Aufbruch aus Imifrich

Aufbruch aus Imifrich

Rüdiger Schlagowski


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 256
ISBN: 978-3-99146-113-5
Erscheinungsdatum: 05.07.2023
Ein skrupelloser Bürgermeister lockt die Bauern der Dörfer in seine Stadt, um sie auszubeuten. Ihm möchte ein Fischer-Ehepaar die Stirn bieten und dazu beitragen, dass die Menschen anstelle von Macht und Geld wieder den Wert echter Gemeinschaft erkennen.
Kapitel 1


I

Es geschah zu einer Zeit, als es noch Fabelwesen auf der Erde gab. Eines davon lebte in einem großen See bei dem Dorf Imifrich. Jedermann hatte fürchterliche Angst vor ihm, obwohl niemand es bislang zu Gesicht bekommen hatte. Alle nannten es „das Ungeheuer“. Dies und noch andere Gründe veranlassten bei ihm eine abgrundtiefe Trauer, die mit heftigen Weinkrämpfen einherging. Dabei peitschte es mit seinem riesigen Schuppenschwanz den See derartig auf, dass dieser über die Ufer trat. Als nun die Häuser der Menschen überschwemmt wurden, packten sie eilig ihre Habseligkeiten zusammen, um die Gegend zu verlassen. Sie waren gar nicht betrübt, denn im Innersten ihrer Herzen hatten sie schon lange gehofft, einen Vorwand zu finden, um das Land ihrer Eltern, in dem sie sich so fürchten mussten und in dem sie sich nicht so recht zu Hause fühlten, hinter sich zu lassen.
Allein ein kurz zuvor ins Dorf gezogener Fischer namens Amtrok blieb mit seiner Frau Mehru dort. Seine Frau hatte mehrmals schon einen Traum gehabt, in dem ihr ein scheußlich aussehendes Wesen begegnet war, das bitterlich geweint und sie unter Schluchzen gebeten hatte, wenigstens ein paar Tage noch am See wohnen zu bleiben. Es könne ihr innerhalb dieses Zeitraumes zeigen, dass keiner sich vor ihm fürchten müsse. Sie würde ihre Entscheidung bestimmt nicht bereuen.
Weil sie ein gutes Herz hatte, konnte sie das Seeungeheuer nicht allein lassen und bat ihren Mann, mit ihr auf den See zu rudern. Anfangs fiel es Amtrok schwer, gegen die heftigen Wellen anzukämpfen, denn „das Ungeheuer“ rührte weiterhin das Wasser auf. Mehrmals wäre das Boot beinahe gekentert. Natürlich hatte Amtrok große Angst, zumal Mehru nicht schwimmen konnte, jedoch dachte er mit keinem Gedanken daran umzukehren. Nein, wenn seine Frau jemandem helfen wollte, dann unterstützte er sie in jedem Fall.
Je näher beide der Mitte des Sees kamen, desto mehr beruhigte sich das Wasser. Eine leise, traurige Musik stieg aus der Tiefe empor. Amtrok und seine Frau lauschten der schönen Melodie und Schwermut bemächtigte sich ihrer. Es erinnerte sie an eigene Notzeiten, in denen sie sich einsam und verlassen gefühlt hatten, einzig getröstet durch Mehrus Gesang und Amtroks Flötenspiel.
„Mehru, lass uns gemeinsam unser Lied spielen, das uns immer so viel Kraft gibt.“ Mit diesen Worten holte der Fischer seine Flöte heraus und begann schwere, dunkle Klänge zu blasen, während seine Frau mit heller, klarer Stimme zu singen anfing. Plötzlich bemerkten beide, jemand begleitete ihre Musik und brachte dabei wunderschöne Glockentöne hervor. Sie fühlten sich wie von einer Woge der Harmonie getragen.
Es war nicht klar zu bestimmen, woher die Begleitklänge kamen. Mal schienen sie aus den Tiefen des Sees nach oben zu dringen, mal hörten sie sie über sich in der Luft, mal wirkten sie wie ein brausender Orkan, der sich aus allen Richtungen auf sie zubewegte. Amtrok und Mehru waren erfüllt von dem Gefühl, sie hätten mit ihrer Musik das Geheimnis der Welt erfahren und sie würden von nun an durch nichts mehr in Angst und Schrecken versetzt werden können.
Doch was sie dann sahen, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Das Wasser schien sich zu teilen und ein riesiges Ungeheuer, dessen Flügel die Sonne verfinsterten, erhob sich in die Lüfte. Sein Leib erinnerte sie an eine Schlange. Die acht kurzen, kräftigen Beine endeten in je fünf scharfen, spitzen Krallen, die jeweils wenigstens einen halben Meter maßen, und der Kopf ähnelte dem Kopf eines Falken in mindestens hundertfacher Vergrößerung. Beide glaubten, ihr letztes Stündlein habe geschlagen.
Nach einer kurzen Weile nahm Mehru all ihren Mut zusammen und schrie in die Lüfte: „Wer bist du? Und was willst du von uns?“
Mit donnernder Stimme antwortete ihr das Ungeheuer: „Entschuldigt, dass ich mich euch zeige. Normalerweise kann kein Mensch meinen Anblick ertragen, weil die meisten mein gefährliches Aussehen mit meinem Wesen gleichsetzen. Seit Menschengedenken lebe ich nun in diesem See und im Grunde meines Herzens bin ich ein friedlicher Karzol, der in direkter Verwandtschaftslinie von den noch sehr viel größeren und äußerst mächtigen Grophen abstammt. Die Grophe sind die Drachentiere in euren alten Sagen, derweil wir Karzole viele der Fähigkeiten, die die Grophe besaßen, eingebüßt haben, weil wir die Nähe von Menschenwesen gesucht haben. Früher stellten wir über die Musik unsere Kontakte zu den Menschen her. Mit der Zeit aber verlernten diese die Art von Musik, die sie dazu in die Lage versetzt, ihren Seelenfrieden aufrecht zu erhalten, und lediglich einzelne wenige Personen lockten in uns solche Töne hervor, wie ihr sie hier vernommen habt. Es grenzt an ein Wunder, von euch derartig schöne Klänge hören zu dürfen und damit meine eigenen Seelenklänge endlich wieder anstimmen zu können. Ihr müsst wissen, mein Leben ist eng mit dem der Menschen verflochten. Sollten alle aus dieser Gegend wegziehen, muss ich wenige Jahre danach sterben, und niemand wird mehr das Geheimnis der inneren Musik erfahren oder gar verstehen können. Denn die Menschen werden ihren Seelenfrieden nur noch in äußerlichen Dingen zu erstreben suchen, und je mehr sie danach trachten, umso größere Unzufriedenheit werden sie empfinden. Sie werden den Kontakt zu sich und den Mitmenschen verlieren und sich völlig verlassen vorkommen. Gefühle werden absterben, die Menschen werden sich bekriegen und kein Mensch wird einem anderen seine Liebe schenken, einfach aus dem Grund, weil keiner mehr dieses Gefühl kennt. Und ihr wisst, Menschen können ohne Liebe nicht existieren. Ihr allein könnt mich und eure Artgenossen retten. Wir alle müssten sonst zugrunde gehen.“
„Aber“, erwiderte Mehru, „das scheint mir eine äußerst schwierige Aufgabe zu sein und … ich weiß nicht, ob wir dafür geeignet sind.“
„Natürlich braucht ihr viel Mut und Durchhaltevermögen, um die Aufgabe zu lösen. Freilich gehe ich von eurer Bereitschaft aus und das reicht, denn, wie ihr wisst, vermag der Wille so manches Mal Berge zu versetzen. Ich werde euch jederzeit beistehen, solltet ihr den Wunsch dazu verspüren. Ihr müsst mich nur herbeiwünschen und ich werde euch nach meinen Kräften unterstützen. Als Zeichen meines Vertrauens gebe ich euch diese Feder aus meinem Kopfgefieder mit, die die magische Fähigkeit besitzt, denjenigen, der mit einer Hand über sie von unten nach oben streicht, unsichtbar zu machen.“
Bei den letzten Worten hatte er seinen Kopf kräftig geschüttelt und eine kleine Feder segelte ins Boot, derweil das Ungeheuer wieder in den Tiefen des Sees verschwand.
Als nun beide langsam mit dem Boot zum Ufer zurückruderten, kamen ihnen leise Zweifel, ob ihr Erlebnis wahr gewesen wäre, hatten sie doch in ihren Ehejahren manches Mal den gleichen Traum gehabt. Doch der untrügliche Beweis, dass sie nicht geträumt hatten, lag auf dem Boden des Bootes. Mehru hob die Feder schließlich auf und nahm sie an sich. „Amtrok, lass uns schwören, diese Feder niemals – außer in Gefahr oder um gefährliche Situationen zu entschärfen – zu benutzen.“
Müde traten sie in ihr Haus ein. Sie wussten, sie würden am nächsten Tag aufbrechen, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Jedenfalls würden sie heute noch einmal gründlich ausschlafen und danach erst ihren Plan entwickeln, wie sie es schaffen könnten, dass die Menschen wieder ihrer inneren Musik Beachtung schenken würden.


II

Am nächsten Tag waren sie entgegen ihrem Vorhaben recht spät aus dem Haus gekommen. Nein, sie hatten nicht verschlafen, sondern sie waren einfach unschlüssig, was sie tun sollten. Außerdem hatten sie die Aussage des Karzols doch eigentlich gar nicht verstanden, zusammen mit ihm würden die Menschen ebenso zugrunde gehen. Sie hatten während des Frühstücks viel über eine Unmenge an Fragen nachgegrübelt und mussten plötzlich erschreckt feststellen, dass der Mittag bereits angebrochen war.
„Mehru, wir müssen uns beeilen. Wir wissen noch nicht einmal, wie viel Zeit uns überhaupt zur Verfügung steht“, sagte Amtrok zu seiner Frau.
„Du hast recht, lass uns das Allernotwendigste mitnehmen und aufbrechen.“
Beide packten in Windeseile ihre Sachen, verließen ihr Haus und gingen einfach in die Richtung, in die die anderen Bewohner ihres Ortes gezogen waren, dabei darauf hoffend, eventuell noch den einen oder die andere einzuholen.
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis sie Fagol, den alten Dorfvorsteher, von weitem erkannten, der sich mit einem großen Packen auf dem Rücken mühselig über die Landstraße schleppte und sich alle paar Minuten ängstlich umsah.
Als Amtrok und Mehru ihn erreicht hatten, ließ er zu Tode erschreckt sein Bündel fallen und zog blitzschnell aus einer Jackentasche einen Dolch hervor.
„Kommt mir nicht zu nahe!“, schrie er sie an. „Ihr wollt mir noch mein letztes Hab und Gut stehlen! Lasst mich alleine weiterziehen!“
„Na, hier will keiner dir etwas stehlen. Ich denke, du wirst dich über eine Begleitung auf dem Weg freuen. Beruhige dich erst einmal. Bei dir hat doch stets Vernunft und Überlegung vorgeherrscht. Was ist dir widerfahren, wenn du uns begrüßt, als wären wir Räuber?“
„Befändet ihr euch in meiner Haut, ihr würdet genauso jedem anderen misstrauen. Zuerst sind die Dorfbewohner über mich hergefallen, als sie das Geld und den Schmuck bei mir sahen. Sie nahmen mir auch alles Essbare und den Wasserkanister ab. Als ich sie bat, mir wenigstens Essen und Trinken für einen Tag zu lassen, haben sie nur gelacht, mir ins Gesicht gespuckt und mir Hundekot entgegengeworfen. ‚Da, iss und trink, bis du kotzt!‘, sagten sie höhnisch und zogen laut lachend und lärmend weiter. Jetzt habt ihr meine elende Geschichte gehört, zieht weiter und lasst mich in Ruhe sterben, denn ich merke, ich möchte ohne mein Heimatdorf nicht weiterleben.“
„Wenn du meinst, wir lassen dich sterben“, hob Amtrok an, „einzig weil du dich heimatlos fühlst, dann irrst du dich gewaltig. Gott würde dich postwendend zurückschicken, zumal du deine Lebensaufgabe nicht erfüllt hast.“
Bei Amtrok hatte sich die Idee entwickelt, Fagol dafür zu gewinnen, den Auftrag gemeinsam mit ihnen auszuführen.
„Nun iss und trink erst einmal etwas mit uns zusammen und danach sehen wir weiter!“ Mit diesen Worten öffnete er sein Bündel, holte einen großen Schinken hervor und schnitt drei gleich dicke Scheiben ab, derweil seine Frau Wasser in einen Becher schenkte, den sie herumreichte.
Man konnte Fagol anmerken, dass er länger nichts gegessen hatte. Es dauerte keine fünf Sekunden und seine Scheibe Schinken war verschlungen. Erst nach der dritten Scheibe und einem großen Stück Brot schien er halbwegs gesättigt. Er lehnte sich zurück und blinzelte Amtrok und seine Frau dankbar an. Aus dem rechten Augenwinkel löste sich eine kleine Träne und rollte auf seine Wange.
„Ihr habt mir mein Leben gerettet. Eigentlich wollte ich mich hier hinlegen und auf den Tod warten. Es fällt mir schwer, allem noch einen Sinn abzugewinnen. Wisst ihr, ich wollte an sich im Ort bleiben, denn ich fürchte mich nicht vor dem Karzol. Jedoch als alle unserem Dorf den Rücken zukehrten, entschied ich mich, ihnen hinterherzugehen, und in Gedanken baute ich mit ihnen ein neues Dorf auf.
Dann dachte ich an das Geheimnis des Karzols, das mir bekannt ist, und mich überkamen Zweifel, ob ich mit den anderen jemals wieder eine Gemeinschaft aufbauen könnte. Bereits seit etlichen Jahren sehe ich, wie die Menschen den Geschehnissen um sie herum einzig Wichtigkeit beimessen, falls sie daraus einen Gewinn ziehen können. Anderes interessierte sie nicht. Bei den Festen im Dorf ging es allein darum, wer es sich leisten konnte, möglichst viel Wein, Essen und Gaukler aufzubieten, sodass alle Dorfbewohner sehen konnten, wie reich der Spender war. Die ausgelassene Fröhlichkeit, das Feiern um des Feierns willen, ja das Hineinfallen in unerwartete Ereignisse, die sich als spontane Festanlässe anboten, alles das gab es nicht mehr. Feste schienen mehr oder weniger straff durchorganisiert mit klaren Abfolgen hinsichtlich ihrer Ausrichtung. Es gab Familien, die das Dorf verlassen haben, weil sie es sich nicht leisten konnten, ein Fest zu finanzieren, was sie den anderen Dorfbewohnern gegenüber nicht einzugestehen vermochten. Ich hatte lange gehofft, dies würde ein vorübergehendes Phänomen sein. Freilich muss ich heute sagen, dass ich mich getäuscht habe.
Letzte Woche war ich seit langem einmal wieder auf dem See mit meinem Ruderboot und merkte, ich konnte keinen Kontakt zum Karzol finden. Ich war nur noch niedergeschlagen. Wie ihr vielleicht selbst erlebt habt, können Karzole menschliche Empfindungen sehr intensiv erfassen, weshalb sie die kleinsten Regungen von uns Menschen wahrzunehmen in der Lage sind. Sie treten zwar Furcht erregend im Äußeren in Erscheinung und besitzen gewaltige Kräfte, jedoch wem sie vertrauen, dem gilt ihre Liebe und Zuwendung. Sie würden sich in jedem Falle für jemanden ihres Vertrauens aufopfern. Wir Menschen kennen so etwas wenn überhaupt nur noch im Rahmen der Familie oder im abstrakten Raum über Heldenerzählungen oder Mythen.
Da nun der Karzol meine Niedergeschlagenheit erspürte, führte ihn das selbst in einen Zustand nicht enden wollender Traurigkeit, die darin uferte, dass er verzweifelt um sich schlug. Der enorme Wellenschlag wühlte den See gehörig auf und dessen Wasser überschwemmten sodann unsere Häuser. Ihr seid ja erst vor kurzem in unser Dorf gezogen und ich war der letzte Vertraute des Karzols. Doch euer Verhalten hat mir euer gutes Herz gezeigt, und nun frage ich euch: Seid ihr gewillt, mit mir zusammen die Dorfgemeinschaft oder wenigsten Einzelne davon zur Rückkehr zu bewegen und unser Wissen über Glück und Vertrautheit in die Welt zu tragen? Selbst wenn Einzelne mich überfallen und gedemütigt haben, sind sie doch ein Stück Heimat für mich und ich denke, sie werden ihre rohen Taten noch bereuen.“
Nun berichteten Amtrok und Mehru Fagol über ihre Begegnung mit dem Karzol auf dem See. Sie wollten der Bitte des Karzols nachkommen, die Menschen wieder an den See zurückzubringen, jedoch wussten sie noch nicht, wie sie das Wissen über die Zusammenhänge zwischen der inneren Musik und dem äußeren Sein dafür nutzen könnten.
„Die Aufgabe erscheint enorm schwierig, allerdings jetzt sind wir zu dritt und sollte, wie es mir heute passiert ist, die Anzahl derjenigen, die das Wissen weiter in die Welt tragen wollen, sich täglich vermehren, werden wir unser Ziel erreichen.“
„Was werden wir als Nächstes tun?“, fragten Amtrok und seine Frau wie aus einem Munde.
„Tja, was wolltet ihr denn tun, bevor ihr mich getroffen hattet?“
„Na ja, wir wollten einfach den anderen hinterhergehen und mit ihnen sprechen.“
„Dann sollten wir unseren Weg so fortsetzen, wie ihr ihn euch vorgenommen habt. Freilich denkt nicht, es wird euch auf Anhieb gelingen, die anderen zu überzeugen.“
„Weißt du, Fagol“, antwortete ihm Mehru, „unser Leben war nie einfach und manchmal waren wir ziemlich verzweifelt, wenn wir nicht mehr wussten, wie wir Brot und Kartoffeln bezahlen sollten, oder wenn wieder einmal ein Vorratskrug zerbrochen war. Jedoch ist es immer irgendwie weitergegangen und nie haben wir aufgegeben. Auch letztens hatten wir alles verloren und haben dennoch ein neues Zuhause in eurem Dorf gefunden.
Du kannst dir allerdings vorstellen, dass wir mit den anderen den Ort verlassen wollten, als kurz nach unserer Ankunft unser Haus, das wir mit viel Mühe hergerichtet hatten, überschwemmt wurde. Wäre mir nicht im Traum der Karzol erschienen – und für mich stellen Träume einen nicht unwichtigen Teil meines Lebens dar –, hätten wir drei uns wohl nicht getroffen.
Ohne diesen Traum wäre ich vielleicht versucht gewesen, das verlockende Angebot anzunehmen, für etwas Gold leichte Arbeiten in Miatr auszuführen. Ich denke dabei an meine Nachbarin Fiha, deren Augen geradezu leuchteten, die mir vorgeschwärmt hatte, wie einfach das Leben doch sein könnte. Man müsste lediglich den Vertrag bei einem Berater unterschreiben, womit man sich sechsmal in der Woche für vier Stunden zu leichten Arbeiten verpflichtete, und man hätte immer zu essen. Ja, man würde sogar ein kleines Vermögen aufbauen können.“
„Ja, ja, Mehru, mir sind diese Berater auch aufgefallen, aber in mein Haus ist keiner gekommen, weil sie wussten, ich würde nie für Gold meine Selbstständigkeit hergeben. Jedoch, nachdem du das erwähnst, verstehe ich die Hektik, mit der die Bewohner aufgebrochen sind. Denn als die Berater mich im letzten Jahr einmal aufgesucht hatten, wollten sie mir die Sache damit schmackhaft machen, indem sie mir sagten, die ersten zehn, die nach Miatr kämen, um diese Arbeit anzunehmen, würden das Doppelte des üblichen Lohns erhalten und bekämen dazu ein eigenes Haus mitsamt Bedienstetem. Wahrscheinlich hat es wieder ähnliche Versprechen gegeben.
Im letzten Jahr trafen sich die Dorfvorsteher unseres Bezirks in Miatr und zufällig begegnete mir in einem Gasthaus Fitr, der früher einmal in unserem Dorf gewohnt hatte und auf die Versprechen der Berater hereingefallen war. Er war zwar als Erster aus unserem Dorf in Miatr angekommen, doch man teilte ihm mit, aus anderen Dörfern wären ebenfalls von den Beratern angeworbene Leute gekommen. Und da habe er nun einmal Pech gehabt, denn er sei der zwölfte, was er aber nirgendwo hatte nachprüfen können.
Die Berater hatten ihn nach Strich und Faden belogen und keines der Versprechen war eingehalten worden. Sie bekamen zwar einigermaßen genug zu essen und zu trinken und man gewährte ihnen ein Dach über dem Kopf, aber die Berater hatten ihnen nicht gesagt, sie müssten jederzeit zur Arbeit zur Verfügung stehen, sodass sie nicht selten mitten in der Nacht geholt wurden, und wer nicht mitmachen wollte, wurde geschlagen und, wenn er sich weiterhin weigerte, in einen Kerker gesperrt. Das hat Fitr nicht lange ausgehalten. Er hat sich davongeschlichen und hält sich seither in Miatr als Fona auf – so heißen die Illegalen, die aus Werkstätten und von Gütern geflüchtet, jedoch durch Vertragsrecht ihren alten Arbeitgebern noch verpflichtet sind. Die Fonas leben im Untergrund und es gibt in den Städten viele Unterstützer, die ihnen Wohnung und Essen bieten.
Allerdings sollten wir uns jetzt auf den Weg machen. Bis zum nächsten Dorf benötigen wir etwa drei Stunden und in vier Stunden ist es dunkel. Da möchte ich mich nicht mehr auf der Straße befinden, denn die hat sich zu der Zeit in einen gefährlichen Aufenthaltsort verwandelt.“


III

Es dämmerte bereits, als sie in Hangstu ankamen. Schon von weitem konnten sie das einladende Licht der Dorfschänke erkennen. Kaum waren sie in den Schankraum getreten, schallte ihnen das sogar für Schänken überlaute Gelärme der Leute entgegen, dessen Ursache sie bald ergründeten. An einem Tisch saßen zwei Berater aus Miatr, die mit großen Versprechen Leute anwarben für, wie sie sagten, leichte Arbeit und gutes Geld auf den Höfen oder in den Werkstätten ihrer Herren. Man würde von allen, die mit ihrer Unterschrift oder einem Fingerabdruck in Stempelfarbe den Vertrag unterzeichneten, zehn Glückliche auslosen, die dann als Auserwählte eine eigene Werkstatt ihrer Wahl samt Bedienstetem für den Haushalt bekommen würden. Selbstverständlich wollten viele sofort unterschreiben und meinten wohl dabei, wenn sie unter den ersten zehn Unterzeichnern wären, würden sie garantiert ihre eigene Werkstatt erhalten. Acht Bauern hatten den Vertrag bereits unterschrieben, da bahnte sich ein etwa dreißigjähriger Mann durch die Menge seinen Weg und baute sich mit übereinandergeschlagenen Armen neben den Beratern auf. Sein stechender Blick war zornig auf die Menge gerichtet, seine Haare standen wild durcheinander, überhaupt wirkte seine Gestalt durch seine Größe, seine wuchtigen Schultern und sein gesamtes Auftreten einschüchternd auf die anderen.
5 Sterne
Spannendes und emfehlenswertes Buch - 23.08.2023
Sonia Vega Ledo

Der Autor schafft es sofort durch bis hin zum Kulminationspunkt gesteigerte Spannung den Leser in den Bann zu ziehen. Dabei fasziniert er die Leserschaft mit einzelnen überraschenden Wendungen und bezieht in seine Erzählung eine schöne, idealisierte Liebesgeschichte mit ein. Auf jeden Fall handelt es sich bei diesem Roman um ein emfehlenswertes Buch, das mir selbst beim Lesen viel Freude und einen ungehinderten Lesegenuss bereitete.Sonia L., Berlin

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