Aber gut genug

Aber gut genug

Marie Rosenöl


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 96
ISBN: 978-3-99107-632-2
Erscheinungsdatum: 26.05.2021
Ist es möglich, als sensibler Mensch in dieser von Konkurrenz geprägten Welt durchs Leben zu gehen, ohne dabei seine Verletzlichkeit und Empathie zu verlieren? Marie Rosenöl sucht in 42 Episoden Antworten auf diese Frage - mit schonungsloser Ehrlichkeit.
Schonungslos ehrlich

„Und es kam die Zeit, wo das Risiko,
fest verschlossen als Knospe zu verharren,
mit mehr Schmerz behaftet war,
als das Risiko, das einzugehen war,
um zu erblühen.“
Anaïs Nin1


Wind in den Blättern, die Äste der Bäume wiegen sich hin und her. Rosenblätter werden von den Blüten verweht, gelb, rosa, rot – wunderschön. Ich werde gebeutelt, durchgeblasen und dazwischen ist Ruhe, alles ist still.
Ich sitze im Gras und beginne zu schreiben. Worte werden zu Sätzen, Sätze zu Geschichten.
Magst du Geschichten? Dann hör zu. Ich habe momentan eine Auszeit, mache ein Sabbatjahr, das heißt ein Jahr nachdenken, in mich gehen, versuchen rauszufinden, wer ich in der Tiefe meiner Seele bin. Theoretisch weiß ich das. Es heißt ja, ich bin alles, alles ist eins. Nur, das theoretische Wissen hat mich noch nie zufriedengestellt. Ich muss die Dinge nicht nur abstrakt in meinem Kopf wissen, ich muss sie mit allen Sinnen erfahren, spüren, leben.

Um mich herum ist Lavendel, der tut mir so gut, der duftet so herrlich. Der Wind verweht die weißen Blätter Papier, auf denen ich schreibe. Ich muss meine Gedanken handschriftlich zu Papier bringen. Da fließt es, das ist wie Therapie. Wenn man die Situationen aufschreibt, werden sie klarer. Das Erdrückende ist nicht mehr ganz so schwer, man bekommt ein bisschen Abstand und Luft zum Atmen. Sonst hat man manchmal das Gefühl, zu ersticken.

Ich frag mich, was ist jetzt? Jetzt, das ist doch der einzige Moment, den es wirklich gibt im Leben, den wir gestalten können. Ich kann nur im Jetzt handeln, sein, denken und fühlen, alles andere spielt sich im Kopf ab. Das Erinnern an das Vergangene, das sind nur Gedanken, oft verbunden mit Gefühlen, aber nicht mehr beeinflussbar, gestaltbar. Genauso ist es mit der Zukunft, sie spielt sich nur im Kopf ab. Auch sie ist verbunden mit Gefühlen. Sei es Angst, wenn man unbekanntes Terrain betritt oder Freude, wenn man etwas Schönes plant.

Sonne scheint auf meine Haut, das tut so gut, Morgensonne, sie ist zart, warm, da geht mir das Herz auf.
Mit offenem Herzen durch das Leben gehen. Ja, das ist wichtig, man erlebt alles sehr tief, sehr intensiv, das Schöne und das, was Schmerzen bereitet. Verletzlich sein, da kann man alles spüren, die Freude und die Trauer. Verletzlich war ich immer schon und das wollte ich mir auch nicht abtrainieren. Keine Mauern um mein Herz aufbauen. Obwohl, das habe ich auch gemacht, die musste ich dann wieder mühsam abreißen.
Über das Leben, mein Leben werde ich schreiben, keinen Krimi, keine Komödie, keine Tragödie, keinen Roman, kein Sachbuch. Es soll alles aus mir, aus der Tiefe meiner Seele emporkommen, alles darf sich zeigen, so war meine Intention. Alles andere ist nicht essentiell, ist nur Ablenkung, Zeitvertreib. Tief soll es gehen und wahrhaftig soll es sein. Mich an der Essenz orientieren. Den Kern treffen und finden.



In das kalte Wasser springen

Jetzt meldet sich wieder der Zweifel, ein alter Bekannter, den ich sehr gut kenne. Oft schon bin ich ins kalte Wasser gesprungen, ohne viel nachzudenken, zu planen, einfach nur um den Zweifel auszuschalten. Es hat kurzfristig funktioniert, aber dann musste ich im kalten Wasser schwimmen. Es gab manchmal gefährliche Strömungen, mit denen ich umgehen musste.
Willst du ein Beispiel hören?

Ich habe mit vierzehn Jahren beschlossen in eine andere Schule zu gehen, hab es selber entschieden, trotz der Bedenken meiner Eltern und Lehrer. Ich bin ins kalte Wasser gesprungen, weil ich mich in meiner alten Schule nicht sehr wohl fühlte. Es herrschte ein großer Leistungsdruck, man musste funktionieren. Es gab wenig Empathie. Da ich ein sehr sensibles Kind war, konnte ich das nur schwer aushalten und dachte mir, es kann nur besser werden. Ich habe die fünf Jahre in der neuen Schule durchgezogen, obwohl es dort wenig gab, was mich interessierte. Alles war auf Wirtschaft ausgerichtet und das entsprach so gar nicht meinen Talenten, war ich doch voller Kreativität und Fantasie. Mit Zahlen kann ich nichts anfangen. Für mich war das eine Katastrophe. Am Anfang ging es noch, da war alles neu. Mit der Zeit wurde es aber ziemlich mühsam. Jedenfalls wusste ich, nach der Matura mach ich nie wieder etwas, das nur im Geringsten mit Wirtschaft zu tun hat.
Also, was tun?
Zufällig traf ich eine Freundin, die ein Jahr in Paris verbracht hatte. Sie war kurz in Österreich, um ihre Familie zu besuchen und erzählte mir, wie toll es in Frankreich sei. Und ich beschloss, das mach ich auch.
Ich sprang erneut ins kalte Wasser. In Paris dauerte die Autofahrt vom Bahnhof ins Haus meiner Gastfamilie gefühlt eine Ewigkeit, in Wirklichkeit eine Stunde. Ich verstand sehr wenig von dem, was die nette, sehr bemühte Familie von mir wollte, war heillos überfordert mit meinem Schulfranzösisch, hatten wir doch einen Großteil der Zeit damit verbracht, Phrasen aus dem Wirtschaftsleben auswendig zu lernen.
Wenn ich das jetzt alles aufschreibe, muss ich da noch einmal durch, es kommt nochmal hoch, will angesehen und gefühlt werden und erst dann ist es gut, kann gehen.



Hellwach

Es gibt ein paar Punkte, die mich belasten, die mich triggern und immer wieder Thema sind. Punkte, die nicht gelöst, entschieden und klar sind. Da bin ich unsicher, da zieht es in meinem Hals, ich spüre die Unsicherheit, den Zweifel in meinem Körper. Ist es richtig? Passt das?

Das ist ein großes Thema momentan. Meine Antwort für meine beste Freundin, wenn sie in dieser Situation wäre, würde sein, spüre es, fühle es, lass die Unsicherheit da sein, halt das Ziehen im Bauch und Hals, den Druck im Kopf einfach aus, es vergeht von alleine wieder. Frag, was willst du mir sagen?
Die Unsicherheit, der Zweifel, das sind treue Begleiter, ich kenne sie schon so lange. Sie kommen immer mal wieder uneingeladen vorbei. Dahinter steht die Angst, die gefühlt werden will, angenommen werden will. Wenn ich sie nicht spüre, sondern so tu als wäre nichts, kommt sie immer intensiver wieder. Man kann sie nicht loswerden. Man muss sie akzeptieren und das ist gar nicht einfach. Es geht nur, wenn man hellwach ist und sie aushält.

Da gibt es doch dieses Gedicht von Rumi


Das Gasthaus

Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Freude, Depression und Niedertracht –
auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit
kommt als unverhoffter Besucher.

Begrüße und bewirte sie alle!
Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,
die gewaltsam Dein Haus
seiner Möbel entledigt.
Selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll,
vielleicht reinigt er Dich ja
für neue Wonnen.

Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lachend an der Tür
und lade sie zu dir ein.

Sei dankbar für jeden, der kommt,
denn alle sind zu Deiner Führung geschickt worden
aus einer anderen Welt.


Wunderschön und so wahr, ich habe es schon oft gelesen und es mit der Zeit immer besser verstanden. Es hilft mir immer wieder, in die Tiefe zu blicken, Dinge so zu akzeptieren wie sie sind und anzunehmen, was ist.



Trigger

„Oh holy shit“, bin gerade draufgekommen, dass meine Nichte Rita, Fettblocker nimmt. Alarm in meinem Gehirn, das geht gar nicht. Wie soll ich reagieren, soll ich überhaupt reagieren? Dieser übertriebene Schönheitswahn in der heutigen Zeit ist krank. Sie ist wunderschön, so wie sie ist, überhaupt nicht dick. Wie komisch doch wir Menschen sind, fast schon zum Lachen. Wir haben definitiv Götter, die wir verehren, wie eben Schönheit, Jugendlichkeit oder Reichtum.
Immer wieder ist Bewusstseinserweiterung verlangt. Ich weiß ja nicht, ob es nur harmlos ist und sie nach kurzer Zeit selbst erkennt, dass das nichts bringt. Sofort denk ich daran, dass sie auf eine so gefährliche Lösung wie Tabletten zurückgreift, wenn sie ein kleines Problem zu haben glaubt.



Konflikt

Ein altes, immer wiederkehrendes Thema zwischen mir und meinem Partner ist sein Erzfeind Herbert. Also wir sind gerade auf dem Weg in die Sauna, als wir Herbert mit dem Roller bei uns vorbeifahren sehen. Mein Partner beginnt zu schimpfen, was Herbert nicht alles verkehrt macht und wie blöd er nicht ist. Ich kann das so nicht stehenlassen und beginne ihn zu verteidigen. Es eskaliert natürlich und wir schreien uns an.
Ich frage mich, warum wir immer wieder dasselbe Muster leben. Warum schaffe ich es nicht, ihm einfach recht zu geben.
Es gibt zwei Wahrheiten meine und seine, keine absolute. Vielleicht liegt die Lösung im Akzeptieren der Wahrheit des anderen. Das ist wirklich eine Herausforderung, echt schwer.



Seinen Weg finden – Hoffnungsschimmer

Es regnet. Es ist ein satter, intensiver Regen, ein trüber Morgen und doch ist da dieses Gefühl im Bauch, dass es aufwärtsgeht, ein Hoffnungsschimmer liegt in der Luft.
Mein Sohn war gestern noch total am Boden, ging gebückt, hatte eine schwere Last zu tragen. Diese Last ist heute viel leichter geworden. Er sieht das Ganze nicht mehr so schlimm, kann wieder positiv in die Zukunft blicken, hat Möglichkeiten eines Weges entdeckt, die er vorher nicht gesehen hat.
Danke, das tut so gut, raus aus dem Sumpf der Perspektivenlosigkeit. Losgehen, nicht mehr in diesem Nicht-Wissen verhaftet zu bleiben. Ich weiß nicht, was ich tun soll, beruflich, was ich versuche, funktioniert nicht.
Nicht aufgeben, geht dieser Weg nicht weiter, gehe einen anderen.
Das ist überhaupt nicht einfach. Die Tragödie spielt sich im Kopf ab, es sind die Gedanken, die einem das Leben schwermachen. Ich bin nichts wert, krieg nichts auf die Reihe, alle anderen machen es besser und so weiter.

Als junger Mensch, nach der Matura ins Berufsleben zu starten, ist nicht einfach. Es geht nicht ohne Stolpersteine und im Nachhinein sind diese Stolpersteine wichtig, sie lassen dich wachsen, dich in deinem Wesenskern erkennen, wer bin ich, was will ich, was kann ich?
Nach der Schule, was nun?
Komm, du bist wichtig, unendlich wertvoll, du kannst so viel. Das sollten wir in der Schule lernen, damit die Jungen voller Vertrauen losstarten können.
Nicht, das kannst du noch nicht richtig, da hast du noch Probleme, die anderen sind viel besser als du.
„I have a dream“ – eine neue Schule, in der die Kinder Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und Mut entwickeln ohne diesen Druck – wenn du das nicht kannst, fällst du durch, versagst du.

Das könnte ihnen auch gefallen :

Aber gut genug

Claudia Wer

Ästhetik

Buchbewertung:
*Pflichtfelder