Das Experiment – ein Sprung ins Leben

Das Experiment – ein Sprung ins Leben

Eine mehr oder weniger philosophische Erzählung

Klaus Itta


EUR 10,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 102
ISBN: 978-3-99064-780-6
Erscheinungsdatum: 09.12.2019
Lukas will herausfinden, was ihn glücklich macht und wofür es sich zu leben lohnt. Darum startet er ein philosophisches Experiment: Wie würde ich leben, so fragt er sich, wenn mir nur noch ein Jahr bliebe?
Dankeschön

Von ganzem Herzen möchte ich mich bei dir bedanken, weil ich mich dir tief verbunden fühlen darf – und wir uns aufrichtig und mit offenem Herzen begegnen. Unsere Freundschaft ist ein unsagbar großes Geschenk für mich. Dankeschön!

Aber auch bei dir möchte ich mich bedanken, da du mich ins Stolpern gebracht, enttäuscht und aus der Bahn geworfen hast. Das hat sehr wehgetan. Es hat mir aber auch für vieles die Augen geöffnet und mich weitergebracht. Dankeschön!



Der Krug

Lukas schlenderte durch die verschneiten Gassen des ersten Bezirks. Auf die Stadt legte sich ein sanfter Schleier aus Abendlicht. Über den Häusern stand hell der Mond. Es war ein großer, voller und klarer Mond. Das Kopfsteinpflaster zeigte an jenen Stellen, die noch nicht von Schnee bedeckt waren, einen feuchten Glanz, indem sich gelblich das Mondlicht widerspiegelte. Straßen, Gassen und Plätze waren eingesäumt von prachtvollen Gebäuden. Sie strahlten Erhabenheit aus. In einigen Bauwerken spiegelte sich das Mittelalter wider; in anderen der imperiale Glanz vergangener Jahrhunderte. Dazwischen Neubauten, mit glatten Flächen aus Glas, Stahl und Beton. Alt und neu störten sich nicht. Sie fügten sich harmonisch ineinander.
An diesem Abend war die Stadt von einer seltsamen Ruhe beseelt. Es war eine dichte Ruhe. Eine Ruhe, die Lukas deutlicher vernahm als sonst. Es war eine Ruhe, die selbst noch den Lärm durchdrang.
Sonderbares Mondlicht. Seltsame Ruhe. Lukas geriet zunehmend in Zweifel, ob er wirklich wach war oder nicht doch vielleicht träumte. Wie um sich seiner Wirklichkeit zu vergewissern, klopfte er im Vorübergehen an einen Laternenmast. Der Stahl war hart und kalt. So hart und kalt, wie er es erwartet hatte. Alles schien normal zu sein. Auch bei längerem Hinsehen verwandelte sich der Laternenmast nicht in ein Monster aus der Unterwelt oder einen Riesenpenis. Er blieb schlicht und ergreifend – eine Straßenlaterne, die oben leuchtet und unten angepinkelt wird.

Äußerlich vermittelte Lukas den Eindruck eines schlanken, aber kräftigen Bauernburschen. Dennoch war schwer zu sagen, ob er nun robust oder fragil wirkte. Irgendwie schien beides gleichzeitig zuzutreffen. Man hätte ihn als einen schon etwas abgehalfterten Altrocker mit einem gewissen Hang zur Melancholie beschreiben können. Er trug ausgebeulte Bluejeans und eine abgeriebene, braune Lederjacke. Dazu einen langen, grauen Schal. Auf seinem Kopf eine feinmaschige Wollmütze. Ebenfalls grau. Lukas war zu dieser Zeit um die vierzig. Er hatte helle Augen und helle Haare, die ihm bisweilen, sofern er keine Mütze trug, in langen Strähnen ins Gesicht fielen. Seine Haut hatte, obwohl es Winter war, einen dunklen Teint, wodurch die bereits ergrauten Stellen in seinem Fünf-Tage-Bart noch etwas deutlicher zutage traten. Sein Erscheinungsbild, seine Farbe, die Art und Weise, wie er sich bewegte, alles vermittelte den Eindruck, als wäre er nach langer Abwesenheit in seine Heimat zurückgekehrt. Was auch stimmte. Er war, in gewisser Weise, Besucher in der eigenen Stadt. Gefühle von Fremdheit und Vertrautheit vermischten sich zu einer einheitlichen Empfindung.

Über die Straße hinweg – und durch das eigentümlich gedämpfte Stadtleben hindurch – vernahm Lukas einen vertraut klingenden Ruf, der das heimelige Gefühl in seiner Magengrube noch etwas stärker werden ließ. Er drehte sich um und erkannte, im Licht der Straßenlaterne, die Silhouette seines alten Freundes: „Hey Eckhart!“, rief Lukas, während er sich daranmachte, ihm mit großen Schritten entgegenzugehen.
„Wie schön dich zu sehen“, erwiderte der Freund. „Seit wann bist du wieder hier? Ich habe dich vermisst – du altes Sackgesicht!“ Eckhart packte seinen Freund kräftig bei den Schultern und schüttelte ihn zur Begrüßung erstmal herzhaft durch. Dann marschierte er mit ihm entschlossen drauf zu. Unausgesprochen wussten beide, wohin. Lukas wurde es bei dieser herzlichen Grobheit warm ums Herz. „Es ist so einfach“, dachte er sich.

Eckhart war ebenfalls von kräftiger Statur, aber etwas kleiner und gedrungener als Lukas. Dennoch hatte er markante Gesichtszüge. Das auffallendste an ihm war jedoch sein kolossaler Schnurrbart. Seine eher groß zu nennende Nase hatte einen leichten Linksknick, was bei flüchtiger Betrachtung aber nicht auffiel. Darauf trug er eine kleine, runde Nickel-Brille. Auf dem Kopf eine Hafenarbeiter-Mütze. An seiner dunkelblauen Seemannsjacke, mit den großen messingfarbenen Knöpfen, war der Kragen hochgestellt. Man hätte ihn für den Trainer einer zweitklassigen Hinterhof-Boxschule halten können.

Bald schon gluckerte der Wein in appetitlichen Wellen zielgenau in ihre Becher. Eckhart ließ den Krug ganz leer laufen und umfasste ihn dabei so stark, dass der Eindruck entstand, er wolle aus ihm gewiss noch den letzten Tropfen herauspressen.
Unterdessen reckte Lukas sich auf, um nach der Serviererin Ausschau zu halten, während er den süßlichen Rauch einer kubanischen Zigarre, in einer langen, stromlinienförmigen Schwade, über den Tisch hinweg ausblies. Die Zigarren, die die beiden rauchten, waren ein Mitbringsel von der Reise. Lukas trug sie in einem kleinen passenden Etui bei sich, das sich in der Innentasche seiner Jacke befand. Er bewahrte sie auf, für einen besonderen Moment.
Wie eine zufriedene Raubkatze hing Lukas zwischen den Ästen seines Lehnstuhls und genoss die vitalisierende Anspannung, die seinen Körper durchzog. Seine Augen verengten sich zu einer scharfen Linie und sein Blick fokussierte sich auf die schmiegsamen und wendigen Bewegungen der servierenden Schönheit.
Kraftvoll und anmutig zugleich, beinahe tänzerisch, bewegte sie sich durch die engen Nischen, vorbei an Stühlen und Tischreihen. Das eng um ihre Taille geschnürte Kleid umspielte die verführerischen Linien ihres prallen, aber dennoch schlank zu nennenden Körpers. Die im Verhältnis zu ihrem Körperbau großen Brüste zogen unwillkürlich die Blicke auf sich. Alles an ihr vermittelte Fülle und Überfluss. „Sie kommt mir vor wie ein Versprechen, das Seligkeit garantiert“, sagte Lukas. Während Eckhart angestrengt versuchte, mit dem Rauch seiner Zigarre wohlgeformte Ringe in die Luft zu blasen, wozu er aber offenbar nicht das nötige Talent besaß. Es kamen nur unförmige, offene und zerfledderte Gebilde dabei heraus. Selten eine Schwade, die man hätte als Ring durchgehen lassen können.

Während die Erlöserin sich mit leichtfüßiger Beiläufigkeit auf ihren Tisch zubewegte, fiel eine lange dunkle Strähne in ihr hübsches und irgendwie unschuldig wirkendes Gesicht. Lukas richtete seinen Blick auf ihre fruchtigen Lippen und die kleine, neckische Lücke zwischen ihren Schneidezähnen. Je näher sie kam, desto tiefer glitt sein Blick über Nacken, Hals und Schulter, hinab in die hügelige Landschaft praller weißer Haut, um sich schließlich im Tal ihres üppigen Busens zu verlieren. Es war, als würde er ins Zentrum eines mächtigen Strudels geraten. Er musste sich Mühe geben, nicht dauernd hinzuschauen. Aber noch während er dies dachte, ertappte er sich dabei.

Mit einem satten Schlag knallte sie das Tablett auf die massive Kiefernholzplatte und fragte, mit überraschend sanfter Stimme: „Was darf es sein, meine Herren?“
„M… M… M… Milch“, drängte es Lukas zu sagen. Aber dann besann er sich, gerade noch rechtzeitig und bestellte – „noch einen Krug Wein.“
Als sie, eine Karaffe hinterlassend, wieder hinter Tischreihen und in verwinkelten Nischen verschwand, schaute Eckhart mit weit aufgerissenen Augen in den vor ihm stehenden Krug und bemerkte: „Betrug! Der Krug – er ist nur zur Hälfte gefüllt!“



Das Experiment

Es war der 23. Dezember. Lukas fühlte sich glücklich an diesem Abend. „Das ist Leben!“, sagte er sich, während er, getragen von dieser Stimmung, durch die verschneiten Gassen der weihnachtlich geschmückten Altstadt heimwärts spazierte.
Ihm gefiel das knirschende Geräusch des Schnees unter seinen Schuhsohlen. Es hatte einen lustigen Klang. Auf sein Gesicht legte sich ein zufriedenes Lächeln. Im Lichtkegel einer Straßenlaterne beobachtete er, wie unzählige Schneeflocken vom Himmel zur Erde schwebten. Die Reise der kleinen fluffigen Flocken kam ihm unbekümmert vor. Sie sahen heiter aus – als würde es ihnen nicht das Geringste ausmachen, schon bald als knirschendes Geräusch unter seinen Schuhsohlen zu enden. „Nicht schlecht, so ein Schneeflockenleben“, dachte er sich. „Sie fallen, tanzen, verschwinden. Kein Drama. Kein Sträuben. Kein Murren.“ Lukas hörte das Knirschen des Schnees unter seinen Schuhsohlen nun mit ganz anderen Ohren. „Vielleicht murren sie ja doch?“

Zu Hause angekommen legte er ein paar Holzscheite in den Kaminofen und entfachte ein Feuer. Nachdem er die Jacke ausgezogen und sich von den halbnassen, knöchelhohen Lederstiefeln befreit hatte, setzte er sich vor das wärmende Kaminfeuer. Für Lukas war der Ofen das Herzstück seiner Wohnung. Es war ein Kaminofen der Marke Justus, mit einer Verkleidung aus Stahl und Speckstein. Seit jeher war es sein Traum gewesen, eine Feuerstelle in seiner Wohnung zu haben. Nun hatte er sich diesen Traum erfüllt und ihn in seinem Leben installiert. Genauer gesagt, in seiner Küche.
Für gewöhnlich schaute Lukas lieber in den Ofen als in die Glotze. Er konnte stundenlang damit zubringen, das Lodern der Glut und das Züngeln der Flammen zu betrachten. Bisweilen kam er dem Feuer so nah, dass die Haut auf seinem Gesicht sich zu verspannen begann und eine tiefrote Farbe annahm.
Durch die offene Luke beobachtete er, wie das Holz Feuer fing und die Flammen sich danach verzehrten. In ihrem Flackern leuchteten die Erinnerungen des Abends noch einmal lebhaft auf. Er sah darin die servierende Schönheit – wie ihr eine lange, dunkle Strähne ins Gesicht fällt und sie ihn anlächelt. Es war ein argloses Lächeln. Lukas wurde warm ums Herz, indem er an sie dachte und sich an ihre klare und sanfte Stimme erinnerte.
Mit der Zeit loderten auch zahlreiche Bilder der Vergangenheit und fantastische Vorstellungen von der Zukunft farbenfroh vor sich hin. Langsam, langsam begann Lukas sich in der Betrachtung des aufkeimenden Feuers zu verlieren. Es wurden Szenen lebendig, die ihn bewegten, berührten und erfreuten, ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberten und ihm Tränen in die Augen rührten. Ihm war, als würde sich sein ganzes mögliches und wirkliches Leben mit dem Feuer verbinden und darin aufzüngeln.
Eine unbestimmte Weile lang kam er sich selbst vor wie ein flackerndes Lichtlein, das dem Wind trotzt.
Neben all den schönen Erinnerungen begannen allmählich auch jene zahlreichen Momente aufzuleuchten, die er hatte achtlos und verschlossen an sich vorüberziehen lassen, weil er zu besorgt, zu zerstreut und zu ängstlich war – zu bekümmert um Dinge, die ihm jetzt unbedeutend vorkamen. Momente, in denen er blind war für die Schönheit eines Ofenfeuers oder das zerberstende Knirschen des Schnees unter seinen Schuhsohlen. Momente, in denen er sich getrieben fühlte und einsam durch eine kalte Nacht lief, um Menschen zu entfliehen, denen er distanziert und zugeknöpft gegenüberstand, sodass ihm die Flucht in die stockfinstere Nacht wie eine Befreiung vorkam.

Er schaute auf die Uhr. Es war fast Mitternacht. „Es ist verwunderlich“, dachte er, „es sind wohl diese alltäglichen Momente, die meist unscheinbar an mir vorübergezogen sind, die aber ganz eigentlich das Leben ausmachen. Wenn ich offen bin für diese scheinbar banalen Augenblicke, dann füllt sich das Leben mit Leben. Aber warum ist das so schwierig? Was hindert mich daran, empfänglich für diese Gegenwart zu sein? Wie wäre es“, schoss es ihm in den Kopf, „wenn ich wüsste, dass ich nur noch ein Jahr zu leben hätte? Wäre ich dann aufmerksamer, offener – dankbarer gegenüber den kleinen und großen Freuden des Lebens? Würde ich mein Leben anders leben?
Wie wäre es, wenn ich wüsste, dass ich tatsächlich am 23. Dezember, um Mitternacht des nächsten Jahres, sterben würde?“ Bei diesem Gedanken fröstelte ihm. Er legte ein weiteres Scheit nach. Lukas begann auf seinem Küchenstuhl hin und her zu rutschen und sich aufzurichten. Die Vorstellung, in absehbarer Zeit nicht mehr da zu sein, ließ ihn unbehaglich fühlen. Reflexartig wollte er sich von diesem Gedanken abwenden. Er beschloss jedoch diesem Reflex nicht nachzugeben und stattdessen den Gedanken weiter auf sich wirken zu lassen.
Alsdann begann sich Unmut in ihm auszubreiten – Unmut über den Unfug seines bevorstehenden Todes. Die Möglichkeit, in absehbarer Zeit nicht mehr da zu sein, empfand er als Zumutung. Er bemerkte, wie er sich dagegen auflehnte. „Gibt es denn keinen verantwortlichen Leiter, bei dem ich mich beschweren kann? Niemanden, an den ich mich richten kann mit meiner Klage? Gibt es denn – in Gottes Namen – keinen obersten Gerichtshof, der mich begnadigen könnte? Keinen, der mir diesen letzten Gang abnimmt oder mich zumindest durch ihn hindurch begleitet?“ Über diese Einfälle den Kopf schüttelnd dämmerte ihm, dass er mit diesem Problem wohl ganz auf sich alleine gestellt war. Obwohl alle Menschen vor demselben Problem standen und ihm durchaus klar war, dass „man“ halt irgendwann sterben muss. Die Vorstellung jedoch, dass ganz gewiss sein eigener höchstpersönlicher Tod ihn künftig seiner eigenen Existenz berauben würde – das fand Lukas schon sehr krass.
Im Allgemeinen war er es gewohnt, die Probleme, die sich ihm stellten, unter Aufbietung seiner durchaus komfortablen Ausstattung an Fähigkeiten und Kräften, zielstrebig und effektiv lösen zu können. Nun jedoch fühlte er sich ohnmächtig. „Ich kann Sport treiben, Geld verdienen, studieren und Gemüse essen soviel ich will, aber dem Faktum des bevorstehenden Todes kann ich nicht entrinnen. Ich kann aufhören zu rauchen, keinen Alkohol mehr trinken, unnötige Risiken vermeiden und eine Lebensversicherung abschließen, aber an diesem zukünftigen Ereignis zerbricht all mein Können, Wollen und Machen. Gibt es denn gar keinen Ausweg – verdammte Scheiße noch mal?!“
„Nein!“, hallte es in seinen Gedanken nach. „Ich kann zwar nicht wissen, ob oder wie es nach dem Tod mit mir weitergehen wird – aber mit meinem Dasein, in diesem Körper und in dieser Welt wird es gewiss zu Ende gehen.“

Lukas beschloss diesem Gedanken noch weiter standzuhalten. Als Nächstes bemerkte er, wie sich Wut in ihm zusammenbraute. Eine Wut über all die scheinbaren Wichtigkeiten, Verantwortungen und Verpflichtungen, die ihm das Leben schwermachten und seinen Geist verstopften. Er nahm in sich ein Aufbegehren gegen diese bedrückenden Kräfte wahr – und entwickelte ein Gefühl der Abscheu gegen das fortwährende Sorgen und Ängstigen und all das, was seinem Leben Schwere verlieh. „Das zieht mir die Vitalität aus den Knochen; und ein Großteil der Sorgen, Verpflichtungen und Ängste dreht sich um Dinge, die mir – mit Abstand betrachtet – als nicht besonders bedeutungsvoll vorkommen.“

Lukas beschloss den Gedanken noch länger auf sich wirken zu lassen – bis er schließlich entdeckte, wie der Groll einem Gefühl tiefer Traurigkeit wich. Eine Trauer um all das ungelebte Leben, das er aus ebenjener Angst oder Zerstreuung oder bloßer Achtlosigkeit hatte an sich vorüberziehen lassen. „Dieses ewige Sich-Sorgen-Machen und Grübeln ist lebensfeindlich“, sagte er sich – und verspürte den auflodernden Ansporn, diese Zumutungen endlich abzuschütteln. Er empfand eine unbändige Sehnsucht nach Leben und bemerkte, wie sich in ihm ein Wille befeuerte, der alles tilgen wollte, was nicht Leben war.

Nachdem Lukas sich eine zeitlose Weile diesen Betrachtungen und Empfindungen hingegeben hatte, tauchte er mit einer klar vor Augen stehenden Einsicht wieder auf: „Dieses Experiment besitzt eine ungeheure Sprengkraft“, dachte er. „Es mag absurd klingen, aber auch wenn der physische Tod mich meines körperlichen Daseins berauben wird, kann die Idee des Todes mir das Leben retten! Dieses Experiment könnte die Macht besitzen, mich aus meiner Lebenslähmung zu befreien – und mich lehren, was wirklich Beachtung finden soll. Im Vollzug dieses Experiments könnte ich den Mut entwickeln, die dafür notwendigen Entscheidungen zu treffen. Ich will dieses Experiment eingehen. Ich will so leben, als hätte ich die Gewissheit, in exakt einem Jahr zu sterben. Am Heiligen Abend des nächsten Jahres soll es vorbei sein.
Dieses Abenteuer soll jedoch kein Tanz in den Tod sein, sondern vielmehr ein Tanz mit dem Tod – ein Sprung ins Leben!“
5 Sterne
Ein literarisches Essay mit philosophischem Hintergrund - 25.03.2020
R.Hammer

Philosophen können meines Erachtens kaum belletristische Werke erzeugen, weil sie zu kompliziert denken. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass die Beschäftigung mit schwierigen Texten zu einem differenzierteren Denken führt, welches für das literarische, schriftstellerische Denken untauglich macht. Dies trifft auf die meisten Philosophen zu, nicht aber auf diesen Autor. Er ist offensichtlich in der Lage, den „philosophischen Ballast“ loszuwerden. Er schreibt einfach, verständlich, schlicht – aber trotzdem gehaltvoll und ansprechend.Den philosophischen Hintergrund kann man nicht übersehen. Es wird auf verschiedene, philosophische Bezüge expressis verbis hingewiesen, die philosophischste Frage aller philosophischen Fragen wird behandelt – die Frage nach dem Sinn von Sein und Existenz. Sogar Heidegger kommt darin vor – und das in einer allgemein verständlichen Form!!Sicherlich ist es aus der Perspektive des poetischen Realismus, der Darstellung der Realität aus der Perspektive des Schönen, etwas „stilbrüchig“, da »Riesenpenis« oder »Scheiße« sicherlich nicht in das Weltverständnis des klassischen, poetischen Realismus passt, aber sehr wohl in unsere Zeit. Mit Stilbrüchen kann man auch Aussagen treffen.Die Vermischung von verschiedenen literarischen Stilen (poetischer Realismus, Romantik) ist aus meiner Sicht kein Fehler. Kein Dichter und kein Schriftsteller wird sich durch Einhaltung eines bestimmten Stils einschränken lassen. Er wird genau das zu Papier bringen, was ihm auf dem Herzen liegt, was er sagen will. Seine Seele treibt ihn. Schnitzler spricht von einer Seelenprostitution der Schriftsteller, weil sie ihre Seele in ihr Werk legen.Goethe schrieb seinen Werther, um seinen Liebeskummer loszuwerden. In Dichtung und Wahrheit beklagt er sich erschüttert darüber, dass er mit dem Schreiben des Werther seelisch gesundet ist, damit aber eine verderbliche Suizidwelle bei jungen Paaren ausgelöst hat.Meine Gleichsetzung dieses Büchleins zum Werther geht ganz einfach darauf zurück, dass der Autor darin eigene, persönliche Lebenserfahrungen verarbeitet.Man kann erkennen, dass der Autor auf eigene Lebenskontexte zugreift, wie Philosophie, Psychologie oder Meditation.Der Autor hat in seinem Experiment das Gleiche gemacht, was Goethe mit seinem Werther gemacht hat: die literarische Verarbeitung von etwas seelisch Unverarbeitetem. Bei der literarischen Qualität dieses Büchleins – das ist Literatur!Es gibt verschiedene Meinungen, was einen Schriftsteller zu einem guten Schriftsteller macht: Die einen meinen, dass jemand nur dann produktiv sein kann, wenn er selbst nichts erlebt. Wenn man selbst viel erlebt, hat man nicht mehr die Fantasie, um literarisch produktiv zu sein. Die andere Position besagt, dass das Qualitative in der Literatur nur dann entsteht, wenn einLebensbezug da ist (wie z.B. bei Goethe).Wenn ich so zurückdenke, ist das Beste, was ich je gelesen habe, dasjenige, was einen Lebensbezug hatte.Dr. Robert Hammer

5 Sterne
Die Frage nach dem Lebenssinn - 10.02.2020
Dr. Robert Hammer

Grundlegende philosophische Lebensfragen, welche jeden betreffen, werden aus einer subjektiven Perspektive heraus in einer schlichten Erzählform allgemein verständlich und nachvollziehbar abgehandelt.Geschrieben im Stil des poetischen Realismus, vermischt mit Elementen der Romantik, hat dieses Büchlein einen eigenen Reiz.Lesenswert.

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