Bosnische Blätter

Bosnische Blätter

Entwicklungsarbeit in Bosnien – Eine Nachlese

Oskar Szabo


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 76
ISBN: 978-3-99064-942-8
Erscheinungsdatum: 06.05.2020
Oskar Szabo zeigt anhand einer Institution für Betagtenbetreuung in Bosnien auf, wie Entwicklungszusammenarbeit nachhaltig gelingen kann und welch langfristige Konsequenzen der Bürgerkrieg in dem Balkanland nach sich zieht.
Lohn der Insistenz

Beinahe als triumphal könnte man den Empfang bezeichnen, den uns das alteingesessene Team der Geriatrie in Novi Travnik bescherte, als wir im April 2019 nach gut zwanzig Jahren seit der definitiven Übergabe der Institution einen Besuch abstatteten. Ja, fast alle Frauen, welche Anfang 1999 die große Verantwortung übernommen hatten, das Haus in eigener Regie zu führen, waren noch da. Seit damals waren sie stets auf ihrem Posten und arbeiteten unermüdlich in einer Institution, die sie sich nicht zuletzt aus eigener Kraft mit unermüdlichem Einsatz und beträchtlichem Durchhaltevermögen erkämpft hatten. Zu Recht waren sie stolz auf ihre erfolgreiche Tätigkeit und präsentierten ihre nunmehr vollständig ausgebaute Anlage mit einem zusätzlichen Gebäude und einem Park (inklusive Gemüsegarten) mit großer Freude und Genugtuung, denn sie sind die wahren Heldinnen, welche dem einstigen Projekt der Schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) allen Widrigkeiten zum Trotz zu jener Nachhaltigkeit verholfen haben, welche stets gefordert wurde, zunächst ohne zu wissen, wie ein solches Ansinnen letztlich umzusetzen sei. Es war tatsächlich ein Schuss ins Blaue, welchen die Behörden seinerzeit, sozusagen aufgrund einer gewissen Hilflosigkeit, abfeuerten, denn es fehlten bis dahin jedwede Erfahrungen wie auch Fachwissen, das sie erst einholen mussten, ehe die Arbeit beginnen konnte. Dabei ging es darum, im Jahr der Rückkehr (1998) nicht nur gesunde Bosnier in ihre nunmehr sichere Heimat zurückzuschicken, sondern auch alte und kranke Personen, welche nicht zuletzt selber dem Wunsch Ausdruck verliehen hatten, ihre letzten Tage in ihrer Heimat verbringen zu dürfen, um dereinst in vertrauter Erde ihre letzte Ruhestätte zu beziehen. Doch diesem Wunsch konnte nur dann mit gutem Gewissen entsprochen werden, wenn für diese Leute auch entsprechende Einrichtungen zur Verfügung standen, welche sich ihrer anzunehmen in der Lage waren. Solche gab es nach den Kriegsjahren kaum, und die wenigen Häuser, die vorhanden waren, waren veraltet, heruntergekommen und überdies hoffnungslos überfüllt. Es tat deshalb Not, selber spezifische Institutionen aufzubauen, um die genannten Pläne vollumfänglich umzusetzen zu können. So entstand unter beträchtlichem Aufwand ein Haus, in welchem Altenbetreuung nach modernen Prinzipien angeboten werden konnte, was die Unterbringung selbst pflegebedürftiger Betagter ermöglichte, alten Menschen mithin, welche zu Beginn des Bürgerkriegs vertrieben worden waren und kaum mehr den Elan und die Kraft hatten, in ihre teils zerstörten Dörfer mit ihren abgebrannten Häusern zurückzukehren.
In Novi Travnik, einer kleinen Stadt in Mittelbosnien, fand sich ein geeignetes Gebäude, in dessen (leider feuchten) Mauern eine entsprechende Einrichtung etabliert werden konnte. Es war ein altes Hotel, das während des Krieges an der Front gelegen hatte und daher ziemlich stark beschädigt war, ja monatelang buchstäblich im Regen gestanden und sich mit Wasser vollgesogen hatte. Das SKH (Schweizerisches Katastrophen-Hilfswerk) hat den Wiederaufbau in die Hand genommen, und dies aus nicht nur altruistischen Gründen: Es sollten Wohnungen für Rückkehrer geschaffen werden, welche dort leben konnten, bis sie wieder Fuß gefasst hatten und ein eigenständiges Leben zu führen in der Lage waren. Die Geriatrie, welche im Hochparterre eingerichtet wurde, war somit nur Teil eines größeren Vorhabens, dessen Ziel es war, die einst Vertriebenen in ihre Heimat zurückzuführen.
Die Entstehungsgeschichte dieser letztlich beispielhaften Institution zu beschreiben wäre an sich kaum mehr von Interesse, wäre nicht durch deren langjährige Beständigkeit der Nachweis erbracht, dass selbst solche Projekte dem Gebot der Nachhaltigkeit Folge zu leisten imstande sind. Doch dass dem so ist, ist nicht dem Verdienst der »Gründer« allein zuzusprechen, nein, die Mitarbeiterinnen vor Ort haben einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass dieses außerordentliche Ziel trotz diverser Unbilden, die es zu überwinden galt, letztendlich erreicht wurde. Ihnen gebührt die Siegespalme, denn sie haben den Kampf, von dem noch die Rede sein soll, für sich entschieden.
Ja, gerade sie haben, durch zahlreiche Widrigkeiten gestählt, schon längst begriffen, dass man ihnen das entsprechende »Knowhow« nur deshalb vermittelte, um sie in die Lage zu versetzen, einer neuen Herausforderung ihrer stark lädierten Nachkriegsgesellschaft die Stirn zu bieten. Und genau dies tun sie seither erfolgreich, was uns, den Mitbegründern der Einrichtung, insofern zugutekommt, als diese eben letztendlich dank ihrem Engagement und ihrer Beharrlichkeit nicht nur Bestand hatte, sondern auch bedürfnisgerecht ausgebaut wurde, um den lokalen Gegebenheiten zu genügen. Und wir können nur staunend feststellen, dass die Entschlossenheit des Teams vor Ort dafür sorgte, dass die Institution auch nach 20 Jahren noch besteht, da mit einiger Sicherheit davon auszugehen ist, dass ohne dessen aufopferndes Engagement in Novi Travnik längst kein »Haus der Pflege« (Ku´ca Njege Starimo Zajedno) mehr existieren würde.
Zuvor haben wir uns kurz entschlossen für diesen Besuch entschieden, nachdem wir unter bangen Vorahnungen - im Internet war von Liquidation der GmbH die Rede - mit einer Mitarbeiterin Kontakt aufgenommen und dabei erfahren hatten, dass das Haus sehr wohl noch besteht, ja buchstäblich floriert und mit 60 Bewohnern und Bewohnerinnen ein »ausgewachsenes« Alters- und Pflegeheim geworden ist. Es sind mittlerweile 12 Personen angestellt, sodass immerhin 12 Familien ein Auskommen haben, was bescheiden klingen mag, indes 12 Familien glücklich macht und in dem von Arbeitslosigkeit geplagten Land zumindest als Achtungserfolg gewertet werden darf, selbst wenn einige monieren mögen, dass es sich hierbei nur um einen Tropfen auf einen heißen Stein handle. Es ist derweil in kleinem Maßstab ein Projekt, das die Kriterien der Nachhaltigkeit erfüllt und vor Ort eben auch einige Arbeitsplätze schafft, sodass es selbst aktuellen Vorgaben der Entwicklungspolitik unserer Regierung entspricht, wenngleich das Ganze zu klein ist, um wirksam gegen die Auswanderung qualifizierter Leute anzukämpfen, welche bis dato in erheblichem Maße zugenommen hat. Nun ja, seit dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen haben aufgrund fortbestehender Perspektivlosigkeit rund doppelt so viele Menschen das Land verlassen wie während des Waffengangs selber, mithin ein schmerzlicher »Aderlass« (in der Fachsprache »Brain Drain«), der das Land, das nurmehr 3,7 Mio. Einwohner/innen zählt, zusätzlich schwächt. Dennoch, das Team unserer Geriatrie ist äußerst beständig, sind doch die Fluktuationen minim, was ihm in der Region auch den Ruf eines guten und zuverlässigen Arbeitgebers eingebracht hat. Verdientermaßen darf es daher ihr zwanzigjähriges Jubiläum feiern, zu dessen Anlass wir eingeladen wurden.
Freilich hatte die Entwicklung bis hin zum heutigen Stand ihren »Preis«, denn fast alle Zimmer wurden inzwischen mit drei Betten bestückt, was zu einer gewissen Enge führte, doch, so die Erklärung, entspräche dies dem Wunsch der meisten Bewohner/innen, welche sozialen Kontakt nicht nur gewohnt sind, sondern auch im Alter aufrechtzuerhalten wünschen. Die Leute machen einen durchweg zufriedenen Eindruck, werden auch gut versorgt und durch ausgewogene Ernährung bei Gesundheit gehalten. Dafür sorgt eine eigens eingestellte Köchin, die auch uns mit landesüblicher Kost verwöhnte: Schmackhaft und reichhaltig, typisch bosnisch eben Sarma und Pita!
Es kam einem emotionalen Gewitter gleich, was wir alle, Besucher und Besuchte, erlebten, denn es war unumgänglich, sich aller Höhen und Tiefen zu entsinnen, welche sich auf dem Weg zu diesem Tag eingestellt hatten und erfolgreich gemeistert worden waren. Dass unterwegs einige Elemente, auf welche während der Einführungsphase erheblicher Wert gelegt worden war, verloren gegangen sind, ist nahezu nebensächlich, denn entscheidend ist letztlich die Tatsache, dass das Haus nicht nur weiterhin besteht, sondern in lokal angemessener Form betrieben wird und daselbst großes Ansehen genießt. Selbst die Aktivierung der »Schützlinge«, zwischenzeitlich leider etwas vernachlässigt, sollte nun durch die Anlage eines Gemüse- und Blumengartens wieder ins Programm aufgenommen werden, ein Vorhaben, das gerne zur Kenntnis genommen wird, wenngleich feststeht, dass nur wenige Bewohner und Bewohnerinnen davon direkt profitieren können, sprich überhaupt noch die nötige Kraft haben, um Gartenarbeiten auszuführen. Aber alle freuen sich, wenn selbst gezüchtetes Gemüse auf den Tisch kommt.
Die leidigen amtlichen Probleme, welche uns zuzeiten erhebliche Schwierigkeiten gemacht hatten, waren ebenfalls gelöst worden: KNSZ ist heute eine private humanitäre Organisation, welche als solche auch registriert worden ist. Damit wurde die Vision eines Ministers wahr, der diese Lösung bereits zu Beginn der Arbeiten vorgeschlagen und als einzig vernünftige Variante bezeichnet hat; seinerzeit wurde er nicht erhört, da man von der irrigen Annahme ausging, dass diese Aufgabe im Pflichtenheft der Öffentlichkeit figurieren sollte, was zwar bei uns der Fall ist, dort aber niemals in Betracht gezogen wurde, da für solche Aufgaben schlichtweg kein Geld zur Verfügung stand. Dass dem auch langfristig so sein würde, hätte man ahnen können, denn die traditionelle Altenbetreuung lag in den Händen der jüngeren Generation, der Familie also, welche jedoch während des Krieges vielerorts zerstört worden war, weswegen neue Wege beschritten werden mussten. Die öffentliche Hand dafür zur Verantwortung zu ziehen, war indes völlig illusorisch und musste daher scheitern; das wusste natürlich der vorausschauende Minister, dessen Vorschlag nicht aus der Luft gegriffen war.Die Freude über ein gelungenes Entwicklungsprojekt ist hüben wie drüben groß, die Sympathien bestehen fort und präsentierten sich, als hätte es niemals einen Unterbruch der Kontakte gegeben. Für die Mitarbeiterinnen handelt es sich aber nicht nur um einen Arbeitsplatz, sondern auch um eine große Genugtuung, da es ihnen durch Hartnäckigkeit und Durchsetzungskraft gelungen ist, eine unabhängige Institution zu schaffen, welche fortbestehen wird und uns ein Entwicklungswerk beschert, das nachhaltig ist, so wie es ursprünglich gefordert wurde.
Anlässlich der vielen Reisen in dieses Land entstanden einige »Tagebucheinträge«, welche Erlebnisse, Eindrücke und Eigentümlichkeiten wiedergeben, die sich damals einstellten, als ich die Arbeit als Konsulent für Altenbetreuung aufnahm. Dass sich einige davon vor allem mit der Entstehungsgeschichte der Geriatrie in Novi Travnik befassen, ist schon deshalb gegeben, weil jenes Projekt das wichtigste von allen war und deshalb im Rahmen meiner Tätigkeit eine zentrale Rolle spielte. Sie an dieser Stelle als Erinnerungsstücke wiederzugeben, drängt sich daher auf, selbst wenn der Bosnienkrieg längst in Vergessenheit geraten ist. Das Land und dessen Bevölkerung hat aber einen scheinbar irreversiblen Schaden erlitten, der sich auch heute noch, beinahe 25 Jahre nach der Unterzeichnung der Dayton-Verträge, manifestiert, sodass viele der damaligen Aufzeichnungen kaum an Aktualität eingebüßt, ja durch die Verleihung des Nobelpreises an Peter Handke an Brisanz sogar zugelegt haben. Immerhin wurde er in Sarajewo zur »Persona non grata« erklärt.





Bosnische Blätter I

Die Erkundungsreise, welche gleich zu Beginn der Einsätze angeordnet worden war, fand bei sonnigem, recht warmem Wetter statt und war nebenbei bemerkt sehr schön: Bosnien, dessen Hauptstadt vor rund hundert Jahren unversehens zum Brennpunkt der Weltgeschichte wurde, ist ein Bergland, das unserer Heimat sehr ähnlichsieht: Liebliche Seenlandschaften und canyonartige Täler, zahlreiche Naturschönheiten, Wälder (viele vermint) und etliche Wasserfälle machen es zu einem außerordentlichen Reiseziel, das durch den Krieg in Vergessenheit geraten ist. Ja, dieser Wetterwinkel der Geschichte hat’s in sich: Seine Auftritte sind ebenso stürmisch wie kurz, ihr Nachhall ist derweil langanhaltend und dramatisch, so auch im aktuellen Fall nach dem hässlichen Bürgerkrieg, welchen das Land zu überstehen hatte.
Die Hotels sind nicht sonderlich gut, aber durchaus geeignet, die Nacht zu verbringen - was will man mehr -, das Essen ist reichhaltig und meist hervorragend, die Preise sind günstig, die Leute freundlich und hilfsbereit. Es wäre eine vergnügliche Reise gewesen, hätten nicht überall Ruinen gestanden, zerstörte Häuser, zuweilen ganze Dörfer, welche durch den stets wechselnden Frontverlauf irgendwann ins Visier der Artillerie geraten waren und natürlich das teils heftige Granatfeuer nicht überstanden hatten. Übriggeblieben sind die Kamine, die wie Mahnfinger emporragen und den verwöhnten Mitteleuropäer erschrecken, ja ihn nachdrücklich ermahnen, Zwistigkeiten durch kluge Verhandlungen und nicht durch Gewaltakte zu lösen. Sie beherrschen das Landschaftsbild, als wären sie auserkoren, einen deutlichen Appell an all jene zu richten, welche ihrer ansichtig werden, sozusagen um sie in die Pflicht zu nehmen, ihre Warnung zu beherzigen und die ernstzunehmende Botschaft der übrigen Menschheit eindringlich zu vermitteln.
Und die Menschen? Nun, sie waren ärmlich gekleidet, hatten Hunger und ihre Gesichter waren von Leid geprägt: Sieger und Besiegte, kaum zu unterscheiden, beide nicht des Glücks teilhaftig, das sie suchten, auch Vertriebene und Rückkehrer nach einst geglückter Flucht, welche sie für Jahre irgendwo fernhielt, sie alle haben verloren, Angehörige, Hab und Gut, gesellschaftliche Position und nicht zuletzt auch ihr Selbstbewusstsein und ihr Ansehen. Nein, sie, die angeblichen »Feiglinge«, wurden beileibe nicht mit offenen Armen empfangen, diejenigen, welche den Krieg vor Ort durchgestanden haben, waren die Besseren, die Furchtlosen eben … Sie wollen glauben machen, keine Angst gehabt und dem Feind die Stirne geboten zu haben, und alle Übrigen, die Tapferen und Säumigen, waren auf den Friedhöfen begraben oder harrten der Exhumierung aus den Massengräbern, welche bereits begonnen hatte und Abscheuliches zu Tage förderte. Die Männer, die mit dieser Arbeit betraut waren, hausten im selben Hotel, was sie erzählten, war grauenvoll; die Wahrheit über den Bruderkrieg war unerträglich, ihr dennoch in die Augen zu sehen jedoch heilsam, ja geradezu Pflicht für jeden, der sich anschickte, sich hier nützlich zu machen. Aber man sollte wissen, was die Menschen vor Ort erlebt haben, ehe man sich ihrer erbarmt.
Man könnte meinen, dass sich eine bedrückte Stimmung breit machte, aber nein, viele - längst nicht alle - begannen mit erstaunlicher Zuversicht an einer kaum absehbaren Zukunft zu arbeiten, fleißig wie eh und je, hofften auf Besserung und versuchten vom Erholungsprozess zu profitieren, legal oder illegal. Ja, die Korruption grassierte, damit musste man leben lernen. Sie zu umgehen war geboten, doch unsere Widersacher waren gewiefter, nutzten eine jahrelange Erfahrung, deren Kniffe uns unbekannt waren … Die Wunden heilen, das Leben geht weiter, doch die Risse im sozialen Gefüge sind nahezu unüberbrückbar.






Bosnische Blätter II

Die bosnischen Blätter waren zunächst nur kleine Notizen über Beobachtungen sowie Betrachtungen und Zusammenhänge, die sich anlässlich zahlreicher Bosnienreisen anstellen ließen, später kamen zunehmend auch Bemerkungen und Interpretationen dazu, welche sich aus Diskussionen mit Leuten vor Ort ergeben hatten, und schließlich sogar Äußerungen zu Themen, die allenfalls über Bosnien hinausgingen, etwa was die Arbeit von Hilfsorganisationen, insbesondere NGOs, im Allgemeinen betraf u. a. m. Es wurde mehr daraus, als anfänglich beabsichtigt war, sodass eine Sammlung von Essays entstand, welche sich auch mit Begleiterscheinungen des anscheinend unlösbaren Konflikts beschäftigten. Dabei stellte sich mehr und mehr heraus, dass die eigentliche Triebfeder der fatalen Ereignisse, welche das Land in die Katastrophe führten, weit mehr in spezifischen menschlichen Eigenschaften und Charakteristika zu suchen ist, als in bestimmten Vorfällen und Begebenheiten des Balkans an sich, einer bewegten Geschichte indes, deren Wurzeln bis weit in die Antike zurückreichen. Die heutigen Bewohner, egal welcher Ethnie, sind Europäer, Menschen wie wir alle, und verfügen über ebenso viele Qualitäten und Unarten wie Menschen anderer Regionen auch. Ja, es war davon auszugehen, dass wir satten und selbstgefälligen Mitteleuropäer, so wir mit einer ähnlichen Geschichte wie der Balkan konfrontiert gewesen wären, auch ähnlich reagiert hätten; und müssten wir bei uns denselben Scherbenhaufen entsorgen wie die Menschen dort, so hätten auch wir mit Schattenwirtschaft und Korruption zu kämpfen, dessen waren wir uns stets bewusst. Der Mensch ist ein beispielloser Überlebenskünstler, dessen Natur durch die Evolution so gestaltet wurde, dass er sich in jeder Situation schließlich zurechtfindet, wieder aufrappelt und sich nach der Decke streckt, das ist wohl sein Geheimrezept, das ihn zum Beherrscher der Welt machte. Was die Bosnier taten, war lediglich diesem Umstand zu verdanken, und die Machenschaften, die sich daraus ableiteten, nicht mehr und nicht weniger als Ausdruck des Selbsterhaltungstriebs, einem unverzichtbaren Instinkt also, der uns allen innewohnt. Diese grundlegende Erkenntnis war Anlass genug, einzelne Episoden und Begebnisse niederzuschreiben, um sie gleichsam zu archivieren sowie dem eigenen Erinnerungsvermögen wie demjenigen allfälliger Leser jederzeit zur Verfügung zu stellen, ja um sie jederzeit abrufbar zu machen und bei hitzigen Debatten - es gab in diesem Zusammenhang sehr viele zu bestehen - zur Hand zu haben.
Die Aufzeichnungen gaben im Laufe der Zeit auch zusehends Anlass zu kritischen Bemerkungen im Zusammenhang mit vielen Dingen, welche die Menschen und deren Gemeinschaften oder auch gewisse Organisationen und Regierungen tun, wenn sie ihre Hilflosigkeit angesichts von schwerwiegenden Katastrophen und Grausamkeiten, wie sie Bürgerkriege mit sich bringen, verbergen wollen, zumindest aber nicht aufzuarbeiten bereit sind. Sie dazu zu bewegen, zu ihren Taten zu stehen, ist kaum vorstellbar, nicht einmal angesichts einer Verurteilung durch ein autorisiertes Gericht, eine Erfahrung indes, welche bereits im Nachkriegs-Deutschland gemacht wurde und bis zum heutigen Tag ihre Unabdingbarkeit unter Beweis stellt. Bosnien ist ein Musterbeispiel für die Ohnmacht der Großmächte, die es einmal mehr nicht schafften, die Streithähne rechtzeitig zu trennen und zur Räson zu bringen … nein, sie zogen es offensichtlich vor, von weitem zuzusehen, wie sich die Kriegstreiber zerfleischten und ihre sozialen Strukturen zerstörten, und zwar in der Gewissheit, dass sie anschließend den Scherbenhaufen entsorgen oder Teile davon wieder zusammenzuflicken müssen, eine Aufgabe, welche die einstigen Kriegsparteien gnädigst der Völkergemeinschaft überließen, da es ihre Kapazitäten bei weitem überstieg. Dass dabei einige wertvolle Aspekte kultureller und sozialer Natur verloren gegangen sind, ist nicht erstaunlich, sie wiederherzustellen sollte indes Jahrzehnte dauern, so denn überhaupt möglich, ist doch davon auszugehen, dass sich die Nachkriegsgesellschaft neu orientiert und dabei versucht, die verübten Gräueltaten unter den Teppich zu kehren.

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