besonderen Luft des Sommers, die wir alle so gut kennen. Aber aufkommender Wind und Regen waren soeben hereingebrochen. Man konnte an den gegen die Fensterscheiben trommelnden Regentropfen vernehmen, dass es kein Sommerregen mehr war. Der Wind war anders, und die Luft roch schon ein bisschen nach den Vorboten des Herbstes. Als die Bewohnerin des Hauses einen der offenen Fensterläden zuzog, roch sie schon förmlich die schwere trockene Erde und wie diese den Regen dankbar begrüßte. Für den offenbar letzten Tag des Altweibersommers war unsere Bewohnerin des Hauses schon fertig mit ihren alltäglichen Wegen, der Arbeit in ihrem Garten und dem Tratsch mit den anderen Bewohnern dieser, ihrer Welt. Man hatte über das Wetter gesprochen, über den unaufhaltsamen Lauf der Dinge, und man hatte sich wieder getrennt. Jeder ging wieder seiner Wege und wusste, man würde sich wiedertreffen, und es würde so wie immer sein. Es war fast so, als ob sich an diesem Ort außer den Jahreszeiten nichts änderte. Alles blieb, wie es ist – schon eine ganze Ewigkeit war das so. Aber halt: Diese Geschichte handelt nicht vom Leben der Bewohnerin des Hauses, auf die Eure Aufmerksamkeit zu lenken ich gerade begonnen habe. Vielmehr ist es ihre Leidenschaft für ein ganz besonderes Spiel. Und der Herbst und der darauffolgende Winter waren wie geschaffen für dieses Spiel. Denn nachdem Sie sich von den anderen Bewohnern getrennt hatte und sich aufmachte, um nach Hause zu gehen, hatte sie schon allein beim Gedanken die Freude in sich aufkeimen gespürt, dass sie wieder dieses alte Spiel spielen würde. Ein Spiel, das eigentlich kein Spiel im engeren Sinne war. Es hatte zwar Platz in einer relativ kleinen Schachtel, und diese wiederum hatte Platz auf einem relativ kleinen Regal oberhalb ihres Küchentisches, aber ob Spiel oder nicht, es bedeutete die Welt für sie! Der Inhalt der Schachtel bestand aus vielen Teilen, Tausenden von Teilen, denn nur dann machte ein Puzzlespiel für einen Puzzle-Spieler wirklich Spaß. Je mehr Teile, desto aufwändiger war es, und desto mehr Geduld und Überlegung brauchte man. Aber vorher, und auch das war ein Ritual, wie fast alles, was die alte Frau in dieser Phase ihres Lebens tat, stellte sie einen kleinen Wasserkessel auf den Herd, um sich eine Tasse heißen Tees zu kochen. In der Zwischenzeit holte sie aus ihrem Vorratsraum ein Bündel Wiesenblumen, die sie im Sommer gesammelt und dort zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie nahm eine Handvoll Blätter, natürlich nicht, ohne sich vorher bei der Natur zu bedanken – für die Kraft, die sie bald mit dem Tee, direkt von der Natur, also von Erde, Licht und Wasser zusammengebraut, zu sich nehmen würde. Ja, auch das war ein Ritual. Die Schachtel mit den vielen Puzzleteilen lag schon auf dem Tisch bereit; sie wartete sozusagen schon auf die alte Frau, damit sie sich mit ihr und ihrem Inhalt beschäftigte. So gesehen war es vielleicht nicht wirklich ein Spiel, sondern das Ausleben einer ganz besonderen Beziehung zwischen dem, was in der Schachtel war und dem, was aus deren Inhalt entstehen konnte. Jetzt war der Tee auch schon bereit. Sie goss ihn nach dem Aufbrühen der Wiesenblumen in ihre Lieblingsschale, setzte sich hin und betrachtete mit liebevollen und sehnsüchtigen Augen die Schachtel. Ein bisschen Aufregung war auch jedes Mal dabei, bevor sie sich endlich entschloss, mit dem Spiel zu beginnen. Aber das war schon solange sie sich erinnern konnte so. Aufregung davor – Genugtuung danach. Dazwischen Hoffnung und Neugierde, wie sich der Inhalt der Schachtel wohl dieses Mal wieder zusammenfügen würde. Nun war es aber Zeit: das Kissen im Rücken der alten Frau zurechtgerückt, die Lampe oberhalb des Tisches angezündet, der Tisch, bis auf den Teebecher, leergeräumt. Ein großes weißes Tischtuch spannte sie noch über ihren Küchentisch, sodass es einfacher war, nach Beendigung des Spieles das Puzzle wieder zusammenzuraffen und in der Schachtel zu verstauen. Jetzt sprach die alte Frau noch ein Gebet und wünschte dem Spiel, seinem Inhalt und ihrer Zeit damit, dass es wieder gut werden sollte. Sie hob den Deckel der Schachtel und legte seinen Inhalt frei. Dann drehte sie die Schachtel mit einem Schwung um, sodass alle Teile auf dem weißen Tischtuch landeten. Sie achtete genau darauf, dass kein Teil seines Inhalts verloren ging, also unter den Tisch fiel, und daher das Bild nie fertig zusammengesetzt werden könnte. Denn es kam darauf an, dass wirklich alle Teile mitspielten. Wenn nur eines fehlen würde, wäre es nicht vollkommen. Jetzt fiel der Inhalt der Schachtel heraus, Tausende von Puzzleteilen, die nur darauf gewartet hatten – auf diesen Moment, diesen entscheidenden Moment, in dem sie durch die Luft taumelnd aus der Schachtel purzelten. Vorher war es noch ein Berg von Teilen in der Dunkelheit der Schachtel gewesen – jetzt ein Berg von Teilen, aufgehäuft auf dem Tisch, im hellen Schein der Lampe. Hier, meine Lieben, würde man meinen, wäre die Geschichte zu Ende, weil jeder, der schon einmal ein Puzzle zusammengebaut hat, weiß, wie es weitergeht. Aber hier ist auch der Moment, da sich das Puzzle, das wir kennen, sich vom jahrtausendealten Puzzle der alten Frau unterscheidet. Die Frau lehnte sich in ihrem Lehnstuhl zurück, hob ihren heißen Tee an den Mund, um den ersten Schluck zu trinken, und betrachtete, so wie sie das immer tat, wenn sie dieses Spiel spielte, den riesigen Berg der Puzzleteile, der noch immer, so wie sie herausgepurzelt waren, dalag. Und wartete, bis Bewegung in die Geschichte kam. Denn jetzt fängt unser MAGISCHES Spiel erst wirklich an.
Wir müssen runter!
„Aua! He, das tat weh! Pass doch mal auf, wo du hintrittst. Du hast mich voll getroffen“, schrie Farblos, ein Puzzleteil, das sich unter einem ganz großen Haufen von anderen Teilen befand. Während es das tat, fiel ihm auf, dass auch andere Teile gerade vor Schmerz losbrüllten. Ja, es gab Schmerzensschreie von oben, unten und auch von allen Seiten. Alle waren entsetzt über das Herauspurzeln aus der dunklen Welt der Schachtel. Farblos erkannte, dass eigentlich jeder über jeden, quer und schräg, lag. Viele Teile hatten Zeichnungen und Symbole auf ihren Rücken, und keines sah aus wie das andere. Einige schienen auf ihren Rücken zu liegen. Das konnte man nur erkennen, weil sie offensichtlich, so verschieden sie auch auf den Rücken gezeichnet waren, auf den Bauchseiten einheitlich hellblau waren. Wieso Farblos das alles auffiel? Naja, bis zum Herauspurzeln fiel ihm und wahrscheinlich allen anderen eigentlich gar nichts auf – es herrschte ja vollkommene Dunkelheit! Sie hatten auch kein Gefühl für oben und unten, links oder rechts, und auch jegliches Zeitgefühl fehlte ihnen. Das konnte schon passieren, wenn man ziemlich viel Zeit in der Dunkelheit verbrachte. Das, was er jetzt aber auf dieser weißen Welt des Tischtuches der alten Frau erlebte, war etwas ganz anderes. Farblos war überwältigt von der schieren Menge der mit ihm herausgefallenen Puzzleteile. In der Dunkelheit kam man ja auch nie auf den Gedanken, alle mal durchzuzählen. Brachte ja nichts, wenn man nichts sehen konnte. Bitte, und wie viele waren denn das überhaupt? Und wieso war es so hell hier? Farblos schaute nach oben und sah ein flackerndes, gleißendes Licht, das offenbar allen ihre Form und Farbe gab. Musste ja so sein, weil es so etwas in der Schachtel schließlich nicht gab. Er erkannte aber auch, dass alle Puzzleteile auf einer Seite einheitlich hellblau, auf der Rückseite aber wirklich wunderschön und ganz verschieden waren, und er konnte gar nicht beschreiben, was sie alles an Formen und Farben repräsentierten. Eines wusste Farblos aber schon: Lange würde er es inmitten dieses großen Puzzleteile-Haufens nicht mehr aushalten, so weh tat ihm alles! Und er wollte mehr von diesem neuen Licht sehen. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte sich kaum bewegen. Das einzig Konstante in seinem neuen Leben waren das Licht und der Schmerz, zu dem sich langsam ein Gefühl der Ausweglosigkeit gesellte. Von irgendwoher rief auf einmal jemand etwas echt Vernünftiges, nachdem er sich ein paar Mal mit lautem „Hört mal alle bitte zu“ Gehör verschafft hatte. „He Leute, wenn ich nach oben schaue, sehe ich zwischen den Teilen, die über mir liegen, dass es da oben hell ist. Wenn ich nach unten schaue, sehe ich zwischen den Teilen, die unter mir liegen, dass es da unten dunkel ist. Nachdem es aber unter uns so dunkel ist, wie es vor dem Fall war und über uns so hell, schlage ich Folgendes vor.“ Er machte eine Pause, damit er wirklich die Aufmerksamkeit aller Teile bekam. Es war sehr still geworden, und alle hörten ihm zu. „WEITER“, riefen sie unisono. „WEITER“, wiederholten sie im Chor. „Wie wäre es, wenn das oberste Puzzleteil ganz einfach mal diesen Berg runterklettert, bis es auf echtem Boden steht. Und dann macht es das Nächste so und das Nächste – so lange, bis kein Teil mehr über einem anderen liegt?“ Es dauerte eine Weile, bis der Haufen seine Idee verstand. Und dann ging es sehr schnell: Von dem Zeitpunkt an, als das oberste Puzzleteil begriffen hatte, dass es den Anfang machen musste. Langsam kam Bewegung in den Haufen, und gleichsam wie Zuckerkristalle den Zuckerberg nach unten rieselten, wanderte Teil nach Teil vom Haufen hinunter. Für den Betrachter musste das ein wahres Schauspiel sein. Man stelle sich einen Berg von tausenden Puzzleteilen vor, der sich langsam, aber sicher auflöste. Die Puzzleteile natürlich wussten nicht, dass sie Puzzleteile waren, auch nicht, dass das Licht über ihnen nur eine Lampe war und schon gar nicht, dass ihre Welt nur ein Tischtuch war. So hatten die alte Frau und die Puzzleteile grundverschiedene Ansichten über den Sinn dieses Geschehens. Für Erstere war es ein Zeitvertreib – für die Letzteren bedeutete es die ganze Welt! Das Einzige, das sie aber wirklich wussten, war, dass kein Teil jemals wieder über einem anderen Teil liegen wollte. Ja, mehr noch: Es wurde zu einem unumstößlichen Prinzip dieser Welt, dass niemals wieder ein Teil über einem anderen Teil liegen oder gehen würde. Jetzt konnte der nächste Akt des „Sich Findens“ beginnen.
Look at the sun and be happy!
„He, das war lustig“, rief Farblos. „Und was machen wir jetzt?“ „Genieß doch mal die Aussicht, schau in die Sonne und sei glücklich“, meinte Zweigerl, ein Teil, auf dessen Rücken eine Zeichnung war, die offenbar einem Teil eines Zweiges ähnelte. Farblos entgegnete: „Wieso soll ich glücklich sein, wenn ich nur daliege und den ganzen Tag in die Sonne schauen soll?“ „Na ja, erinnere dich doch, wo du vorher warst“, meinte Wolkig – der hatte wiederum eine Zeichnung, die irgendwie einer Wolke ähnelte. „Ist denn das nicht herrlich und besser als damals?“ „Ja schon, sicher hast du recht“, meinte Farblos. Nach einer Weile fragte aber Farblos trotzdem nach, noch verwirrt über die Antwort: „Aber meinst du, besser als der Zustand, als wir in einem Haufen aufgetürmt dalagen oder der Zustand vor dem Purzeln?“ Farblos hatte viele Fragen. Er ergänzte: „Jetzt liegen wir nur da und tun gar nix.“ „Irgendwie verstehe ich den nicht“, meinte wieder ein anderes Teil frech. „Bis vor Kurzem haben wir, und er natürlich auch, nicht einmal gewusst, dass er ‚Nuppen‘ (Ausbuchtungen) und ‚Gegennuppen‘ (Einbuchtungen) hat, und jetzt ist er schon wieder unzufrieden!“ Alle stimmten dem letzten Teil zu und schauten Farblos verständnislos an. „Na ja, so kann es ja doch nicht weitergehen, es muss doch einen Sinn haben, dass wir da sind, so wie jetzt“, sagte Farblos, um seinem Argument noch mehr Nachdruck zu verleihen, da ihm von allen Seiten bisher nur Unverständnis entgegenschlug. „Da muss ja was getan werden“, setzte er noch nach. Wolkig fragte nach, weil er Farblos’ Anliegen noch immer nicht wirklich verstand: „Also, was liegt dir am Herzen, und was bist du überhaupt für einer?“ „Ich bin … ich bin … komisch, ich fühle zwar, dass ich bin, aber nicht wer und was ich bin.“ „Soll ich dir sagen, wer du bist?“, meinte Zweigerl, der neben ihm lag. „Ja, bitte sag mir, wer ich bin“, bat Farblos. „Oje, das ist, wenn ich es mir so recht überlege, gar nicht so einfach!“, meinte Zweigerl und drehte sich bei der Frage zu Wolkig: „Was meinst Du, Wolkig?“ Ganz aufgeregt und fast stockend fragte Farblos: „Wieso? Warum? Erklärt mir das!“ „Na ja, was meint ihr, wem oder was er ähnelt?“, fragte Wolkig in die Runde der Puzzleteile, wohl wissend, dass die Antwort darauf schwierig und nicht leicht zu geben war. Alle Puzzleteile, die sich von seiner Frage angesprochen fühlten, betrachteten noch einmal ausführlich Farblos’ Rücken und stupsten Zweigerl an, doch die Führung zu übernehmen und Farblos die schreckliche Wahrheit zu sagen: „Hm, wie sollen wir dir sagen, was du bist, wenn du auf deinem Rücken weder eine Zeichnung noch eine Farbe trägst?“, meinte Zweigerl. „Was sagst du?“, fragte Farblos ganz entsetzt. „Ich meine, ich kann doch sehen, welche Zeichnungen und Farben IHR auf euren Rücken tragt, und ich sehe auch, wie ihr euch alle gegenseitig beschreibt, was ihr seht, aber wieso habe ich NICHTS auf meinem Rücken?“ „Ich glaube, deswegen hast du den Spitznamen ‚Farblos‘ von uns bekommen. Und jetzt bin ich auch erleichtert, weil es jetzt endlich ausgesprochen ist!“, brach Wolkig das betretene Schweigen, das sich in der Runde ausgebreitet hatte. Langsam spürte Farblos eine Welle der Verzweiflung in sich hochkommen und fragte flehentlich: „Aber wie gibt es denn so etwas? Ich sehe doch, dass du Wolkig von den anderen genannt wirst, weil du ein bisschen was von einer Wolke hast und auch ein bisschen von einem blauen Himmel. Weiter hast du drei Nuppen und eine Gegennuppe. Und du, du Zweigerl – bei dir kann ich ein Stück eines Zweiges mit ein paar grünen Blättern sehen und im Hintergrund noch eine andere Farbe. Außerdem hast du zwei Nuppen und zwei Gegennuppen. Also wieso ist auf meinem Rücken dann gar nix?“ Als Wolkig und Zweigerl Farblos sahen, wie er so verzweifelt dastand, tat er ihnen richtig leid. Hätte er Augen gehabt, so würden Sie traurig dreingeschaut haben. So krümmte er sich nur unter der Last der Bedeutungslosigkeit, die sich in ihm ausbreitete. Ja, das war es, was Farblos empfand. Dass er offenbar im Vergleich zu den anderen Teilen nichts bedeutete! Denn es gab viele Puzzleteile, die Zweigerl ähnelten. Und es gab auch viele Teile, die Wolkig ähnelten. Mehr oder weniger halt. Aber wenn er gar nichts darstellte … was dann? „Könnt ihr mir zumindest sagen, welche Form ich habe?“, fragte er mit resignierter Stimme. „Na ja, du hast eine Nuppe und drei Gegennuppen“, antwortete Wolkig. „Aber leider keinen einzigen Punkt oder Fleck, der irgendwas symbolisieren könnte“, setzte Wolkig fort. Farblos war am Ende. Mit der Wahrheit konfrontiert schlich sich auch die heimliche Erkenntnis ein, dass er wahrscheinlich nie jemanden treffen würde, der genauso aussah wie er: nämlich farblos! Plötzlich fühlte er sich ganz allein auf dieser Welt. „Ok, Zweigerl und Wolkig“, sagte Farblos nach einem Moment, schon in etwas besserer Stimmung als zuvor, da er so niedergeschmettert gewesen war – im Angesicht der unausweichlichen Wahrheit, die ihm die anderen so präsentiert hatten. „Ich glaube, für heute habe ich ziemlich viel über mich erfahren, und ich merke, wie ich richtig erschöpft bin und mir der Kopf schwirrt.“ „Seid ihr einverstanden, wenn wir es für heute gut sein lassen? Ich glaube, ich werde heute doch nichts mehr tun und mich ganz einfach nur ausruhen.“ Wolkig sah den müden Farblos an, schaute noch ein weiteres Mal in die Runde der weit verstreuten Puzzleteile und wollte eben Farblos etwas vorschlagen: „Weißt du was, Farblos?“ – in diesem Moment ging das Licht aus. „Ooooooh“, riefen die Teile alle miteinander, irgendwie traurig und enttäuscht, dass die helle Zeit nur von so kurzer Dauer gewesen war. Gerade erst hatten sie das Licht entdeckt, und nun ging es schon wieder aus! „Also gut“, sagte Wolkig. „Dann ruhen wir uns halt auch aus, es hat ja keinen Sinn, in der Dunkelheit herumzuirren und die Gegend zu erkunden. Morgen werden wir dir helfen, jemanden zu finden, der so aussieht wie du, einverstanden?“ Aber Farblos hörte das nur noch ganz vage, während seine Augen schon zufielen und er in den Puzzleteile-Schlaf entglitt. Was er sich aber noch sehnlichst wünschte, war, dass die beiden, Wolkig und Zweigerl, sich ganz einfach neben ihm hinlegten, ganz egal, ob sie sich ähnlich waren oder nicht.