Anders als du denkst

Anders als du denkst

Clara Delissen


EUR 16,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 56
ISBN: 978-3-99146-416-7
Erscheinungsdatum: 28.12.2023
Ein anonymer Anrufer sorgt dafür, dass zwei unterschiedliche Mädchen ein gemeinsames Schicksal teilen. Ob mit einer alleinerziehenden Mutter die Brüder aufziehen oder in einem wohlbehüteten Elternhaus nie zu genügen, das Grauen bleibt für beide gleich.
Hanna

„Ich gehe!“
Hanna muss zur Tür hinaus sein, bevor ihre Eltern nachfragen können, wohin sie um diese Uhrzeit noch geht. Sie hätte ihnen nie die Wahrheit sagen können. Ihre Eltern mögen es nicht, wenn sie unter der Woche zu später Stunde draußen ist. Noch weniger einverstanden wären sie, wenn sie wüssten, mit wem sie sich gerade trifft. Es ist heute einfacher, als wenn sie sich sonst rausgeschlichen hat. Ihre Eltern sitzen zur Abwechslung draußen im Garten. Nicht wie üblicherweise in ihrem Arbeitszimmer neben dem Eingang. Es ist ein seltener Anblick für Hanna, ihre Eltern mal nicht arbeiten zu sehen, sondern Arm in Arm auf der Hängebank schaukelnd, ganz vertraut miteinander. Sie hört gerade noch, wie ihre Mutter ihr nachruft: „Wohin um diese Zeit?“, doch Hanna ist schon draußen. Sie weiß, es wird Ärger geben, wenn sie nach Hause kommt. Doch das ist ihr egal, er ist es ihr wert.
Obwohl es noch August ist, ist es bereits kälter geworden um diese Uhrzeit. Ab und zu streift eine kühle Brise ihre Backe, ansonsten ist die Nacht ruhig. Würde sie darauf achten, könnte sie die Grillen hören und in weiter Ferne würde sie eine Eule wahrnehmen, doch ihre Gedanken sind ganz wo anders.
Sie mag ihn. Sehr. Das ist das Einzige, worüber sie sich im Moment noch im Klaren ist. Doch wie soll das alles funktionieren? Ihre Eltern würden ihn nicht einmal kennenlernen wollen und sie selbst ist sich auch nicht sicher, was sie davon halten soll. Er ist ein Moslem, mit Fasten, Beten und so und sie eine Christin, zur Kommunion und Firmung gegangen, weil es sich halt so gehört. Ihr Bauchgefühl hat sie innerlich von Anfang an davon abgehalten, doch irgendetwas in ihr sehnt sich nach ihm. Konnte es zwischen ihnen vielleicht doch funktionieren? Sie weiß es nicht, doch wäre es nicht ein Fehler, es nicht wenigstens zu versuchen?
Es ist naiv von ihr, was sie macht, das weiß sie. Ihr ist auch nicht klar, wieso sie sich jetzt mit ihm trifft. Es kann kein gutes Ende nehmen. Doch sie muss ihn sehen.
Das kann nicht sein, was will die hier?, denkt sie sich, denn sie sieht in weiter Ferne Fatime. Ihre langen, dunklen, gelockten Haare bedecken von hinten beinahe ihren ganzen Rücken, wobei das auch nicht schwer ist, bei ihrer kleinen, zerbrechlichen Statur. Fatime sitzt auf ihrem Lieblingsplatz. Ein Wunder, dass sie nicht drüben bei den Kiffern sitzt. Würde zu ihr passen.
Hanna ist nicht in der Stimmung, Fatime ihren üblichen Platz zu überlassen und sich selber einen anderen zu suchen. Fatime hatte heute in der Schule doch den ganzen Tag gefehlt. Wieso ist sie denn jetzt hier draußen anstatt zu Hause? Hanna hat Fatimes regelmäßiges Fehlen in der Schule wegen irgendeinem Krankheitsgrund noch nie ernst nehmen können. Fatime fehlt es an Disziplin, Verantwortungsbewusstsein, sowie an guter Erziehung.
„Oh sieh an, wohl doch nicht so krank, wie du immer tust?“, stichelt sie Fatime an. Als Fatime jedoch nicht auf Hanna reagiert, fährt sie lauter fort: „Du könntest genauso gut nicht ins Gymnasium gehen, so oft wie du fehlst und du eh bei jedem Test schummelst!“ Fatime zuckt unmerklich zusammen, aber Hanna herrscht sie weiter an: „Dein muslimischer Mann wird dich später eh nie arbeiten lassen, wieso machst du dir überhaupt die Mühe? … Es wundert mich, dass du nicht längst durchgefallen bist.“
Kraftlos hebt Fatime ihren Kopf. Nun sieht Hanna, wieso Fatime nicht geantwortet hat. Ihre sonst so gebräunte Haut ist blass, die Ringe unter ihren Augen außergewöhnlich groß und ihr Gesicht vom Heulen verquollen und mit Tränen übersät. Ihre braunen Kulleraugen sahen fast gruselig aus.



Fatime

Hannas Anschuldigungen prasseln wie faustgroße Hagelkörner auf sie ein. Hanna war der letzte Mensch, dem sie heute noch hatte begegnen wollen. Sie und Hanna hatten nie viel miteinander zu tun gehabt. Obwohl sie seit fast 5 Jahren zusammen in die Schule gehen, hatten sie nie mehr als 2 Sätze miteinander ausgetauscht. So war es auch klar, dass Hanna gar nicht wissen kann, wieso sie so viel fehlt. Abgesehen davon, dass ihre Mutter seit dem frühen Tod ihres Vaters total überfordert ist, Tag und Nacht arbeitet, sie mit ihren zwei kleinen Brüdern eher von ihren Großeltern aufgezogen werden als von ihrer Mutter, weiß sie auch nichts über ihre Migräne. Jeden Morgen wacht sie auf, mit stechenden Kopfschmerzen. Mittags hat sie Kopfschmerzen. Abends hat sie Kopfschmerzen. Manchmal so stark, dass sie nicht einschlafen kann. Manchmal so stark, dass sie sich übergeben muss. Jeden Tag findet eine Diskussion in ihrem Kopf statt, soll ich heute in die Schule? … Bleibe ich zu Hause? … Vielleicht werden die Schmerzen ja weniger? … Da sie niemandem außer ihrer besten Freundin Edona von ihren Kopfschmerzen erzählt, ist auch klar, wieso niemand ihre Absenzen in der Schule nachvollziehen kann und sie alle dafür verurteilen.
„Was verstehst du schon von meinem Leben, Hanna?“, ertönt Fatimes belegte Stimme. „Du hast doch alles. Gute Noten, ein großes Haus, Freunde, Eltern, die sich um dich kümmern, was interessiert es dich, ob ich in der Schule bin oder nicht? – Normalerweise interessierst du dich auch für niemanden anderen außer für dich selbst.“ Fatime lässt sich nicht bremsen. „Hast du dich jemals dafür interessiert, wieso ich fehle? Ach nein, du weißt doch alles. Du Hanna, die perfekte Schülerin. Immer ruhig, fehlt nie, macht im Unterricht mit. Was weißt DU schon nicht?“ Fatimes Stimme bricht fast ab. Sie muss sich zusammenreißen. Das Letzte, was ihr noch fehlt, ist vor Hanna zu loszuheulen. Sie hat noch nie vor jemandem geheult und wollte heute auch nicht damit anfangen.
Fatime merkt nicht, dass nun Hanna Tränen in den Augen hat. Fatime giftet sie weiter an: „Hätte ich so ein zu Hause wie du, hätte ich locker bessere Noten als du.“
Hanna schlägt zu. Fatime fällt rückwärts von der Schaukel. Die Ohrfeige hat gesessen. Während Fatime mit ihrer linken Hand noch ihre Wange hält, rappelt sie sich bereits wieder auf und stürzt sich auf Hanna. So etwas hat sie sich noch nie gefallen lassen. Mit je einer Hand packt sie ein Handgelenk von Hanna und obwohl sie kleiner und definitiv nicht so sportlich ist, gelingt es ihr, Hanna auf den Boden zu drücken und auf ihr zu sitzen. Fatime hatte in ihrem ganzen Leben noch nie jemanden geschlagen. Das hatte sie sich bereits als Kind geschworen, bei jedem traumatischen Erlebnis, das sie erlebt hatte, wenn jemand geschlagen wurde, hatte sie sich ein weiteres Mal mit roter Schrift ins Gedächtnis geschrieben, ich werde nie jemanden schlagen.
In diesem Moment, als sie auf Hanna sitzt, kommen all die Erinnerungen zurück, von denen Fatime geglaubt hatte, sie hätte sie schon lange vergessen. Ihr ganzer Körper beginnt heftig zu zittern. Beinahe verliert sie ihr Gleichgewicht.
Beruhige dich, Fatime, sie ist nicht dein Feind! Die Stimme in ihrem Kopf hatte ihr schon oft geholfen, sich zu beruhigen. Die Stimme, woher sie auch kam, ist ihr bereits so vertraut, dass sie beinahe vergisst, dass sie auf Hanna sitzt. Doch nur beinahe. Es funktioniert nicht. Weiter hebt und senkt sich ihr Brustkorb und ihre Griffe um Hannas Handgelenke werden noch fester. Und wieder hört sie die Stimme: Beruhige dich Fatime, sie ist nicht dein Feind! Doch auch dieses Mal dringt die Stimme nicht bis in ihr Bewusstsein durch. Sie hört zwar die Stimme, doch die Wörter ergeben für sie keine Bedeutung. Sie weiß, sie sollte sich beruhigen. Sie weiß, was diese Stimme bedeutet, und sie weiß, wenn sie es jetzt nicht schafft, sich zu beruhigen, würde sie ihre allerheiligste Regel brechen.
Langsam löst sich ihr kleiner Finger aus dem verkrampften Griff um Hannas Handgelenk. Nach und nach lösen sich auch die anderen Finger, bis sie schließlich langsam wieder jeden ihrer Finger spürt. Doch was war das, wieso sind ihre Finger so warm und so feucht? Sie will nicht runter schauen. Sie ahnt, was sie dort erwartet. Der Geruch von Blei liegt in der Luft. Das Einzige, was ihr jetzt hilft, ist tief durchatmen. 1 … 2 … 3 … 4 … 5 … Mit dem 6. Atemzug öffnet sie ihre Augen. Hannas Blick bohrt sich bis in ihr Bewusstsein durch. Diesen Anblick wird sie nie wieder vergessen. Hannas stahlblaue Augen, vor Angst aufgerissen und ihr Mund vom Schmerz verzerrt. Fatime muss sich zusammenreißen. Sie wird Hanna heute nicht schlagen. „Fatime, was soll das? Was machst du da? Geh sofort runter von ihr!“ Sie kennt die Stimme. Endlich, endlich eine vertraute Stimme. Sofort löst sie auch ihre linke Hand und steigt vorsichtig von Hanna runter.



Hanna

Sie war aufgeregt. Auf den Tag heute hatte sie den ganzen Sommer lang hingearbeitet. So lange ist es nun her, seit sie das letzte Mal vor Publikum auf dem Hartplatz stand. Sie liebt den Platz, dort ist einer der wenigen Orte, an dem sie sich wirklich wohl fühlt. Hier kann sie ungestört sich selbst sein.
Es war für diese Jahreszeit ein immer noch recht warmer Tag, also würde es anstrengend werden. Anstrengend an sich ist nicht hinderlich für einen Erfolg heute. Es würde viel mehr darauf ankommen, wie, ob, wer und wie viele Zuschauer heute da sein würden. Je mehr Zuschauer, desto nervöser wurde sie und hatte Angst zu versagen.
Bereits auf dem Weg zu den Kabinen klärten sich die Frage. Es war eine Unmenge von Leuten da. Wie nicht anders zu erwarten, so ziemlich alle aus ihrem Verein. Dazu gehört ihr bester Freund Leon mit seinen Freunden. Melanie mit ihrer Clique und alle anderen, Trainer, Spieler und Coaches so wie ihre dazugehörigen Freunde und Verwandten. Offensichtlich war das Turnier heute noch größer als sie es sich vorgestellt hatte.
In der Kabine begegnete sie dann bereits Melanie. Sie hatte gehofft, erst später auf sie zu treffen, doch das sollte wohl nicht sein. Während Melanie die Kabine verließ und sich Hanna gerade ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz band, klingelte ihr Telefon. Ihr Bauch zog sich augenblicklich zusammen. Bitte nicht jetzt, nicht heute. Niemand rief sie je an, außer diese eine Nummer. Sie befürchtete, was dort stehen würde, wer anrief und sie hasste es, diesen Namen zu lesen. „Anonym“. Wer hatte so einen Müll erfunden? Totaler Quatsch. Man sollte zu seinen Anrufen stehen. Mit einem mulmigen Bauchgefühl blickte sie auf ihr Handy, und natürlich hatte sie recht gehabt. „Anonym“ stand auf ihrem Display.
„Hallo?“ ihre Stimme zitterte ein wenig, wie immer bei diesen Anrufen. Und da war sie. Seine Stimme, extrem tief, mit einem leichten Kratzen. Sie klang schon fast so, als ob er sie extra verstellen würde. Es war immer die gleiche Stimme, so wie er auch jedes Mal das gleiche Hässliche zu ihr sagte.
Diese Anrufe beunruhigten sie. Sie hatte einen Belästiger, aber mit wem sollte sie darüber sprechen? Wem konnte sie sich so anvertrauen? In ihrem Leben dreht sich doch alles nur um Leistung und darum, den Schein zu wahren. Also trocknete sie, wie es sich für sie gehörte, ihre Tränen mit ihrem Schweißband, setzte ein Lächeln auf und machte sich auf die Suche nach Leon.
Sie ging zum hinteren Platz, auf welchem sie und Leon sich immer zusammen vorbereiteten. Er war mit Ardian schon da. Neben ihnen wärmten sich Fabian und Joel auf. Leon freute sich, sie zu sehen. Sie waren befreundet, seit sie sich erinnern kann. Doch seit er mit seiner Ausbildung angefangen hatte, beschränkte sich ihr Kontakt hauptsächlich auf das Tennistraining. Ihre Eltern waren ebenfalls seit Kindheit befreundet, deshalb hofften sie auch schon lange, dass aus dieser Freundschaft einmal mehr entstehen würde. Doch das würde es nie werden.
Wie immer merkte niemand, dass es ihr nicht gut ging, aber das war ja auch ihr Ziel. Jetzt musste sie sich erstmal aufwärmen, um heute endlich gegen Melanie zu gewinnen.
Doch die Stimme ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte schon immer eine Spur bei ihr hinterlassen. „Ich liebe es, dich in deinem Tennisröckchen spielen zu sehen, das macht mich ganz geil auf dich.“ Dieser Satz wiederholte sich in ihrem Kopf bei jedem Schritt, den sie tat.
Es ging los. Heute war es ihre Chance, ihren Eltern zu zeigen, was sie kann und endlich Melanie besiegen.
In der zweiten Hälfte des Spiels kullerte Hannas erste Träne über die Wange, sie würde es wieder nicht schaffen. Melanie lag nur knapp vorne, doch so unkonzentriert wie Hanna war, würde es nicht reichen.



Fatime

Sie wollte eigentlich gar nicht hier sein, sie hasste den Tennisplatz. Alles reiche, arrogante Schweizer, welche ihre Kinder in einen Sport zwangen, damit sie bei ihren Freunden damit angeben konnten. Mit Ausnahme ihres Cousins, welcher auch der Grund war, weshalb sie heute hier war. Ihre beiden kleinen Brüder wollten ihm unbedingt zuschauen und da ihre Mutter arbeiten war, hatte sie ihren kleinen Brüdern den Gefallen getan, sie mitzunehmen.
Sie liebte ihre kleinen Brüder, keine Frage. Doch sie fühlte sich manchmal mehr als Mutter, als eine Schwester oder Jugendliche. Egal, wo sie hinging, meistens waren ihre Brüder dabei und wenn nicht, waren ihre Gedanken trotzdem bei ihnen. Sie fragte sich, ob es ihnen wohl gut geht und was sie denn gerade machen.
Sie drei saßen an ihrem üblichen Platz, unter dem großen Lindenbaum, gegenüber der Tribüne und dem Restaurant. So weit weg von den Schweizern wie möglich. Edona, ihre beste Freundin, hätte heute eigentlich auch hier sein sollen. Doch sie hatte heute Morgen abgesagt, da ihr Freund ein wichtiges Fußballspiel hatte, bei dem sie dabei sein wollte. Hätte Fatime das früher gewusst, hätte sie ihren Brüdern nicht versprochen, ihrem Cousin heute zuzuschauen. Er würde sowieso gewinnen, er war der Beste, deshalb konnte er es sich auch leisten, Tennis zu spielen. Er hatte ein Sportstipendium bekommen. Man wollte ihn unbedingt fördern.

Gleich würden Melanie und Hanna gegeneinander spielen. Ein Grund mehr, wieso sie am liebsten nicht gekommen wäre. Melanie wird sowieso gewinnen, zumindest hoffte sie das.
Ihr Telefon klingelte. Mit der Erwartung es sei „Nene“, wie sie als Albanerin ihre Mutter liebevoll nannte, blickte sie auf ihr Handy. Doch dort stand nur „Anonym“.
Fatime kannte diese Anrufe. Sie waren jedes Mal das Gleiche. Derselbe Mann wie immer, seine Stimme extrem tief, mit einem leichten Kratzen, es klang schon fast so, als ob er sie extra verstellen würde. Es war immer die gleiche Stimme, so wie er auch jedes Mal das gleiche Hässliche zu ihr sagte.
Sie bekam diese Anrufe nicht oft, doch wenn, dann waren sie gruselig. Der Anrufer wusste, wo sie war und wer sie war. Sie jedoch wusste nichts über ihn. Geh nicht ran, sagte ihr die Stimme im Kopf. Sie wusste, sie sollte darauf hören, doch sie konnte nicht anders. „Fatime, dich mit deinen Brüdern zu sehen, wie gut du sie behandelst, macht mich ganz geil auf dich, wie gut du wohl später auf unsere Kinder Acht gibst?“
Verunsichert betrachtete sie ihr Umfeld genauer. Zu viele Männer waren derzeit am Telefon, um sagen zu können, welcher es war. War es einer ihrer Landsmänner? Oder würde auch ein Schweizer so etwas tun?
Das Spiel von Melanie und Hanna war mittlerweile fertig. Wie geahnt hatte Melanie gewonnen und Hanna lief, wie ebenfalls erwartet, schnellstmöglich zu den Kabinen. Fatime konnte nur ahnen, dass Hanna am Flennen war, so wie sie es immer tat. Von hier oben, unter dem Baum konnte sie so weit nicht sehen. Vermutlich fing Hanna erst an, wenn sie in den Garderoben war, wo sie niemand mehr sehen konnte. So wie sie auch in der Schule auf die Toilette ging, wenn sie eine schlechte Note hatte. Vermutlich ebenfalls, um nicht vor der Klasse zu flennen. Fatime konnte das nicht nachvollziehen. Wieso fing Hanna wegen allem an zu heulen? Die Welt geht von einem verlorenen Spiel nicht unter und ihre Zukunft hängt auch nicht davon ab. Für eine Tenniskarriere war es sowieso zu spät und in der Schule brachte sie ja mehr oder weniger hervorragende Leistungen.
Während sie auf ihren Cousin wartete, traf sie auf seinen Trainer. Sein Trainer war, wie auch sie selbst, aus dem Balkan. Im Vergleich zu ihr jedoch war er noch nicht so lange hier und sprach dementsprechend auch noch nicht so gut Deutsch. Leider hatte sie selbst schon miterlebt, wie er dafür belächelt wurde. Wenn er eine Ansprache hielt oder seine Spieler anfeuerte, hatte sie schon das eine oder andere Mal einen doofen Spruch gehört. Manchmal waren sie schlimmer, manchmal weniger. Sie gingen von: „Süß wie sein Deutsch klingt“, bis zu „Er soll lieber wieder in sein Land zurück, wo man seine Sprache spricht“. Solche Aussagen verletzten sogar sie. Auch wenn sie nicht direkt an sie gingen, erinnerten die Sprüche sie daran, was sie schon alles gehört hatte.
Nachdem sie sich ein wenig mit dem Trainer unterhalten hatte, kam auch schon ihr Cousin aus der Garderobe.


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