Auf der anderen Seite

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Ayla Hempel


EUR 26,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 302
ISBN: 978-3-99130-404-3
Erscheinungsdatum: 28.02.2024
Reva wächst mit ihren beiden Schwestern und den Eltern in der Türkei auf. Was zunächst wie ein glückliches Leben in einer liebevollen Familie scheint, gerät bald ins Wanken. Der Vater kommt immer später nach Hause und keiner weiß, wo er ist.
Als Reva sechs Jahre alt war und die ihr bis zu den Knien reichenden Wiesen durchquerte, mit den Händen die leicht piksende Oberfläche berührte, nicht ahnend, was ihr die Welt alles noch zeigen würde, wurde sie von drei älteren Mädchen angesprochen.
Sie fragten sie nach ihrem Alter und wann sie geboren sei. Sie knieten im Kreis im Gras. Der Wind zerzauste ihre Haare. Die Farben dieser noch warmen Sommerwiese breiteten sich wie ein Teppich langsam über alles aus. Das Licht der Sonne verabschiedete sich. Das flache Land reichte so weit, dass Reva im Gras sitzend dachte, die ganze Welt bestünde nur aus diesem Ort. Um sich zu vergewissern, stand sie immer wieder auf und betrachtete die flachen Hügel in der Ferne, die diese kleine Stadt zu umarmen schienen. In den vorgelagerten goldgelben Feldern mit Weizen, der bis zu einem Meter hoch war, konnte Reva sich gut verstecken. Die Borsten kratzten jedoch und kurz nach dem Verstecken musste sie unweigerlich aufstehen, sich zeigen und nicht selten blieben die Grannen an ihrer weichen Kleidung kleben, bis sie wieder zu Hause war. Als die drei Mädchen sie ansprachen, hatte sie sich gerade aus jenen Weizenfeldern befreit und war auf dem Weg dorthin.
„Ben altı yaşındayım ve yirmi üç Temmuz bindokuzyüzseksenikide dünyaya geldim.“ (“Ich bin sechs Jahre alt und wurde am dreiundzwanzigsten Juli neunzehnhundertzweiundachtzig geboren.“)
Die Mädchen fingen zu lachen an. Sie machten sich lustig. Sie verstand es nicht. Warum lachten sie? Was war an ihrem Geburtstag so lustig?
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und fühlte, dass ihr ziemlich kühl wurde. Sie trug einen Jeansrock, eine sportliche graue Jacke mit Streifen an den Ärmeln in Blau und Grün, Sportschuhe von adidas mit Klettverschluss. Sie ließ die Mädchen stehen und rannte nach Hause.
Sie rannte über die Wiesen, deren Gräser ihr bis zu den Knien reichten, überquerte die goldgelben Weizenfelder, lief vorsichtig zwischen dem strahlenden Gelb der Sonnenblumen hindurch, die sie um das Doppelte überragten. Sie ging gerade zwischen den Sträuchern mit den noch grünen Tomaten durch, als sie abrupt stehen bleiben musste. Die Tomatensträucher waren ihre letzte Etappe vor dem Spielplatz. Doch ihr Herz pochte. Sie hatte Angst.



TEIL I


Das Gefühl, mit geschlossenen Augen das Licht zu sehen. In dieser Zwischenwelt zu sein. Wach und doch noch im Schlaf. Die Augen bewegten sich merklich unter den Augenlidern. Die Wimpern folgten. Die Sonne schimmerte durch die hellen Vorhänge. Reva bewegte sich unmerklich. Ihre langen braunen Haare lagen auf dem Kissen verteilt. Noch war sie nicht ganz wach. Sie drehte sich zur Seite. Ein Auge leicht geöffnet, freute sie sich, dass sie heute nicht in die Schule musste.
Nach und nach erreichten sie die Geräusche. Sie erkannte sie, konnte sie aber nicht dem Wochentag und schon gar nicht der Uhrzeit zuordnen. Sie drehte sich noch einmal und betrachtete die vielen Stofftiere, die sich mit ihr das Bett teilten. Zur Seite schauend hörte sie die leisen Atemzüge ihrer Schwester Leyla über ihr und sah förmlich die dazu passenden, geschlossenen Augenlider. Reva lag auf der unteren Matratze des Etagenbettes. Das Bett über ihr gehörte Leyla. Da waren wieder diese Geräusche. Diese Stimme. Das konnte doch nicht sein? Sie hörte genauer hin. Nun waren beide ihrer Augen geöffnet, sie lag auf dem Rücken, starrte an die Decke des Bettes, ihr Lieblingsstofftier hielt sie mittig auf der Brust mit beiden Händen fest. Sie konzentrierte sich. Die Stimme konnte nicht da sein. Es war zu früh und der falsche Wochentag. Ein Samstag. Kurz überlegte sie, ihre Schwester aufzuwecken. Doch sie sollte besser ausschlafen. Sie kannte niemanden, die so gern schlief wie ihre Schwester.
Doch. Eindeutig. Die Stimme war seine Stimme. Die Geräusche, die sie kannte, aber nicht der Uhrzeit zuordnen konnte, wurden von ihrer Mutter erzeugt. Reva war eine Frühaufsteherin. Üblicherweise war der frühe Morgen sehr leise. Reva schlich sich dann meist aus dem Bett, nahm ihr Kuscheltier in die Hand und lief in Richtung Wohnzimmer. Schon des Öfteren hatte sie ihre Mutter bei ihrem morgendlichen Ritual beobachten können, wenn sie rechtzeitig oder früh genug aufgestanden war. Die Wohnzimmertür war stets einen Spalt geöffnet.
Ihre Mutter saß auf dem Sofa, an die Lehne gestützt, ihre Beine zu sich gezogen, um ihren Kopf lag ein weißes, langes Tuch, das nicht gebunden war, sondern leicht, ja, zart um die Schultern fiel.
Je nach Jahreszeit war es draußen mal dunkel, mal lag das Wohnzimmer in der Morgenröte oder im vollen Sonnenschein. Wenn die Sonne schien, wurde ihre Mutter durch das Fenster hinter ihr so angestrahlt, als wären bewusst dafür Leuchten angebracht worden. Mit ihren blonden, schulterlangen Haaren wirkte sie auf Reva wie ein Engel. Jemand aus einer anderen Welt.
Stets las sie in demselben Buch, mal die Lippen mit bewegend, mal stumm und regungslos. Lange hatte Reva nicht gewusst, um welches Buch es sich gehandelt und warum ihre Mutter es nie geschafft hatte, es zu Ende zu lesen. Doch eines Morgens hatte sie sich zu ihr hingeschlichen, sich auf dem Sofa neben sie gesetzt, ihren Körper an sie geneigt. Ihre Mutter hatte ihren Arm um sie gelegt und weitergelesen.
„Was liest du da für ein Buch?“
„Ich lese den Koran.“
Reva wusste, dass das ein heiliges Buch war. Sie wusste, dass man es nie, niemals tiefer als die eigene Hüfthöhe, geschweige denn auf den Boden legen durfte. Sie hatte auch gesehen, dass eine Seite des Buches mit Buchstaben versehen war, wie sie sie in der Schule seit Kurzem lernte, und dass eine Seite geschwungene Linien aufwies.
„Das ist Arabisch.“
„Kannst du Arabisch sprechen?“, fragte Reva voller Bewunderung.
„Nein, ich lese die Gebete auf dieser Seite hier.“
„Warum liest du jeden Tag darin?“
„Weil ich mich dann Allah näher fühle.“
Reva wusste nicht, was oder wer Allah war. Sie wusste und hörte nur, dass jeder von ihm oder ihr sprach.
„Wenn Allah es erlaubt …“
„Möge Allah es erleichtern …“
„Möge Allah uns beschützen …“
„Mit Allahs Hilfe …“
Doch dieser Morgen war offensichtlich anders als die üblichen Morgen. Mit dem langsamen Wachwerden durchdrangen ihre Gedanken die gesprochenen Worte der letzten Tage und Reva begann sich zu erinnern, was heute eigentlich für ein Tag war.
Sie stand auf und zog sich ihre Hausschuhe an, weil ihre Mutter sie sonst wieder zurück ins Bett geschickt hätte.
„Du bekommst kalte Füße!“
Doch die Stimme war das Verwunderlichste, das Sonderbarste überhaupt. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie seine Stimme so früh am Morgen an einem Samstag schon einmal gehört hatte.
Die Stimme ihres Vaters. Tief, leise, ja, sanft.
Ihre Mutter bereits in der Küche. Andauernd wurden Schranktüren geöffnet, geschlossen, Schubladen ausgezogen und wieder verschlossen. Sie schien etwas zuzubereiten.
Doch ihr Vater war an den meisten Wochenenden nicht zu Hause. Niemand wusste, wo er war. Auch wochentags kam er erst sehr spät, nachts, wenn die Kinder schliefen, und wachte erst auf, wenn sie in der Schule waren, und ging weg, bevor sie von der Schule wieder nach Hause kamen. Reva und ihre Schwester hatten sich so sehr an diesen Ablauf gewöhnt, dass es sie nicht störte. Vermissen kann man nur etwas, was man kennt. Dennoch freuten sie sich immer und immer wieder, wenn er doch früher nach Hause kam und sie noch nicht schliefen.
Die Digitaluhr zeigte 06:52 Uhr.
Reva machte die Tür des Kinderzimmers auf, hielt ihr Kuscheltier weiterhin mit beiden Händen fest und lief in Richtung Küche, woher sie vermutete, dass die Geräusche stammten. Das Licht war eingeschaltet und offensichtlich hatte ihre Mutter alles Notwendige rausgelegt, sodass sie nun mit dem Messer das Gemüse klein schnitt. Ihr Vater saß am Küchentisch.

„Baba?“
Ihr Vater schaute sie lächelnd an.
„Günaydın kızım.“ („Guten Morgen, meine Tochter.“)
Reva schaute verwundert und setzte sich an den Küchentisch. Ihre Mutter drehte sich kurz zu ihr um, nickte und schnitt weiter.
„Wann werden sie ankommen?“
„Vermutlich heute Nachmittag. Aber das weiß man ja nie so genau.“
„Hm.“
„Hast du gut geschlafen?“, fragte ihr Vater sie.


Ihre Mutter knetete nun den vorbereiteten Teig. Dieser war noch zu feucht, ihre Finger bereits voll davon.
„Reva, gib mir mal ein bisschen mehr Mehl.“
Reva reichte ihrer Mutter die Packung.
„Du musst es hineinschütten, meine Hände sind zu klebrig. Das reicht. Danke.“
Gönül knetete den Teig, formte ihn zu einem großen Ball, knetete erneut. Mechanische, routinierte Bewegungen.
Ihre Mutter hatte das Essen bereits seit einer Woche geplant. Sie hatte in verschiedenen Supermärkten, auf dem Basar, beim Metzger eingekauft, eine Liste der Speisen und die Reihenfolge der Zubereitung erstellt. Einiges war bereits seit achtundvierzig Stunden in Vorbereitung. Den Anfang machten die Nachspeisen. Sie benötigten mehr Ruhe und so manches schmeckte besser, wenn etwas Zeit vergangen war, so hatte sie es Reva erklärt.
Kabak tatlısı, eine Süßspeise aus Kürbis, sollte zwei bis drei Tage durchziehen. Auch Tavuk göğsü – Hähnchenbrust – war ein beliebtes Dessert, selbst wenn der Name das nicht vermuten ließ. Russischer Salat durfte genauso wenig fehlen wie Kısır und natürlich der Klassiker, Grüner Salat. Ihren berühmten Reis, den sie nur mit selbst gemachter Hühnerbrühe aufkochte, wurde sehnsüchtig und selbstverständlich erwartet. Die Lammkoteletts hatte sie über Nacht in einer Würzmarinade ziehen lassen. Die Bezeichnung des Marinierens lautet im Türkischen Terbiye – Erziehung, im übertragenen Sinne.
Das Hähnchen aus der Brühe wurde zusammen mit Kartoffeln in einer speziellen Sauce à la Gönül in den Backofen gegeben. Hausgemachte Brötchen und Brote waren selbstverständlich. Dafür rollte sie aus der großen Teigmasse kleine Kugeln, die sie erneut zum Ausruhen aufs Backblech legte. Nach Möglichkeit bereitete Gönül nahezu alles selbst zu. Tomaten- und Paprikamark kaufte sie selten ein. Joghurt nur dann, wenn sie selbst einen zubereiten wollte.
Seit Kurzem stellte sie auch den Käse selbst her. Der sollte morgen zum Frühstück serviert werden sowie Pfannkuchen für die Kinder. Gedankenverloren, so wirkte ihre Mutter auf Reva, wenn sie die nun kleinen Teigbällchen rollte und zur Seite stellte.
Schon bald hörten sie die Geräusche eines ankommenden Wagens. Früher als erwartet.
Ein weißer Mercedes Benz/8, Baujahr 1970, bis oben hin beladen. Das konnte Reva aus dem Fenster schauend erkennen. Die Verwandten aus Deutschland kamen immer mit dem Auto.


Türkische Gastarbeiterfamilien verreisten nicht in unbekannte Länder oder Kontinente.
Türkische Gastarbeiterfamilien, insbesondere die Familie Umut, verreisten nicht mit dem Flugzeug. Die Gründe waren simpel, die Ausführung beschwerlich, die Dauer unendlich. Die Gepäckbeschränkungen, teure Flugpreise, die Anzahl der Familienmitglieder. Die Geschenke. Mindestens zehn, besser zwanzig Packungen Nussknackerschokolade aus dem Aldi und weitere Süßigkeiten, Strumpfhosen und Strümpfe aus dem Kaufhof und Woolworth, Rindwurst, mehrere Packungen, Aufschnitte, die in der Türkei viel teurer waren, Gläser, Vasen, Dekorationselemente und unzählige weitere Kleinigkeiten.

Türkische Gastarbeiterfamilien besuchten ausschließlich Freunde und Verwandte zu Hause.
In der Heimat.
Man fuhr mit dem Auto, in diesem Fall ein weißer geräumiger Mercedes, zu sechst die zweitausend Kilometer bis zur türkischen Grenze und dann weitere Hunderte von Kilometern, je nachdem, welche Stadt oder welches Dorf das Ziel war. Über Österreich, das ehemalige Jugoslawien, Slowenien, Kroatien, Serbien und Bulgarien oder Mazedonien und Griechenland, an dessen Grenze man stundenlang warten musste. Egal, woher man kam, Deutschland, Frankreich, Niederlande oder auch Belgien, egal, wohin man wollte, Konya, Mersin, Trabzon oder Van. Istanbul war das Nadelöhr.
Weitere vier Stunden verschlang Istanbul, das Tor zwischen Orient und Okzident, bis sich die Reisenden aus seinen Fängen befreien konnten.
Bis ihre Großmutter Zeliha, ihre Tante Imran, ihr Onkel Orhan mit den beiden Kindern Süreyya und Orhan sowie ihre älteste Schwester Reyhan vor dem Haus parken konnten, aus dessen Fenster Reva hinausschaute, waren gut drei Tage der Anreise vergangen.

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