Aufbruch ins Ferne Land

Aufbruch ins Ferne Land

Arne Schneider


EUR 22,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 422
ISBN: 978-3-99146-389-4
Erscheinungsdatum: 11.09.2023
Eine Legende kündet von der Gefahr durch den Missbrauch einer mächtigen Naturgewalt, die in grauer Vorzeit den Untergang eines ganzen Kontinents herbeigeführt hat. Wird es dem kleinen Kreis von Getreuen gelingen, das Unheil abzuwenden, das dem Planeten droht?
Letzte Dämmerung

Es sind die letzten Tage am Ende eines Zeitalters, das ich die Goldene Ära nennen will. Das Land und die Insel, auf der wir seit Generationen lebten, war dem Untergang geweiht, mitsamt ihren Menschen, Tieren und Pflanzen, ihren Hügeln und Feldern, ihren Wäldern, Städten und Hofsiedlungen.
Wir waren eine große Familie: Mutter, Vater, wir sechs Geschwister neben den Großeltern, die mit uns auf dem Hof lebten. Entgegen allen Gepflogenheiten dieser Zeit stand in unserer Gemeinschaft das Streben, immer und unter allen Umständen zum Wohl des Ganzen zu wirken, an erster Stelle. Das war für uns, die der Handlungsweise und den Lebensregeln der Bruderschaft vertrauten, keine Besonderheit.
Wir lebten und arbeiteten auf dem Land, das von den Urvätern unserer Sippe entdeckt und in Besitz genommen worden war. Sie ließen sich von der Macht ihrer Träume leiten, als sie von Westen über das Meer kamen – und sie haben diese Träume wahrgemacht. Sie haben den Wald gerodet und von seinem Holz das Haus gebaut, in dem wir bis zuletzt wohnten. Sie haben das wilde Land gezähmt, haben Schutzwälle und Hecken errichtet gegen den Wind und die Tiere. Sie haben den Fluss umgeleitet, um über Wasser zu verfügen. Ihr Sinnen und Trachten war erfüllt von der Hingabe an den Willen des AllEinen, dieser alles durchdringenden Ursache, getragen von dem Wissen, dass jeder Mensch ein einmaliges Wesen ist und in freier und eigenständiger Weise danach strebt, im Verständnis dessen zu wachsen. Dies wurde als Geschenk aufgefasst, das auch wir als ihre Nachkommen im täglichen Miteinander zu leben gedachten.
Ich kann sie nicht vergessen, die Tage, als das Unausweichliche, diese schreckliche Bedrohung, über uns kam. Seltsamerweise war niemand sofort bereit, der Wahrheit ins Auge zu schauen. War doch das Leben Tag für Tag das gleiche, das es vorher gewesen war. Diejenigen, die nicht an Weissagungen und Vorbestimmung glaubten, schienen von Blindheit geschlagen. Einer Blindheit, die selbst mich hin und wieder befiel, mich, die mit der Gewissheit des nahenden Endes zurechtzukommen suchte, einer Gewissheit, welche die Wochen und Monate bis zu dieser großen Dämmerung erschreckend unwirklich erscheinen ließ. Was mich umtrieb, war nicht die Frage, ob etwas Wirklichkeit werden kann, sobald man daran glaubt. Handelt doch ein jeder nach dem Glauben, den er für wahr hält. Demnach gibt es verschiedene Arten von Wahrheit, wie uns die Weisen der Bruderschaft lehren. Wem von uns Sterblichen ist es schon gegeben, das Ganze zu sehen? Nein, die Frage, die mich umtrieb, war: Konnte es sein, dass auch sie, die Weisen der Bruderschaft, einmal irrten?

Ra-Mu, das Reich der Sonne, das sich von einem großen Meer umgeben über die halbe Erde erstreckte, und das aus einem der frühen Urkontinente hervorgegangen war, würde in den Fluten versinken. So kündete eine uralte Weissagung des Orakels vom Berg. Und die Worte des Orakels ließen, nach Ansicht der Anhänger des alten Glaubens, keinen Zweifel zu. Was das Orakel empfange, stehe über dem Menschenwillen.
Doch auch ohne die Weissagung wussten wir, dass eine weltumspannende Veränderung bevorstand. Träume zu deuten ist das eine. Die Zeichen, die in den zurückliegenden Jahren nicht nur hier auf der Insel, sondern vor allem auf dem Festland, zu erkennen waren, mussten nicht gedeutet werden. Doch die Bruderschaft der Meister der Einen Kraft, deren Leitmotiv wir folgten, schöpfte aus anderen Quellen, ja dem Urquell des Lebens selbst. Und wir vertrauten den Unterweisungen dieser Weisen, den »Hütern der geheimen Lehre«, wie wir sie nannten. Sie lehrten das Wissen der Zeitalter und unterhielten Schulen über den gesamten Kontinent verteilt. Auch auf der Insel, die unsere Heimat war, gab es einen solchen Tempel des unvergänglichen Wissens.
Fortgehen, die Insel verlassen, das war die einzige Möglichkeit, diesem drohenden Untergang und somit dem sicheren Tod zu entkommen. Die Menschen verhielten sich unterschiedlich, nachdem bekannt wurde, dass es zu einer großen Veränderung, einer Zeitenwende kommen werde. Eine Minderheit aus den Reihen der Bruderschaft, zu denen auch ich lange gehörte, misstraute dem Rat der Weisen. Nichts deute auf eine allesvernichtende Katastrophe hin, von der im Rat seit Jahren gesprochen wurde.
Und dann gab es noch sie, die Zeugen der letzten Tage. Der Kern ihres Glaubens, des vermeintlich einzig wahren Glaubens, beruhte auf der Großen Prophezeiung. Sie bezog sich auf die Aussage ihres Gründers und gipfelte darin, in den Himmel aufzufahren am letzten Tag, dem Tag der Erfüllung – der sich nun, da alles für einen Untergang sprach, bewahrheiten würde. So harrten sie bereits die vierte Woche unter freiem Himmel, auf einem Hügel an der Südspitze der Insel mit Blick gen Osten, um den Sonnenaufgang nicht zu verpassen – den Sonnenaufgang am letzten aller irdischen Tage.
An den Lehr- und Forschungsstätten des Reiches wollten sie uns glauben machen, man wisse schon sehr lange um die Ursache der Veränderung: Ein Polsprung, eine Verlagerung der Erdachse. Dieser habe dazu geführt, dass die riesigen Eisschilde auf den Polkappen im Norden und auf dem Südkontinent mehr und mehr zu schmelzen begännen.
Jahr um Jahr stieg der Meeresspiegel an, der Regen blieb aus und Hitze und Trockenheit nahmen zu. Endlose Tage und Wochen, an denen die Sonne erbarmungslos vom Himmel brannte, und die zunehmende Trockenheit führte zu Miss­ernten und einem Versanden von Flüssen und Seen. Und immer öfter standen Wälder in Flammen.
Erste Anzeichen einer Veränderung hatten es auch auf unserer Insel gegeben. Ein längst erloschen geglaubter Vulkan am Nordrand hatte plötzlich nach Jahrhunderten der Ruhe über Nacht Rauch und Feuer ausgestoßen. Aschewolken verdunkelten die Sonne und legten sich wie grauer Schnee über die Land­schaft. Dutzende Dörfer waren den Auswürfen zum Opfer gefallen, als glühende Lavazungen aus den Spalten und Schloten, wabernden Feuerschlangen gleich, über das Land krochen. Die Ernte auf den Feldern verdarb, viele freilebende Tiere fanden den Tod. Doch all das war nicht die wirkliche Ursache für die Katastrophe, wie ich noch erfahren sollte!
Man fasste den Entschluss, Schiffe zu bauen, eine ganze Flotte. Überall auf den Inseln, den Archipelen und Kolonien im Osten begann eine rege Bautätigkeit. Bald würden die am Ende Übriggebliebenen ihre Häuser verlassen und hinunter zum Hafen gehen. Das letzte der Schiffe würde die Anker lichten, und zu diesen wenigen, die unsere Insel verlassen und bis zum Schluss ausharren würden, gehörten auch wir. Wir, das waren mein Zwillingsbruder Roug und ich, Azaya, die nur wenige Minuten nach ihm das Licht dieser Welt erblickt hatte, wir, die beiden Ältesten unter den Geschwistern.

Ich ritt durch die Stadt, in der kaum noch Leben war. Der Himmel im Osten glühte, als loderte dort eine Feuersbrunst. Ich entdeckte die schwarzen Umrisse des letzten Flottenverbandes, der gen Morgen aufbrach, vor dem roten Ball der aufgehen­den Sonne. Ein paar Vögel pickten im Straßenstaub nach Überbleibseln aus einer gewesenen Zeit. Da und dort wucherte bereits das Unkraut in den Vorgärten und entlang der Hausmauern.
Ich musste Roug finden, der sich aus unerfindlichen Gründen bis zuletzt geweigert hatte, eines der Schiffe zu besteigen, mit denen die Umsiedlung unserer Insel vonstatten gehen sollte. Unsere Eltern mit den vier anderen Geschwistern wähnte ich längst an einem fernen Ort in Sicherheit. Sie hatten bereits vor Tagen eines der großen Frachtschiffe bestiegen. So war ich die Einzige, die ausgeharrt hatte, um nach dem Bruder zu suchen.
Bevor wir uns trennten, bevor wir unter Tränen Abschied nahmen von dem Hof, dem Land, das seit zwölf Generationen zur Familie gehörte, hatten wir uns ein letztes Mal in der großen Halle des Elternhauses versammelt. Wir gaben uns reichlich Zuspruch und die gegenseitige Beteuerung, nach der gefahrvollen Reise über das Meer an dem vereinbarten Ort, einem der Häfen auf dem fremden Kontinent im Osten, der nicht von der Katastrophe betroffen war, wieder vereint zu sein.
Keiner ahnte damals, wie lange es wirklich dauern sollte, bis uns die Erfüllung dieses Wunsches vergönnt sein würde!
Die Straße im Süden der Stadt lag wie ausgestorben vor mir, als ich mein Reittier zügelte. Seit Tagen war Roug unauffindbar. Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit. Ich musste nicht lange überlegen. Als ich die Erdwälle sah, die sie aufgeschüttet hatten, um Regenwasser zu stauen, wusste ich, wo ich ihn finden würde. Er kauerte neben seinem alten Kahn auf der Mole und schaute auf das offene Meer. Ohne sich nach mir umzudrehen, als ich mich ihm bis auf wenige Schritte genähert hatte, hörte ich ihn sagen: »Das Meer wandert hinaus, siehst du’s?«
»Was bedeutet das?«
»Dass es Anlauf nimmt.«
»Und dann?«
»Kommt es wieder, wenn …« Er brach ab, als suche er nach Worten.
»Umso schneller sollten wir zusehen, von hier wegzukommen«, drängte ich und schaute den Strand entlang bis ans Ende der Bucht, die mir in der Tat verändert schien.
»… wenn es so weit ist!«, brachte Roug den Satz zu Ende, doch in einem gänzlich anderen Ton. Ein leichtes Unbehagen beschlich mich, weil ich nicht sicher war, was er meinte. Um ihn nicht gegen mich aufzubringen, blieb ich stumm. Wartendes Schweigen stand eine Weile zwischen uns. Als ich meine Stimme wiederfand, sagte ich, so beiläufig, aber so eindringlich wie möglich: »Roug … das Schiff …«
»Lass mich, ich komme nach«, kam es schroff. »Geh schon voraus. Ich muss noch was … erledigen. Es wird nicht lange dauern. Bei Sonnenuntergang, spätestens … Das Schiff wird den ablandigen Wind nutzen wollen. Vorher legen sie nicht ab.«
»Lass mich mitkommen.«
»Nein, das muss ich alleine machen. Ich will nicht, dass du es siehst.«
»Was siehst?«
»Äh … es ist ein Geheimnis. Ich will nicht, dass es bekannt wird.«
»Ein Geheimnis? Du hast mir nie davon erzählt. Ist es das, woran du die vergangenen Monate gearbeitet hast? Wovon keiner wissen durfte?«
»Vielleicht …«
»Aber ich bin deine Schwester. Ich würde niemals –«
»Das ist es nicht«, unterbrach er mich. »Je weniger davon wissen, umso besser.«
»Hat es damit zu tun, was daran schuld ist, dass alles so kommt, wie es kommt?«
»Ich habe etwas entdeckt. Dem Rat der Weisen habe ich’s zu verdanken. Sie haben mich gefragt, ob ich eine Aufgabe übernehmen wolle, als ich sie wieder und wieder mit meinen Fragen bedrängte, warum es keine Möglichkeit gäbe, die Katastrophe abzuwenden. Willst du wissen, was sie geantwortet haben?«
Ich nickte stumm.
»Die Katastrophe verhindern, so ihre Ansicht, könne niemand. Auch nicht die Weisen der Bruderschaft. Das gehöre nicht zu ihren Aufgaben. Sie seien da, um Menschen von den Fesselungen dieser Welt zu befreien, nicht um die Welt zu verbessern, noch sie zu retten! – Wie auch immer … Niemand hier und anderswo war bereit, auch nur ein Wort davon zu glauben, wenn ich davon sprach, was ich entdeckt hatte!«, stieß er grimmig hervor. »Ausgelacht haben sie mich und gesagt, das könne niemals wahr sein. Woher weiß ich, dass nicht auch du mich verlachst?«
»Weil ich deine Schwester bin. Wie könnte ich dich nicht ernst nehmen? All die Jahre war ich die Einzige, die zu dir gehalten hat. Die an dich geglaubt hat!«
»Das ist wohl wahr. Aber …«
»Dann vertraust du mir?«
»Na gut – aber du musst mir versprechen, dass du es für dich behältst. Versprich’s mir!«
»Ja, ich … ich … es bleibt unser Geheimnis – versprochen!«
»Und sag nachher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Gewarnt wovor?«
Er blieb mir die Antwort schuldig. Stattdessen sagte er: »Komm mit!«


Wer den Weißen Drachen weckt

Unsere Tiere zurücklassend drangen wir ins Innere der Höhle vor. Nachdem Roug eine stark strahlende Lampe entzündet hatte, übernahm er die Führung und rannte los. Der Boden der Höhle war vollkommen ebenerdig und mit Ornamenten und verschlungenen Mosaiken bedeckt, die, von meisterlicher Hand in den Untergrund eingelassen, im Licht der Lampe sichtbar wurden, ohne dass ich deren Bedeutung auch nur erahnte. Nachdem wir in schnurgerader Richtung dem Gang folgend eine Abzweigung erreichten, führte diese nach etwa hundert Schritten zu einer Öffnung. Der Gang endete hier, und wir betraten eine Halle im Fels.
Roug blieb schwer atmend am Eingang stehen und richtete den Strahl der Lampe nach oben auf eine Wand, die einen halben Steinwurf entfernt vor uns aufragte.
Ich sah es sofort.
Bis unter die Decke des riesigen Gewölbes, das mindestens zehn Mannslängen an Höhe maß, stieg es empor – es, das seltsamste Gebilde, das ich je gesehen habe. Wir standen eine Weile stumm nebeneinander und schauten auf das, was dort in eindrucksvoller Größe in die Wand eingelassen war. Ehe ich auch nur ein Wort herausbrachte, geschah etwas Unerwartetes. Roug umschlang mich so plötzlich mit seinen kräftigen Armen, dass mir die Luft wegblieb.
»Versprich mir, dass du mich nie-nie verlässt, egal was geschieht!«
Ich war so überrascht, dass ich kein Wort über die Lippen bekam und mit einem Kloß im Hals und Tränen in den Augen zu nicken anfing. So standen wir eine ganze Weile eng umschlungen, während ich zu verstehen begann, was ihn bewegte – und mich schauderte, als ich erfasste, dass diese Geste nichts anderes war als ein Abschied.
Nachdem wir uns schließlich stumm und ohne uns gegenseitig in die Augen zu sehen voneinander gelöst hatten, zog es meinen Blick unwiderstehlich zu dem Bildnis, das dort übermächtig die gesamte Breite und Höhe der Wand beherrschte.
»Was ist das?«
Mein Erstaunen war einer plötzlichen Ahnung gewichen. Dass Roug keine Antwort gab, erfüllte mich mit Unbehagen. Als ich schon dachte, er bliebe stumm, hörte ich seine Stimme, dicht neben meinem Ohr, die zu einem rauen Flüstern geworden war, dass es mir erneut einen kalten Schauder über den Rücken jagte.
»Wehe uns! Es ist das, was ich gesehen habe: Der Weiße Drache. Er steht für eine Kraft, die, wenn man sie nicht zu bändigen weiß, ungeheure Zerstörung anrichten wird. Einmal frei­gesetzt, kann sie eine Welt, unsere Welt zerstören. Begreifst du? Als man die Gefahr erkannte, war es längst zu spät, und jetzt …«
Sein erneutes Schweigen versetzte mich in einen so unerträglichen inneren Aufruhr, dass ich ihn mit hartem Griff am Ärmel packte, zu mir herumdrehte und stammelte: »Ja? Und … und jetzt?!«
»Jetzt müssen alle dafür büßen!«, stieß er, mit nicht zu überhörender Bitterkeit in der Stimme, hervor. In diesem Augen­blick geschah es. Ich dachte sofort, dass es wohl Rougs plötzliche Gefühlswallung war, die mich in eine Art Überwachheit versetzt haben musste, mich gepackt hatte, denn ich konnte plötzlich sehen, was er sah!
Ich sah Rougs Not und die Sorge um das Wohl unserer kleinen Welt, unseres Hofes mit dem Land und den Tieren, ja, das Wohl unserer Insel und des Mutterlandes selbst, das – so unwirklich es mir in diesem Moment erscheinen wollte – dem sicheren Untergang geweiht war. Zum ersten Mal erkannte ich, wie überaus gewaltig diese Katastrophe sein würde, begriff das volle Ausmaß und die Tragik, die Roug versucht hatte zu bannen in einem bildgewaltigen Mosaik, das kommenden Zeitaltern als Mahnung gereichen musste. Und indem ich meinen Blick der Erscheinung zuwandte, nachdem ich zunächst keine Worte fand und mein Gesicht wieder abwenden wollte, von dem, was ich sah und ahnend wusste, war es das, was mir über die Lippen kam: »Aber es … es sieht nicht aus wie ein Drache.«
Roug fasste mich mit einem Auflachen bei der Schulter, dass ich einen Schritt nach vorn tun musste, um nicht hinzufallen: »Ja, ja, nicht wahr! Aber es ist das, was ich im Traum gesehen habe. Zuerst den Feuerball und eine Druckwelle, die alles dem Erdboden gleichmachte. Und am Ende die Rauchsäule – schau! –, die wie ein gigantischer Pilz in den Himmel steigt.«
»Und du warst dir sicher, dass …?«
»Je länger der Traum zurücklag, umso klarer wurde seine Botschaft. Irgendwann wusste ich, was ich tun musste. Den gleißenden Feuerball vor Augen drängte es mich, dieses Bildnis zu schaffen. Und ob du’s glaubst oder nicht, es hat mich all meine Kraft gekostet.«
Erst jetzt entdeckte ich mehrere, mit blauen Halbedelsteinen in den Fels eingelassene Schriftzeichen. Dort standen die Worte, die Roug gehört hatte, wahrlich eine Mahnung, ja, ein Vermächtnis für kommende Zeiten.

Wer den Weißen Drachen weckt, wird eine Welt zerstören.

Ein fernes Grollen schreckte mich aus meinen Gedanken. Einen Moment glaubte ich, der ganze Raum begänne zu wanken.
»Hörst du das?«
»Ja …«, hauchte Roug und schaute den Gang entlang, aus dem das Geräusch gekommen war. »Vielleicht ein Gewitter.« Sein Gesicht war plötzlich sehr bleich, sein Atem ging rasch.
»Vielleicht. Komm, lass uns gehen. Das Schiff … Je früher wir da sind, umso beruhigter können sie ablegen. Ich will hier weg, einfach weg!«
»Ja«, kam es müde, während Roug den Arm mit der Lampe endgültig sinken ließ. Nachdem er keine Anstalten machte, meinem Verlangen nachzukommen, drehte ich meinen Kopf zu ihm herum.
»Roug?«
Jetzt hörte auch ich es. Ein donnerndes Brausen, das sich uns näherte. Ich wusste nicht sofort, was da auf uns zukam, obwohl es sich anhörte wie etwas, das ich kennen müsste.
»Roug, was …?!«

Ich erkenne es an seinem Blick, einem Blick, der längst weiß, ja schon die ganze Zeit gewusst hat. Gewusst hat, dass es kein Entrinnen geben wird.
Drei, vier Atemzüge, dann ist es da: Wasser.
Es kommt den Gang entlang auf uns zu.
Kein Entrinnen … kein …
Kein Schiff der Welt, das uns jetzt noch fortbringen wird.
Ich fühle eine Hand.
Die die meine sucht.
Ehe es dunkel wird –

Ich durchstoße das Dunkel, steige auf, löse mich von dem, was einmal gewesen sein wird. Ich sehe in der Tiefe das Land, das untergeht. Sehe die Hügel unserer Heimat, die, im Glanz der Morgensonne, im Rauschen der großen Welle vergehen. Sehe das Meer bis hinter die gekrümmte Weite, nun nicht mehr unendlich für mich, die einer anderen Unendlichkeit zustrebt.
Ich schwebe, schwebe wie ein Vogel in das aufgehende Licht über der stürzenden Flut.


Kinderträume

Im einundfünfzigsten Jahr nach dem großen Barbarensturm und dem Einsetzen der Flüchtlingszüge aus dem Süden, kam in Jondal, jenem abgelegenen Bergdorf am Ende des Schattentals, ein Knabe zur Welt.
Zunächst unterschied sich dieser Knabe nicht von anderen Knaben seines Alters, mit denen er heranwuchs, weder durch ein auffälliges Äußeres, noch in der Art und Weise seines Benehmens.
Nachdem er anfangs kaum Interesse zeigte, jemals sprechen lernen zu wollen, hatte der Junge es mit dem »Wörter machen« plötzlich sehr eilig. Schließlich sprach der Vierjährige von nichts anderem als von etwas, mit dem er nachts in seinen Träumen umherfahre – und das er haben wolle! Er wünsche sich einen Planwagen, so einen wie die fahrenden Händler aus dem fernen Süderland, die alljährlich zu den großen Markttagen über die Berge gezogen kamen.
Mit der Verkündung dieses auf seine Träume zurückzuführenden Wunsches, ging eine Veränderung des Jungen einher. Nach und nach wurde deutlich, dass er im Grunde seines Wesens anders war, dass er verschlossener, nachdenklicher war als andere Kinder, dabei selten lachte und manchmal kaum den Mund aufbekam. Lediglich in seinen Augen glomm hin und wieder ein heller Funke, während er mit einem staunenden, in die Ferne gerichteten Blick und halb geöffnetem Mund herumlief, als träume er mit offenen Augen. So kam es, dass er in einem Atemzug mit seinem Beinamen »Träumer« – Timo, der Träumer – genannt wurde.
»Es mag damit zusammenhängen, dass er keine Geschwister hat«, hörte man die einen sagen, die die Verträumtheit des Jungen darin sahen, dass er als Alleinkind aufwuchs. Andere schoben diesen Hang zu Nichtstun und Müßiggang der Mutter zu. Bruh, die Mutter, war in der Tat ihrem Wesen nach eine ernste und stille Frau, die mehr durch ihre versonnene Art als durch Reden auffiel und daher wenig unter die Leute ging.
Rauld, Timos Vater, litt an einer unerklärlichen Lichtscheu, die sein Sehvermögen schwächte. Einzig und allein sein breitkrempiger Hut ermöglichte es ihm, bei jedem Wetter draußen auf den Feldern zu sein. Da Timo einmal das Erbe des Hofes antreten sollte, versuchte der Vater dem Sohn die Begeisterung für die bäuerlichen Belange dadurch schmackhaft zu machen, dass er dem Jungen zu der langer­sehnten Erfüllung seines Traumes verhalf.
Den Wagen erstanden sie zusammen auf dem großen Markt­tag von einem der fahrenden Händler aus dem Süden.
»Die Karre bringt mir schon lange keinen rechten Nutzen mehr. Aber sie ist noch bestens in Schuss, mehr als es auf den ersten Blick scheinen mag«, entgegnete der vierschrötige Mann mit fuchsschlauem Grinsen. »Fünf Silbertaler, ein Zupackpreis, Lindenbauer!«
»Drei und einen halben können wir aufbringen. Ich gebe noch einen Sack bestes Mehl vom Emmer dazu«, entgegnete der Vater. Er versuchte zu feilschen und den Kaufpreis zu drücken, indem er hinzufügte: »Ist für meinen Sohn hier. Er hat ihn sich schon von kleinauf gewünscht.«
Doch der Händler, so selbstgefällig wie knauserig, wollte nicht mit sich reden lassen. Unter einem kehligen Lacher ließ er die fünf Silberstücke – ein Wucherpreis, wie der Vater Timo auf dem Nachhauseweg gestand –, in seinem prallen Münzbeutel verschwinden. Den Sack Mehl heimste er zusätzlich ein!
Timo spürte, wie der Vater, von einem stillen Zorn beherrscht, die Fäuste ballte und schwieg betreten. Doch dieser Zustand dauerte nur bis vor die Hofeinfahrt, indem der Vater ihm das Haar zauste und sagte: »Jetzt ist’s aber gut.«
Aber noch war nichts gut, denn die Fahrtüchtigkeit des Wagens ließ, entgegen der Lobpreisung des Händlers, einiges zu wünschen übrig. Die Plane musste da und dort geflickt, der Wagenkasten an vielen Stellen erneuert werden. Auch das Fahrgestell mitsamt den Radspeichen bedurften der fachmännischen Hand des Stellmachers.

4 Sterne
Aufbruch ins Ferne Land - 10.01.2024 - 23.01.2024
Ingrid K

Das Buch ist in einer schönen Sprache geschrieben, verständlich und klar.Die Probleme unserer Erde werden deutlich und allumfassend aufgezeigt.Es kristallisiert sich heraus, wie der einzelne Mensch dem entgegenwirken kann:Durch Verständnis, Pflege und Ehrfurcht vor der Natur, durch Vertrauen in die Zukunft der Welt. Menschen, die gerne mystisch-philosophische Gedanken hegen sollten dieses Buch lesen.

5 Sterne
Aufbruch ins Ferne Land - 29.09.2023
Sabine Altmayer

Kam heute morgen so spät aus den Federn, weil ich die halbe Nacht nicht von dem Buch loskam. Es ist fesselnd, spannend ... UND spirituell ... Eine völlig neue wunderbare Mischung.

4 Sterne
Aufbruch ins Ferne Land - 27.09.2023
Wilhelm. Ein Freund.

Das Buch ist ein Muss für jene, die auch nur ein Fitzel von dem begreifen wollen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Es beginnt mit einem Paukenschlag!Was danach kommt, ist eine fantastische, abenteuer- und märchenhaft anmutende Geschichte, die um die Frage kreist, wie wir Menschen uns einer Gefahr erwehren können, die darin unter dem Pseudonym „der Weiße Drache“ in Erscheinung tritt. Wir kennen diese Gefahr inzwischen; andere Namen dafür sind: Ökozid, Epidemien großen Ausmaßes, nukleare Bedrohung usw. Die zusätzliche Alternative, zu den halbgaren politischen und „demonstrativen“ Forderungen unserer Zeit, die in dem Buch anklingt: Besinnung und Aneignung verloren gegangener ethisch-spiritueller Maxime. Für meinen Teil ruft das Buch unbedingt nach einer Fortsetzung! Daher nur 4 Sterne ...

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