54 Tage

54 Tage

Das Sterben meiner Mutter

Jeanne de Bel


EUR 15,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 78
ISBN: 978-3-99131-813-2
Erscheinungsdatum: 23.02.2023
Als dieser jungen Frau, die schreckliche Nachricht erreicht, ihre Mutter habe nicht mehr lange zu leben, ist sie auf diese knappe Zeit nicht vorbereitet. Sie versucht diese Zeit zu nutzen, doch mit ständigen Rückschlägen wird es ein Wettkampf gegen die Zeit.
Vorwort

Anfang sollte das Schreiben dieses Buches ausschließlich der Verarbeitung meiner Trauer dienen. Vielleicht hätte es mir geholfen, wenn ich mehr auf den Tod meiner Mutter vorbereitet gewesen wäre. Vorstellungen, wie die letzten Tage ablaufen könnten und was es alles zu erledigen gibt, hätten mir vielleicht ein bisschen Stress und einige Sorgen genommen. Daher habe ich die Hoffnung, den Menschen da draußen, die sich vielleicht in einer ähnlichen Situation befinden, etwas Klarheit oder Kraft geben zu können. Zudem ist dieses Erlebnis immer noch unfassbar für mich, viele Dinge sind nicht angesprochen worden, teilweise bestehen nur verschiedene Vermutungen im Hinblick auf diese, deswegen finde ich es wichtig, die Geschichte zu erzählen! Damit unsere Familie anonym bleibt, habe ich die Namen der handelnden Personen geändert. Wir sind Geschwister. Die älteste Schwester nenne ich Malin, dann kommt Felix, als nächstes Ronja und die Jüngste bin ich. Genau in dieser Reihenfolge sind wir geboren worden.
Diesen Text haben wir nach dem Tod unserer Mutter in ihren Sachen gefunden:
Das bin ich – Ich bin die, mit der man ganz oft lachen kann. Die manchmal etwas völlig Verrücktes macht, die jemanden umarmt, weil sie denjenigen mag. Die trösten kann, die liebt und geliebt werden will. Die sich auch manchmal wie ein Kind benimmt, die weint, die ihre Lieblings-CD hört und träumt. Die in der Sonne liegt und dem Gras beim Wachsen zusieht. Die gerne im Bett liegt und dem Regen lauscht. Die da ist, wenn man sie braucht, die stark, aber schwach ist. Die fröhlich, aber auch ängstlich ist, die verständnisvoll, aber auch mal bockig ist. Das bin ich.



Unsere Mutter


Ich würde unsere Mutter als sehr liebevoll und großzügig beschreiben. Sie war immer erst für alle anderen da und kam selbst viel zu kurz. Sie war organisiert und doch chaotisch. Die Beziehung zwischen mir und meiner Mutter war sehr innig. Zwei- bis dreimal in der Woche telefonierten wir oder trafen uns. Womit ich im Leben auch zu kämpfen hatte, sie war stets für mich da und half mir weiter. So war sie. Herzensgut, hilfsbereit und sie ging mit viel Humor durchs Leben. Sie liebte meinen Sohn aus tiefstem Herzen. So wie alle ihre Enkel. Sie wollte stets Zeit mit ihm verbringen. Wir grillten oft bei ihr im Garten und spielten Kartenspiele. Sie ging mit mir einkaufen und fuhr mich zu Terminen. Sie war gut zu meinen Freunden und alle waren bei ihr herzlich willkommen. Sie hörte einem zu. Sie machte oft Spaß und gehörte einfach zu uns Jungen dazu. Jeder mochte sie. Zu jedem Fest oder Geburtstag brachte sie einen Kuchen mit. Selbst gebacken. Leider lernte sie erst, je älter sie wurde, nein zu sagen. Nein zu den Menschen, die sie nicht mochte, nein zu den Dingen, die sie nicht wollte. Einzustehen für sich selbst. Und sie sagte mir immer wieder, dass sowohl ich als auch sie direkter werden müssten. Das Wichtigste, was ich in dieser Situation gelernt habe ist, dass Zeit das wichtigste Gut ist. Hat man zu wenig Zeit, kann das schrecklich enden. Leider ließ uns die Krankheit unserer Mutter zu wenig Zeit. Jeanne de Bel
Manchmal konnte ich ihre Entscheidungen nicht nachvollziehen und war wütend, weil sie alles für ihre Kinder aufgab, sich selbst immer hinten anstellte. Zeit ist das Wertvollste, das man haben kann und es ist uns nicht bewusst, wie sehr wir sie brauchen. Nach so einer Diagnose scheint einem nichts mehr wichtig. Alles, was einen erfreut hat, macht keinen Spaß mehr. Alles, womit man vorher seine Zeit verbracht hat, spielt keine Rolle mehr. Es war schwer zu ertragen, meine starke Mutter so verletzlich zu sehen. Sie war zum Krankenhauspersonal immer sehr freundlich und hilfsbereit sowie verständnisvoll. – Ronja
Bei unserer Mutter kamen wir immer an erster Stelle. Sie wollte immer helfen. Ihr Haus stand immer offen. Egal ob für uns oder unsere Freunde. Alle wurden herzlich empfangen. Mit ihr konnte man lachen. Sie war so unglaublich stark und mitfühlend und gab nicht auf. – Felix
Meine Mutter ist gestorben! Ich erinnere mich an gute und herausfordernde Momente mit ihr. Wenn ich sie mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich das Wort „Tragende“ wählen. Sie hat vieles getragen. Zum Beispiel die finanzielle Herausforderung, ein Haus zu haben, oder die Nöte von uns Kindern. Wenn wir oder andere etwas brauchten, war sie sofort zur Stelle und half. Sie hat auch Hoffnung in sich getragen, dass alles besser werden würde, selbst als sie krank wurde. Sie hat uns auch oft ertragen, wenn wir schlechte Laune hatten. Soziale Ungerechtigkeiten, die ihr in den verschiedensten Bereichen zugefügt worden waren, hat sie ertragen. Natürlich nicht ganz, ohne sich darüber zu ärgern. Sie konnte Situationen aushalten, die ich nicht hätte ertragen können und das bewundere ich an ihr. Liebevoll setzte sie sich für andere ein und vergaß sich dabei oft selber. Wenn mehr Menschen sich so um andere kümmern würden, wäre diese Welt eine bessere Welt. Diese Bereitschaft sich selbst hintenanzustellen macht mich oft wütend, und gleichzeitig ist es das, was ich von ihr lernen kann. – Malin

Soweit ich mich erinnern kann, hatte sie mindestens ein Jahr lang Magen-Darm-Probleme, Schmerzen und Schwächeanfalle. Mindestens dreimal mussten wir ins Krankenhaus mit ihr, in die Notfallstation, sowie öfters zu Ärzten. Es wurden diverse Bluttest gemacht und ein Ultraschall. Leider wollte niemand genau hinschauen. Mal hieß es, sie habe eine Blinddarmentzündung, auf der Leber wurden Zysten gefunden, welche nicht genauer untersucht wurden und wenn die Ärzte nichts finden konnten, dann lag die Beschwerden an der nicht mehr vorhandenen Gallenblase. Als sie dann noch im Januar 2021 an COVID 19 erkrankte, hieß es schlussendlich, sie leide an Long COVID. Über ein Jahr dauerte es, bis bei ihr ein MRT gemacht wurde.


Montag, 11. Oktober 2021

Ich war in der Arbeit, als ich in unserem Familienchat neue, ungelesene Nachrichten sah. Wir haben einander oft lustige Sachen geschickt. Dann legte ich das Handy weg, um weiterzuarbeiten. Es war kurz vor meinem Feierabend. Da rief mich Ronja an und fragte mich mit zittriger Stimme, ob ich die Nachricht auf meinem Handy schon gelesen hätte. Ich stellte sie auf Lautsprecher und sah nach. Das war der erste Schlag. Meine Mutter hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs mit Metastasen auf der Leber! Sie hatte nur noch Monate zu leben! Obwohl ich mich nicht auskannte mit Krebs, wusste ich, dass dies ihr Todesurteil war. Mir war dieser Krebs irgendwo schon zu Ohren gekommen. Meine Innereien zogen sich zusammen und mir wurde übel. Dann sah ich, dass ein Kunde vor der Tür stand. Ich unterbrach das Telefonat mit Ronja. Komplett unter Schock sah ich, wie der Kunde versuchte, mit dem Fahrrad hinein in den Laden zu kommen. Er entschied sich dann aber anders und stellte es draußen ab. Mit zittrigen Händen bediente ich ihn und kaum war er draußen, bekam ich keine Luft mehr. Unter Tränen rief ich sie zurück und bat sie, mich von der Arbeit abzuholen, damit wir zu Mama fahren konnten. Dann rief ich meinen Freund an, konnte aber kaum reden. Er fragte sofort, was los sei und ich schrie hysterisch ins Telefon, dass Mama krank sei. Er war schockiert und sagte nicht viel, hatte aber natürlich Verständnis dafür, dass ich später nach Hause kommen würde. Ich durfte den Laden erst in zehn Minuten schließen und die kamen mir wie eine Ewigkeit vor. In der Zwischenzeit hat Felix Ronja geschrieben, dass wir bitte vorbeikommen sollen. Er wohnte damals wieder bei Mama und wurde alleine nicht damit fertig. Als wir ankamen, wurde Ronja nervös. Wir wussten nicht, was wir zu Mama sagen sollten. Wir konnten ja nicht fragen, wie es ihr geht. Mama war schockiert, aber weinte nicht! Sie war wütend auf die Ärzte, aber sie hatte Hoffnung. Auch ich weinte nicht vor ihr, wollte so stark sein wie sie! Ich hatte so viele Fragen, aber meine Mutter hatte auch nicht mehr Informationen. Erst nach weiteren Untersuchungen sollten wir Antworten bekommen. Dies war jedoch nie der Fall. So redeten wir den ganzen Abend, tranken eine Flasche Wein und Baileys. Meine Mama war erst skeptisch, ob ihr der Alkohol nicht noch mehr schaden würde. Aber dann sagte sie, dass es jetzt sowieso nicht mehr darauf ankäme.
Ich war ein bisschen betrunken, weil ich es nicht gewohnt bin, zu trinken. Als ich zu Hause bei meinem Freund und meinem Sohn ankam, flossen die Tränen heftiger denn je. Ich schrie und schluchzte. Dann bekam ich regelrecht Atemnot. Da mich meine beste Freundin Runa schon versuchte zu erreichen, rief ich sie zurück. Ich weinte am Telefon und wir waren beide fassungslos.


Mittwoch, 13. Oktober 2021

Am Nachmittag hatte meine Mama einen Termin bei dem Hausarzt. Ihre Schwester begleitete sie. Ich rief sie an, um nachzufragen, wie das Gespräch verlaufen war. Die Ärzte redeten um den Brei herum, bis meine Tante darauf bestand, Klartext zu reden. Da sie Pflegerin war, wusste sie, wie mit Ärzten zu kommunizieren ist. Da kam der nächste Schlag. Es blieben meiner Mama nur noch Monate zum Leben. Ich konnte nicht mehr stark bleiben und weinte. Wie traurig, dass sie mich aufbaute, anstatt ich sie. Denn sie sagte zu mir mit ruhiger Stimme, dass ich nicht weinen muss. Ich schrieb Ronja, dass es Neuigkeiten gebe und, ob sie bitte zu mir kommen könne. Im ersten Moment wollte sie nicht. Sie wollte nicht noch mehr Niederschmetterndes erfahren und dachte, dass wir damit noch zwei Tage warten können. Es war nämlich ohnehin ein Familientreffen ausgemacht, um die Situation zu besprechen.
Am Abend war geplant, dass Runa und ich joggen gehen würden. Als sie ankam und mich verheult sah, wusste sie, dass aus dem Sport nichts werden würde. Ich sagte ihr, dass wir besser spazieren sollten und meiner Schwester Ronja noch Bescheid geben müssen. Wir gingen die Treppen hoch und Ronja hörte uns schon von weitem. Also klingelten wir bei ihr. Als sie meine Tränen sah, wusste sie gleich, dass es keine guten Nachrichten gibt. Sie fragte, wie schlimm es sei, und ich antwortete, dass es nicht gut aussieht. Runa konnte sie nicht mal anschauen. Ronja schossen die Tränen in die Augen. Sie sagte, wir würden unten auf sie warten. Bei der Eingangstür sah uns vom Balkon aus unser Nachbar Andreas. Er wollte auch mitkommen. Wir liefen los – in den Wald. Ronja wollte nicht warten und gleich die Wahrheit wissen. Also, kurz, doch schmerzvoll, Mama blieben nur noch Monate. Jeder weinte still vor sich hin. Es war stockdunkel, aber auch sehr ruhig im Wald. Ich war dankbar, einen so schlimmen Abend mit solchen wertvollen Menschen verbringen zu können.


Donnerstag, 14. Oktober 2021

Drei Tage später hatte Mama einen Eingriff im Krankenhaus, da der Tumor auf den Gallengang drückte. Ich durfte früher von der Arbeit gehen, damit ich für sie einkaufen konnte, meine Freundin Eva half mir. Danach schaute ich bei ihren Hunden im Haus vorbei. Mein Bruder Felix saß auf der Treppe und fragte mich, ob sie denn wieder gesund werde. Anscheinend war die schreckliche Tatsache bei ihm noch nicht angekommen. Wir fuhren zu mir nach Hause, weil ich ihn nicht allein lassen wollte. Sein bester Freund und Ronja kamen auch noch vorbei. Wir hörten Musik und unterhielten uns. Überlegten uns, welches Lied auf der Beerdigung gespielt werden soll und was wir anziehen würden. Dann fühlten wir uns schlecht wegen diesen absurden Gesprächen. Sie lebte noch, also gab es andere Dinge zu bereden. Wie sich im Nachhinein herausstellte, war es nicht zu früh für solche Gespräche gewesen und wir waren froh, dass wir schon gewisse Vorstellungen besprochen hatten. Jeder Mensch geht anders mit so einer Situation um, das musste ich in dieser Zeit lernen. Dann war es ruhig und Felix fing an zu weinen. Das brach uns das Herz. Er wurde unruhig und aggressiv. Insgeheim hatte er wohl Angst, sie pflegen zu müssen, da er im selben Haushalt lebte. Absolut verständlich. Uns wurde gesagt, dass Mama circa um 17.00 Uhr nach Hause gehen darf und wir warteten. Sie musste auf den Arzt warten, für die Nachbesprechung. Nach mehrmaligem Nachfragen, und da der Arzt unauffindbar war, wurde sie von einer Pflegekraft um 21.00 Uhr entlassen ohne ein Gespräch mit einem Arzt. Sie hatte allerdings Schmerzen. Nach mehr als 24 Stunden und mehreren erfolglosen Anrufen bekam ich dann schlussendlich den Arzt ans Telefon und konnte einen Termin ausmachen. Schließlich wollten wir wissen, ob der Eingriff gut verlaufen war.


Freitag, 15. Oktober 2021

Die ganze Familie traf sich dann auf Mamas Wunsch hin bei ihr zu Hause. Meine beiden Schwestern Ronja und Malin, mein Bruder Felix, und sogar unser Vater kam, obwohl sie geschieden waren. Sie hatten ein gutes Verhältnis und waren immer auf das Wohl von uns Kindern bedacht. Das rechnen wir ihnen hoch an. Wir wollten besprechen, was alles zu erledigen war und wie es weitergehen soll. Meine Mutter erzählte dann aber fröhlich, die Auskunft der Krankenkasse meinte, dieser Tumor sei durchaus operabel. Obwohl wir insgeheim mit dem Schlimmsten rechneten, verliefen die Gespräche an diesem Abend anders als geplant. Wir machten dann keine Nägel mit Köpfen, sondern sprachen nur oberflächlich. Niemandem schien in diesem Moment klar zu sein, wie ernst die Lage war. Denn wenn sie noch Monate zu leben hatte, hatten wir noch genug Zeit. Das dachten wir zumindest.

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