Zwischenwelten

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Die verschlungenen Wege der Clio und das Perseus-Projekt

Bertwin Minks


EUR 23,90
EUR 14,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 772
ISBN: 978-3-948379-07-0
Erscheinungsdatum: 08.01.2020
Die Ernüchterung für das föderale Siedlungsprojekt im Perseus-Arm ließ nicht lange auf sich warten, als die irdische Zivilisation bei ihren Migrationsbemühungen auf eine kriegerische Spezies stieß, die den irdischen Ankömmlingen keinen Willkommensgruß entbot.
I. Die Welt der Clio und das Perseus-Projekt

Die Nacht zündete am wolkenlosen Himmel über dem Planeten Clio nach und nach die Wunderwelt der Sterne an. Dabei wurden auch die Konturen der galaktischen Ebene, der die Menschen den Namen Milchstraße gegeben hatten, mit ihrer beeindruckenden Lichterpracht und den darin eingebetteten dunklen Wolken-Arealen mehr und mehr sichtbar.
Der Schamane Ao-aun-Sun schenkte dem beeindruckenden himmlischen Schauspiel an diesem Abend jedoch keine Aufmerksamkeit. Er kletterte den Berg zu einem Plateau hinauf, wo sich der Eingang zur Höhle der magischen Künste seiner Ahnen befand. Dort wanderteer mit einer hell lodernden Fackel durch die Halle der Stiere und betrachtete ehrfurchtsvoll all die Malereien und Zeichnungen, die sich ringsum an den Felswänden befanden. Sie stellten mächtige Tiere, Furcht einflößende Geschöpfe und tapfere Jäger in vielfältigen und tollkühnen Jagdszenen dar. Die Bilder zeigten, wie Angehörige der Horde Riesenhirsche, Rentiere, Büffel, Pferde, zottelige Nashörner und dicht behaarte Elefanten mit kühn gebogenen großen Stoßzähnen zu erlegen versuchten. Seine Vorfahren hatten die Kunstwerke vor hunderten Jahren mit farbigem Ocker, Rötel und Manganoxid in einer Zeichen-, Wisch- und Sprühtechnik auf die Wände der Höhle gemalt. Dabei nutzten die Schöpfer der Abbildungen zur plastischen Verdeutlichung ihrer Vorstellungen auch Reliefs, Buckel und Spalten im Gestein. Die Felsbilder faszinierten Ao-aun-Sun und inspirierten ihn, sich Gedanken über den göttlichen Schöpfer der eiszeitlichen Welt zu machen, in der er mit seinem Stamm lebte. Er bewunderte im flackernden Schein der Fackel die geheimnisvoll und magisch anmutenden Panoramen der animalischen Geschöpfe und die dramatischen Jagdszenen.
Allerdings war den Mitgliedern der Horde die Kunstfertigkeit der Höhlenmalerei, die seine Ahnen so meisterlich und beeindruckend beherrscht hatten, im Laufe der Zeit abhanden gekommen. Der Schamane betastete hier und da mit ehrfürchtiger Bewunderung die mit Holzkohle und Ockerfarben auf den Felsen aufgebrachten Zeichnungen und farbigen Darstellungen. Er strich vorsichtig über eine Linie oder Fläche, die der unbekannte Künstler seiner Ansicht nach in der schöpferischen und lebendigen Gestaltung meisterlich ausgeführt hatte. Ao-aun-Sun schwenkte dabei die rußende Fackel hin und her, wodurch die Tiere und die Phantasiegestalten an den Wänden um ihn herum lebendig zu werden schienen. Von der Halle der Stiere begab sich der Schamane in die Arena der Büffel und Nashörner und danach in den Palast der Elefanten. Hier schauten ihn von den Felswänden die dicht behaarten Giganten des pleistozänen Zeitalters an. Ao-aun-Sun empfand die Darstellungen der mächtigen eiszeitlichen Elefanten als so lebensecht, dass er bei der Betrachtung der Bilder sogar ein wenig zurückschreckte, weil er meinte, ein trompetendes Mammut mit seinen gewaltigen Stoßzähnen auf sich zukommen zu sehen. Die Abbildungen im Palast der Wollhaarelefanten schienen die ältesten künstlerischen Ausdrucksformen in dem Höhlenkomplex zu sein. Die Schöpfer der Kunstwerke mochten die Malereien und Zeichnungen vielleicht schon vor über 1 000 Jahren auf die Felswände gebannt haben. Ao-aun-Sun war das aber nicht bewusst. Die Zeitspanne eines Lebensalters, die zur Geschichte gewordene Zeit, die Dauer der Vergangenheit, das Empfinden von Gegenwart und das Hoffen auf eine sorgenfreie Zukunft stellten in seinem Bewusstsein nämlich keine klar umrissenen zeitlichen Kategorien dar.
In der Höhle gab es noch einen Hohlraum, den der Schamane jedoch nur selten und stets mit etwas gemischten Gefühlen aufsuchte. Die Leute des Stammes nannten das Areal den Tempel der Zauberer. An dessen Wänden hatten die Vorfahren rituelle Zeremonien und den nächtlichen Sternenhimmel, der sich über dem Planeten wölbte, abgebildet. Dieser Höhlenbezirk galt den Geschöpfen der Gattung „Homo“ als heilig. Der Schamane suchte die mystische Stätte auf, um dort mit seinem Herrn und Gott Schao-tun-San Zwiesprache zu halten. Der Gebieter über den borealen Nadelwald und die pleistozäne Eissteppe bestimmte das Denken und Handeln des Stammes der vernunftbegabten Hominiden. Seiner Gunst und Fürsprache war es zu verdanken, wenn die Jäger der kleinen Gemeinschaft Erfolg hatten und die Mitglieder der Horde ausreichend mit fleischlicher Nahrung versorgt werden konnten. Doch der Schamane haderte mit dem Schicksal und seinem Gott, denn das Jagdglück schien die Männer verlassen zu haben. Die Mitglieder des Stammes konnten sich daher nicht satt essen und mussten immer öfter hungern. Ao-aun-Sun wollte seinem Gott in einem mentalen Kontakt die missliche Situation vortragen und den Gebieter über den Wald und die Steppe um seine Gunst und Unterstützung bitten.
Als der Schamane den Tempelbezirk betrat, steckte er die Fackel in eine Vertiefung im Stein und betrachtete im Halbdunkel ehrfürchtig die rituellen Szenen und Bilder an den Wänden in der Höhle der Zauberer. Dann zog er sich auf eine steinerne, mit mystischen Zeichen bedeckte Plattform zurück, von der aus er in Andacht und Verbindung zu seinem Herrn zu treten pflegte. Ao-aun-Sun schloss die Augen und versuchte, sich seinem Gott in einer gedanklichen Zwiesprache zu nähern. Der Tempel der Zauberer war durch den flackernden Schein der Fackel und die an den Felswänden hin und her huschenden Schatten der Bilder in ein mystisches Licht getaucht. Das magische Spiel zwischen Licht und Schatten schien den phantastischen Szenen an den Wänden Leben einzuhauchen. Der Schamane bemühte sich, seine Furcht zu bezwingen und die ihn beängstigenden Eindrücke als bloße Einbildung zu verdrängen.
Als er mit geschlossenen Augen versuchte, einen mentalen Zugang zu Shao-tun-Sans Geist zu finden, spürte er plötzlich, dass ihm eine Person die Hände auf die Schultern legte. Als er die Augen aufschlug, vermeinte er seine Großmutter neben sich zu erkennen. Ao-aun-Sun vermochte sich der magischen Wirkung der Situation nicht zu entziehen und glaubte, sich mit seinen Gedanken und Empfindungen in einer anderen Wirklichkeit zu befinden.
„Junge, sei zuversichtlich, bleibe unverzagt, habe Geduld und zeige keine Furcht vor dem, was kommen wird“, sagte die Großmutter zu ihm. „Ich habe das Gefühl, dass in eurer Welt schon bald unerwartete Dinge geschehen werden. Aber auch das Jagdglück des Stammes in Wald und Steppe wird sich wieder zum Besseren wenden. Davon bin ich fest überzeugt, mein lieber Enkelsohn!“
Als der Schamane wieder zu sich kam, war der Geist seiner Großmutter verschwunden. Er hockte allein auf der mit rätselhaften Bildsymbolen bedeckten Steinplatte in der Halle der Zauberer, die der flackernde Schein der Fackel in ein geheimnisvolles Spiel von Licht und Schatten eintauchte. Ao-aun-Sun wirkte enttäuscht, da der Gott Shao-tun-San an diesem Abend offenbar nicht mit ihm zu sprechen gedachte. Er bedauerte das, erlaubte sich aber nicht, an dem unerforschlichen Ratschluss seines Gebieters Kritik zu üben.
Der Schamane stand auf, ergriff die Fackel und begab sich zu der Nische, an deren Wänden die Vorfahren den Sternenhimmel, der den Planeten in der Nacht umgab, aus ihrer Perspektive abgebildet hatten. Das nächtliche Firmament war in dieser Darstellung in den 4 Himmelsrichtungen dunkel gehalten. Kleine und größere Farbtupfer aus gelbem Ocker sollten gewiss bestimmte Sterne darstellen und Bilder bezeichnen, die sie am nächtlichen Himmel über seiner planetaren Welt formten. 2 unterschiedlich große gelbe Sicheln symbolisierten offenbar die beiden Monde, die den Planeten umkreisten. Dazwischen gab es andere helle Symbole, die durchbrochenen Linien glichen, weiße spiralige Flächen und Sterne, die Schwänze zu haben schienen. Dabei handelte es sich vermutlich um die Darstellung verglühender Meteore, ferner Nebel und Galaxien und um Kometen, denen bei der Annäherung an die beiden Sonnen Schweife aus den Köpfen wuchsen. Der Schamane versuchte in der Darstellung des Himmels über dem Planeten, so wie er seinen Vorfahren erschienen sein mochte, eine Orientierung zu finden. Dabei war er bemüht, sich ein paar markante Sternenkonstellationen einzuprägen. Schließlich ergriff er mit einer leisen Hoffnung im Herzen die Fackel und verließ den Höhlenkomplex, in dem sich die Malereien und Zeichnungen seiner Ahnen befanden.
Draußen hatte die Nacht über dem Kratergebirge längst einen wundervollen Sternenhimmel erschaffen, dessen Pracht Ao-aun-Sun in ehrfürchtiges Staunen versetzte. „Vielleicht gibt es einen noch mächtigeren Gott als Shao-tun-San“, dachte er. „Ein Gebieter, der all diese Herrlichkeit am nächtlichen Himmel unserer Welt gestalten kann, muss doch über unendlich viel Macht und Zauberkraft verfügen!“
Es war ziemlich kalt. Doch die Kälte in der Atmosphäre über dem Land sorgte am Firmament des Planeten Clio für eine ungewöhnliche Klarheit. Der Schamane kletterte noch ein Stück weiter den Berg hinauf, um einen besseren Blick auf die ihn umgebende nächtliche Sternenpracht werfen zu können. Am Kamm des Kratergebirges angelangt, ließ er seine Blicke über den großen Wagen, die Kassiopeia, den Pegasus und die Zwillinge bis hin zum Orion schweifen. In seiner Vorstellung und Sprache hießen diese Sternenbilder allerdings großer Höhlenbär, starker Auerochse, langer Mammut-Stoßzahn, mächtiger Büffelkopf oder gewaltiges Hirschgeweih. Aufgrund der mitternächtlichen Klarheit der Atmosphäre ließen sich am Himmel sogar die Andromeda-Galaxie, der Triangulum-Nebel und die Magellan’schen Wolken mit bloßem Auge erkennen. Wer weiß, welche Namen die Hominiden diesen Sternen-Archipelen in Raum und Zeit verliehen hatten?
In der Landschaft im Inneren des Kratergebirges herrschte in der Tierwelt weitgehend Ruhe und Eintracht. Die Individuen in den Herden der großen Pflanzenfresser standen eng aneinander gedrängt, um die Jungtiere in ihrer Mitte zu beschützen. Doch Wölfe und andere Raubtiere schienen in dieser Nacht nicht auf der Jagd zu sein. Die Tiergesellschaften grasten daher friedlich vor sich hin und vermittelten ein Bild von Ruhe, Harmonie und Eintracht. Ob sich allerdings auch das Raubtier aus der Gattung „Homo“ an diese friedvolle Dramaturgie der Natur halten würde, mochte dahinstehen.
Als die Monde Hymenaios und Hyazinth nach und nach mit ihren hellen Sicheln über den Kamm des Gebirges emporstiegen, tauchten sie die pleistozäne Landschaft mit den Tierherden im Inneren des gewaltigen Vulkankraters in ein fahles Licht. Der Aufgang der Trabanten zeigte dem Schamanen an, dass es schon weit nach Mitternacht sein musste. Ao-aun-Sun verließ daher die bizarre Welt des Kratergebirges und stieg eilig zum Rastplatz seiner Horde hinab. Dabei machte er sich Sorgen, denn dort drohte das lebensspendende Feuer offenbar zu verlöschen. Vielleicht war der Wächter der Flammen des großen Feuers eingeschlafen und hatte daher seine Aufgaben nicht erfüllen können.
Die Sternenwelt des Algieba-Systems bestand aus 4 Sonnen, 9 Planeten und 17 größeren Monden. Sie leuchtete 126 Lichtjahre von der Erde entfernt im Sternbild Löwe am irdischen Nordhimmel der Milchstraßen-Galaxie. Das Wort Algieba stammte aus dem Arabischen und bedeutete so viel wie Mähne des Löwen. Die Himmelsstruktur im Sternbild Löwe setzte sich aus den engen Doppelsternsystemen Gamma A und B Leonis zusammen. Die Sonnenpaare, die eine Entfernung von ungefähr 20 Lichtstunden trennte, umrundeten sich in etwa 2 000 Jahren. Beide Doppelsternsysteme wurden von Planeten begleitet, doch nur die Trabanten der A-Komponente des Vierfach-Systems konnten dem Leben eine Heimstatt geben. Gamma A Leonis bestand aus einem großen orangefarbenen Hauptreihenstern der Spektralklasse K0 IIIb und einer gelben Sonne vom Spektraltyp G7 III. Die beiden Zentralgestirne bewegten sich auf engen, jedoch stabilen Bahnen um ein gemeinsames Gravitationszentrum.
Die planetare Welt von Gamma A Leonis umfasste 4 Gesteinsplaneten. Hinsichtlich der auf ihnen herrschenden physikalischen Bedingungen unterschieden sie sich jedoch beträchtlich voneinander. Bei der Migration der menschlichen Zivilisation in den Orion-Arm der Galaxie schien nur der dritte Trabant der beiden Sonnen das Interesse der Menschen geweckt zu haben. Sie gaben dieser planetaren Welt den Namen der Muse der Geschichtsschreibung, Clio. Der Planet umkreiste die beiden Sonnen am äußeren Rand der habitablen Zone und hatte ungefähr die Abmessungen und die Dichte der Erde. Die klimatischen Bedingungen auf seiner Oberfläche ähnelten den irdischen Verhältnissen in einer Warmzeit des Pleistozäns.
Euterpe, der den Sonnen nächste Planet, hatte nichts von lyrischer Poesie an sich. Er schien eine Höllenschwester der Venus zu sein, auf dessen Oberfläche kein Leben existieren konnte. Thalia, die innere Nachbarwelt der Clio, umrundete auf einer 100 Millionen engeren Bahn inmitten der habitablen Zone das Doppelsternsystem. Bei diesem Trabanten handelte es sich, nach allem was die Menschen wussten, um einen Wasserplaneten mit der 3-fachen Masse der Erde. Ob in dem globalen Ozean Leben existierte, war nicht bekannt. Der äußere Planet, Melpomene, stellte dagegen eine sauerstoffarme marsähnliche Welt dar, die vermutlich niederen Lebensformen eine Heimstatt bieten konnte.
Die Lebensbedingungen auf der Clio ähnelten den Verhältnissen auf der Heimatwelt der Menschen. Auf dem Planeten existierten 3 große Kontinente, im Westen zwischen den Polen Proto-Pangaea, im Norden und Osten Laurasia sowie im Süden und Osten Gondwana. Die geotektonische Situation auf der Clio entsprach den irdischen Verhältnissen am Ausgang des Oberkarbons im Übergang zum Perm-Zeitalter. Die 3 Kontinente rückten um ein System von Meeresarmen zusammen, das die Menschen wie das oberkarbonische Meer Thetys getauft hatten. Dort schickten sie sich an, in Millionen Jahren eine einzige große Landmasse zu formen, die dann nur noch von dem globalen Ozean Panthalassa umspült werden würde.
Das Klima auf dem Planeten erinnerte an die Bedingungen in der Eem-Warmzeit, einer irdischen Zwischeneiszeit vor 115 000 Jahren. Damals war auf der Erde ungefähr die Hälfte der grönländischen Gletscher abgeschmolzen und die globalen Durchschnittstemperaturen lagen etwa 5 bis 7 Grad über dem rezenten Niveau. Aus menschlicher Sicht herrschten daher zwischen den Wendekreisen und den 50. Breitengraden annehmliche Lebensbedingungen.
Für die Leute, die von der Erde in die interstellaren Weiten der Galaxie aufbrachen, schien der Planet niemals für ein Siedlungsprojekt interessant gewesen zu sein. Dazu lagen die Gamma A Leonis-Sterne zu weit abseits von den irdischen Migrationsrouten, obwohl die Entfernung zur Raumbasis Orion 3 in der Regulus-Region nur etwa 50 Lichtjahre betrug. Die Clio gelangte erst in den Fokus menschlicher Betrachtung, als die Föderation beschloss, auf dem Planeten ein Resort für pensionierte Astronauten einzurichten. Die von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragene Entscheidung stellte eine Verbeugung vor dem Berufsstand der Astronauten dar, dem beim Exodus der Menschen in die Weiten des Orion-Armes eine besondere Rolle zukam.
Die Seniorenresidenz für die pensionierten Astronauten wurde im Süden des Kontinentes Laurasia errichtet. Dort stießen die 3 Landmassen, nur von den schmalen Meeresarmen der Thetys getrennt, direkt aufeinander. Dieser Standort befand sich ein paar hundert Kilometer nördlich des Wendekreises auf der Nordhalbkugel des Planeten. Er schien aus geographischer und klimatischer Sicht für das ehrgeizige Vorhaben hervorragend geeignet zu sein. In dieser Region gab es nämlich ausgedehnte fruchtbare Böden, die eine Landwirtschaft und Viehzucht ermöglichten. Dieser Aspekt stellte für die Versorgung der Menschen auf der Clio mit Nahrungsmitteln ein unverzichtbares Erfordernis dar.
Die Planungen für das Resort, das man nach dem Schutzpatron der Sternenfahrer „Astroseidons Ruh“ benannte, hatten Jahrzehnte in Anspruch genommen. Die föderalen Institutionen scheuten bei der Errichtung der Seniorenresidenz weder Anstrengungen noch Mittel. Daher war an der Südspitze Laurasias schließlich eine großzügig geplante, moderne Ferienstadt mit vielen Freizeitangeboten entstanden. Dort konnten 10 000 bis 12 000 Ruheständler je nach Pensionseinkommen gut bis komfortabel leben.
Bei den Pensionären handelte es sich in der Regel zwar um trainierte, aber dennoch ältere Leute, die in der Kleinstadt versorgt, betreut und verwaltet werden mussten. Abschätzungen der Planer zufolge brauchte man dazu einen Personalkörper von etwa 1 500 bis 2 000 Personen mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen. Träger des Objektes war der Ältestenrat der Astronautenvereinigung „Kommandobrücke“. Als die Errichtungsarbeiten im Resort in das finale Stadium eintraten, stand dieses Gremium vor der Herausforderung, einen Personalkörper in dieser Stärke an den irdischen Siedlungsbörsen zu rekrutieren. Die Planer und Macher von Astroseidons Ruh hatten dabei nicht bedacht, dass die Gewinnung von qualifiziertem Personal einen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen würde. Auf dem Projekt lastete jedoch nach den jahrzehntelangen Planungen und den immensen Kosten eine große politische Erwartungshaltung und ein enormer Zeitdruck. Daher war im Föderationsrat niemand bereit, einen Terminverzug zu verantworten.
Da traf es sich gut, dass etwa zum gleichen Zeitpunkt im Gliese581-System eine 2 000 Jahre alte irdische Kolonie wegen ihrer Unrentabilität aufgelöst wurde. Damit stand plötzlich ein insgesamt qualifizierter Personalkörper in dem erforderlichen Umfang für die Rekrutierung zur Verfügung. Dieser Umstand stellte sowohl für die Siedler auf Gliese581d als auch den Ältestenrat der Astronautenvereinigung als Projektbetreiber eine glückliche Fügung dar. So kam es, dass viele Menschen aus der aufgelösten Kolonie im arbeitsfähigen Alter auf der Clio eine neue Heimat fanden.
Als die Siedler von Gliese581d auf dem Planeten eintrafen, entfaltete sich in Astroseidons Ruh eine hektische Betriebsamkeit, denn die Terminplanung des Ältestenrates für die Inbetriebnahme des Resorts sollte unbedingt eingehalten werden. Doch dann ereigneten sich während der letzten Tests und Funktionsprüfungen der Systeme sowie baulichen und technischen Anlagen in Astroseidons Ruh und den peripheren Freizeitkomplexen auf einmal rätselhafte Dinge. Die unerwarteten Ereignisse stellten sich ein, als eine Gruppe überwiegend junger Menschen zu einer Testsafari in das Innere des Kontinentes Gondwana aufbrach. Sie sollten dort die touristische Konzeption für die Nutzung des Südkontinentes als Areal für Safari-Unternehmungen einer Prüfung unterziehen. Die Safari endete aufgrund der Unberechenbarkeit der pleistozänen Tierwelt in einem Fiasko und forderte Menschenleben. Darüber hinaus erwachte auf dem Planeten plötzlich eine fremde geheimnisvolle Macht, die fortan die Gestaltung der Geschicke auf der Clio übernahm.
Das SYSTEM, wie das mysteriöse Phänomen später genannt werden sollte, bestimmte plötzlich die Entwicklungen, Abläufe und Schicksale in der Welt der Clio nach seinem Programm oder Willen. Die rätselhafte Intelligenz legte eine Akkretionsscheibe aus kalter dunkler Materie um den Planeten, die ihn nach außen verbarg und mit ihrer Signatur einen Ereignishorizont simulierte. Dadurch wurde der Planet mit einer raumzeitlichen Maskierung versehen und war für die Schiffe der Föderationsflotte nicht mehr auffindbar. Auf dem Planeten im Inneren der Akkretionsscheibe herrschte eine schwerkraftbedingte Dilatation der Zeit. Sie verlangsamte alle physikalischen Prozesse in Astroseidons Ruh und ließ die zeitlichen Abläufe wie eingefroren aussehen. Die Dilatation der Zeit betraf jedoch nicht den Kontinent Gondwana. Dort schuf das SYSTEM nach einem unbekannten Muster eigene Welten mit mehreren logischen Ebenen. Die 4D-tauglichen raumzeitlichen Installationen, die eine Eigenzeit besaßen, wurden in den zeitlichen Abläufen vermutlich von einem Zufallsgenerator generiert. Die Teilnehmer der missglückten Safari-Tour mussten sich mit spukhaften Inszenierungen auseinandersetzen und dabei auch um ihr Leben kämpfen. Niemand, so schien es, würde diesem unheimlichen Szenario Einhalt gebieten und die fremde Macht in die Schranken weisen können.
Doch dann beauftragte das Flottenkommando den einst legendären Astronauten Pierre Trudeau, das Rätsel der Clio zu lösen. Trudeau war mit seiner Crew 42 Jahre lang am Südhimmel der Galaxie im Weltraum verschollen gewesen. Wohin Astroseidon, der Gott und Schutzpatron der Sternenfahrer, sein Schiff verbannt haben mochte, blieb zunächst ungeklärt, weil die Astronauten an einer hochgradigen Amnesie litten und dazu keine Auskunft geben konnten. Admiral Trudeau, seinem 1. Offizier Cochran und dem exzellenten Wissenschaftsoffizier Hübner gelang es schließlich, Licht in die unerklärlichen Ereignisse auf der Clio zu bringen. Sie konnten die Zufuhr der Energie, die dem SYSTEM von irgendwoher aus einer anderen Welt und wahrscheinlich auch einer anderen Zeit zugeführt wurde, unterbrechen und beendeten damit die raumzeitlichen Aktivitäten der unbekannten geheimnisvollen Macht auf dem Planeten.

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