Ver-rücktes Erwachen

Ver-rücktes Erwachen

Ruth Affolter


EUR 16,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 68
ISBN: 978-3-99146-496-9
Erscheinungsdatum: 14.02.2024

Leseprobe:

Es ist die Kälte, die mich schaudernd und vollends aus einem unruhigen Schlaf aufwachen lässt.
Ich kann nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob ich nur gedöst oder aber tief und fest geschlafen habe. Mir fällt dazu ein, dass ich die große Pendeluhr in der Stube zu jeder Stunde schlagen hörte. Daher war mein Schlaf diese Nacht wohl nicht sehr tief und am heutigen Tag werde ich wohl immer wieder zwischendurch einnicken, weil ich mich, wie so oft in letzter Zeit, müde und erschlagen fühlen werde.
Aber nun ist mir kalt. Eisige Winde wehen um mich herum, ja sogar durch mich hindurch? Schnell will ich nach meiner Bettdecke greifen. Jedoch kann ich weder Hände noch Arme zum Handeln animieren? Es scheint mir, als hätten die sich aufgelöst?
Was ist denn passiert? Normalerweise kenne ich den Unterschied zwischen Traum und Wachsein! Doch meine ich zu wissen, der gegenwärtige Zustand ist weder noch?
Eigenartigerweise kann ich auch nichts Konkretes erkennen, denn ich bin komplett umgeben von einem diffusen Licht? Wie dichter Nebel und es ist mir nicht möglich, dadurch zu blicken!
Ab und zu schweben Schatten hin und her Sobald sie mir gegenüber baumeln, machen sie einen kurzen Halt und, ohne dass ich etwas Deutlicheres erblicken könnte, ziehen sie wieder achtlos weiter. Nur ihr modriger Gestank bleibt eine Zeitlang an mir hängen, bis auch der sich, zum Glück, wieder verflüchtigt.
Ich nehme an, dass die Schatten mich nicht bemerkt haben.
Vorhin war es mir gar nicht aufgefallen, aber ich bewege mich leicht wie ein Pendel hin und her. Ganz von alleine und ohne mein Zutun? Oder ist es der eisige Wind, der mich schwingen lässt? Nein, kann nicht sein, der Wind bläst aus einer anderen Richtung!
In meinem Innern beginnt es zu rumoren und auf einmal drängen starke und schwere Empfindungen, im Schwall aus meiner Bauchgegend heraus. Diese Kräfte umspannen mich im Nu wie Fesseln. Ihretwegen kann ich mich nirgendwohin bewegen und es gibt kein Entrinnen daraus!
Trotz der engen Fesseln fühle ich mich wie neu geboren, frisch und frei! All das Schwere ist nach außen gekehrt und liegt nicht weiter in meinem Innern! Meine bleiernen, ständig wiederkehrenden Gedanken haben sich aufgelöst? Es ist so, dass sich meine ganze Wahrnehmung in eine andere Dimension begeben hat. Das ganze Denken bereitet mir auf einmal keine Schwierigkeiten mehr. Alles erscheint mir klar und einfach.
Manche Alltagsbegebenheiten, die für mich unlösbar waren und die ich ganz frustriert in Gedanken zur Seite geschoben hatte, um sie zu vergessen, erklären sich in diesem Augenblick von alleine! Was für ein Wunder?
Es sind allesamt Muster, die sich in meinem gesamten Leben angesammelt und in Schichten aufgetürmt hatten, von sehr komplex bis ganz einfach. Immer wiederkehrend und für die mein dunstiger Verstand weder eine Alternative noch eine Lösung gefunden hatte!
Schon lange habe ich mich nicht mehr so leicht und wohl gefühlt! Einzig und allein die Kälte stört meinen perfekten Zustand! „Lügen“, schreit sogleich alles in mir auf! Meine Gedanken geben mir unmissverständlich zu verstehen, dass es nicht der eisige Wind ist, der meinen Körper frieren lässt. Diese Kälte entspringt tief aus meinem Innern! „Aber sowas kann ja gar nicht sein!“, will ich mich gleich wieder herauswinden. Meine eigenen Gedanken bezichtigen mich der Lüge? Ich soll diejenige sein, die durch all die Lügen mein Innerstes derart formte, dass ich nun friere! Denn mein Innerstes bin ich und ist untrennbar mit all meinen Sinnen und meinem Körper verbunden. Es geht nicht, diesen oder jenen Bereich von mir selbst einfach abzukoppeln und als etwas Separates, nicht mir Zugehöriges beiseitezustellen, und dann einfach zu behaupten, dieser Bereich sei schuld daran, dass ich nun friere!
Krass, diese Einsicht. Eine derartige Klarheit jagt mir sofort Angst ein! Diese Angst erzeugt wiederum eine noch stärkere Anspannung meiner Fesseln um mich herum. Für meinen Verstand ist das Ganze zutiefst gewöhnungsbedürftig. Ich alleine soll die Schuld dafür tragen, dass ich friere? Nicht irgendjemand anderes oder gar das Wetter!
Mit Widerwillen bleibt mir einfach nichts anderes übrig, als mir die Schuld einzugestehen. Augenblicklich entspannen sich die Gefühlsfesseln um mich herum ein wenig. Jedoch kann ich mich immer noch nicht aus ihnen befreien.
Keine Ahnung, wie ich dieser Kälte abhelfen könnte? Mit Kleidung jedenfalls nicht.
Da ich nur wie ein Pendel hin und her schwinge und ich mich nirgendwohin bewegen kann, tut sich nichts. Und weil ich nicht weiß, was das Ganze hier zu bedeuten hat, beginnt es mich zu nerven, dabei gehen kurze, grelle Blitze von mir ab. Doch sobald ich mich wieder beruhigt habe, scheint alles wieder
„normal“?
Lange ist es her, seit ich solch abstruses Zeug geträumt hatte, zuletzt wohl in meiner Kindheit.
Aber warum nur meine ich, dieser Zustand sei nur ein Traum? Weiter fällt mir auf, dass kein einziger Schmerz mich plagt? Es fühlt sich an, als wäre die gesamte körperliche Last von mir abgefallen!
Die ständig präsenten, rheumatischen Schmerzen in meinen Gliedern existieren nicht mehr? Als ich vierzig Jahre alt war, bemerkte ich die ersten Schmerzen in den Achseln und den Fingergelenken. Die schmerzenden Schwellungen in den Fingern führen dazu, dass ich kaum etwas in den Händen halten kann und die Arbeiten im Haushalt liegen lassen muss. Nach und nach gesellten sich beide Knie, der Nacken und der Rücken dazu.
Zu Beginn genügte es, wenn ich mir Wärmekissen auflegte und die schmerzenden Gelenke regelmäßig mit Rheumasalbe einrieb.
In den letzten paar Jahren verschlimmerten sich die Schmerzen rasant. Meine Strategie mit Wärme und Salben hat nur noch bedingt geholfen. Heute kann ich an einer Hand abzählen, welche Gelenke noch nicht von dieser Krankheit befallen sind, wo sich noch nicht Knochen an Knochen reiben. Es ist mir auch nicht mehr möglich, die Finger zu strecken, die haben sich mit den Jahren derart verkrümmt, sodass ich Tassen und andere Gegenstände nur noch mit den Handballen greifen
kann.
In all den Jahren mit dieser Krankheit ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich keine Schmerzen erlebte. Mit Anbruch der kalten Jahreszeit und besonders, wenn sich Schnee ankündigt, werden die Schmerzen hochgradig. Erst da nehme ich die Pillen ein, die mir mein Arzt verschrieben hat. Ansonsten lasse ich lieber die Finger davon. Die lindern zwar den Schmerz in den Gelenken und hemmen die Entzündungen, andererseits verhalten sie sich dermaßen gallig in meinem Magen, dass ich nachts wegen Übelkeit und Schwindel nicht schlafen kann. Infolge der starken Nebenwirkungen wird auch mein Tagesablauf stark eingeschränkt. Nicht einmal meinen geliebten Kaffee vertrage ich mehr. Meine Magensäfte dulden da nur noch Kamillentee und Zwieback.
Vorausgesetz ich sitze oder liege lange bewegungslos, fühlen sich die Gelenke wie eingerostet an. Laut meinem Hausarzt sollte ich die Glieder dann langsam bewegen, um sie wieder geschmeidiger zu machen. Vielfach vergesse ich aber das Durchbewegen oder bin zu faul dazu! Somit gestaltet sich das Aufstehen mühsamer und schmerzhafter.
Aber nun, was ist los und warum verspüre ich meinen Körper nicht mehr? In diesem trüben Licht vermag ich nicht einmal mehr, an mir herunter zu blicken?
Ohne große Anstrengungen, schnell und klar gelingt es mir; mich an gestern Abend zurückzuerinnern. Normalerweise wusste ich am nächsten Tag nicht mehr, was gestern gewesen war oder was ich am gestrigen Tag zu Mittag gegessen hatte? Welches Wetter herrschte oder um welche Jahreszeit es sich gerade handelte? Alles vergessen. Zu meiner Beruhigung redete ich mir ein, dass dies alles zu wissen, nicht wichtig war.
Also auf jeden Fall weiß ich, dass ich mir nach der Tagesschau unbedingt den Wochenkrimi anschauen wollte. Der Anfang war ja ganz passabel und versprach spannend zu werden. Nach dem Mord, gleich zu Beginn der Sendung, konnte ich dem Geschehen noch richtig gut folgen. Bald aber wurden auf einmal viele verschiedene Leute für die Tat in Betracht gezogen und die verschiedenen Zusammenhänge verwirrten mich immer mehr. Nicht einmal mit Fantasie vermochte ich die vielen unterschiedlichen Eventualitäten einzuordnen. Dabei musste ich mich ständig fragen, wer da von der Polizei und wer Zivilpersonen war? Die Flut an Informationen überforderte meinen Verstand komplett. Außerdem wurde derart schnell und in hochdeutscher Sprache gesprochen, dass ich einfach nicht mehr folgen konnte! Alles wurde zu einem Wirrwarr aus Gesichtern und Wörtern?
Um doch noch zu wissen, wer denn die junge, hübsche Frau dermaßen brutal ermordet hatte, hätte ich bis zum Schluss der Sendung ausharren müssen, dabei wäre ich womöglich eingeschlafen und erst wieder bei der nächsten oder gar übernächsten Sendung aufgewacht. So etwas hätte mich noch mehr geärgert. Also schaltete ich den Fernseher gleich aus. Natürlich genervt!
Maßlos enttäuscht, blieb ich in meinem Sessel sitzen und bedauerte ausgiebig meine schwindenden Sinne und meine Einsamkeit! Die ganze Bitterkeit von gestern Abend steigt wie harte Bänder in mir hoch, die mich umschlingen und weiter einengen.
Ich sehe mich, wie ich in meinem Sessel saß und mit den Tränen kämpfte, bevor ich gleich richtig zu weinen anfing. Und das wollte ich nicht, denn nach meinen vergangenen Erfahrungen würde es Tage dauern, bis ich aus meinem Bedauern herausfand. Mich endlich wieder dazu aufraffen könnte, um wieder einigermaßen normal zu leben und die Kraft für andere Dinge aufzubringen.
Also zwang ich mich gestern Abend dazu, sofort diese dunklen Gedanken zu verbannen und überlegte mir stattdessen, die Nacht gleich hier in meinem Lehnstuhl zu verbringen. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Schon allein der Gedanke daran, mich mühsam aus dem tiefen Sessel zu winden, um mich auf die dicken, mit Wasser gefüllten Beine zu stellen, raubte mir gleich die letzte Kraft!
Mit dem Älterwerden verringerten sich meine Sinneskräfte ebenso wie die Muskelkraft. Wo sich früher an meinen Oberarmen noch gut ausgebildete Muskeln befanden, gibt es heute nur noch Haut, ein wenig Fleisch daran und dann kommt schon der Knochen. Habe dies beim Arzt schon oft zu spüren bekommen, wenn mir die Arzthelferin die monatlichen Vitamine in den Oberarm spritzte. So spürte ich, wenn sie den Knochen getroffen hatte, weil einfach fast kein Muskel mehr vorhanden war.
Zu Hause fehlt mir die Kraft, um meinen kleinen Haushalt sauber zu halten. Dauernd muss ich mich dann setzen, um mich auszuruhen. Manchmal dauert es Tage, bis ich mich wieder kräftig genug fühle, um den Abwasch zu erledigen. Wenn sich dann noch ein solch emotionaler Fernsehabend, wie gestern Abend einreiht, wird es noch schwieriger, mich hochzuschwingen.
Falls ich mich jeweils entscheide, im Lehnstuhl sitzen zu bleiben um darin zu nächtigen, versorgt mich die selbst gestrickte, wollene Decke mit behaglicher Wärme. So schlafe ich dann gewöhnlich ein paar Stunden und manchmal sogar bis am nächsten Morgen durch. Derartige Nächte, die ich im Lehnstuhl verbringe, sind nicht gerade von Vorteil für den nächsten Tag. Denn mein Kopf neigt sich beim Schlafen zur Seite oder nach vorne und kein Kissen vermag es, mir den Kopf genügend zu stützen, während ich schlafe. Eine solch unnatürliche Stellung des Kopfes verschafft mir am nächsten Tag eine schlimme Halskehre. Eine weitere Unannehmlichkeit sind meine geschwollenen Beine. Die fühlen sich dann an, als würden sie gleich platzen.
Immerhin, als ich mir gestern Abend die Folgen einer Lehnstuhlnacht vor Augen führte, riss ich mich gewaltig zusammen, um mich auf die dicken Beine zu stellen! Erst beim vierten oder fünften Anlauf ist es mir schließlich dennoch gelungen, aufzustehen. Als ich endlich stand, war ich so erschöpft, dass ich mich am liebsten gleich wieder in den Lehnstuhl zurück hätte fallen lassen. Zum Glück stand mein Rollator in Griffweite. Sofort zog ich das Ding zu mir hin, sodass ich mich mit beiden Händen daran festhalten konnte. Nachdem ich die Bremsen gelöst hatte, ging ich die paar Schritte langsam und bedächtig in mein Schlafzimmer hinüber. Auf dem Weg dorthin kam ich an der Toilette vorbei, aber den Gang dahin ersparte ich mir, denn es erschien mir unnötig und ich glaubte, dass die Windelhose die ich trug, noch nicht genug ausgelastet war. Endlich war es geschafft. Sofort ließ ich mich, mitsamt den Kleidern, langsam in mein Bett gleiten. Ich mochte mich nicht einmal mehr umziehen.
Die waagrechte Lage ist eine wirkliche Wohltat für meine Beine. Schnell verliert sich das Spannungsgefühl in den Waden, jedoch füllt sich dann flugs die Blase mit dem nach oben fließenden Wasser aus den Beinen. Meine Windelhosen vermögen solch eine Schwemme an Urin nicht aufzufangen. Ein beträchtlicher Teil fließt dann in mein Bett aus. Schon des Öfteren musste mir deswegen die Person von der Hauspflege die Bettwäsche wechseln und sogar die Matratze kehren.
Glücklicherweise werde ich nun täglich von der Hauspflege betreut. Mir wäre es nicht mehr möglich, selber meine Bettlaken zu wechseln. Bevor ich von der Hauspflege betreut wurde, schlug ich in meiner Not einfach die Bettlaken über das Bettgestell und ließ das Ganze den Tag durchtrocknen. Nicht immer vermochte bis am Abend alles zu trocknen, besonders die Matratze war mittlerweile ständig feucht. So legte ich einfach meine wollene Decke darüber. Die vermochte die Restfeuchte aufzunehmen, ohne dass ich das Gefühl verspürte, ich läge im Feuchten. Die Wolle ist nämlich von guter Qualität und ich konnte immer wunderbar darauf schlafen. Mein ausgeprägtes Schamgefühl hat es mir damals untersagt, es meiner Tochter zu erzählen, als sie mich nach langer Zeit wieder einmal besuchte. Gerne hätte ich sie damals gefragt, ob sie mir vielleicht die Bettwäsche wechseln würde? Sicherlich wäre es für sie kein Problem gewesen? Mir war es jedoch sowas von peinlich!
Mit Wehmut erinnere ich mich daran, wie ich noch vor ein paar Monaten nur mit einem Gehstock an der Hand, als stützende Begleitung, die Wohnung alleine verlassen konnte.
Meine Einkäufe erledigte ich noch ganz alleine und es tat mir gut, einmal täglich aus der Wohnung zu kommen, den Himmel zu sehen und die frische Luft zu spüren. Dabei verflüchtigten sich die immer wiederkehrenden Gedankengänge ein wenig!
Nur allzu gut bemerkte ich, wie sich meine Sehkraft und das Gehör in den letzten Jahren verschlimmerten, fast Viertel jährlich musste ich mir eine immer stärkere Brille zulegen. Manchmal brauchte ich sogar eine Lupe, um überhaupt das Wichtigste, nämlich das Kleingedruckte, noch lesen zu können. Wenn ich mir ein Haarshampoo kaufen wollte, verwechselte ich des Öfteren das Shampoo mit der Pflegespülung oder die Duschcreme mit der Körperlotion! Die Verpackungen sehen ja alle gleich aus und wenn ich die Lesebrille vergessen hatte, konnte ich nicht sehen, um was es sich tatsächlich handelte. Manchmal fragte ich mich, ob die Industrie diese Produkte extra für Leute wie mich herstellten?
Auch mein Gehör hat in letzter Zeit stark nachgelassen. Mehr als einmal verpasste ich Anrufe, weil ich das Klingeln des Telefons nicht hören konnte. Einmal im Monat hatte ich den Termin bei meinem Hausarzt, der gleich auf der gegenüberliegenden Straßenseite seine Praxis hat. Da wurde mir der Blutdruck gemessen und manchmal Blut abgenommen. Wichtiger als der Blutdruck waren für mich jedoch die paar Minuten, die sich mein Arzt Zeit nahm, um mit mir über alltägliche Dinge zu plaudern! Oder war ich diejenige, die plauderte? Im Wartezimmer fand sich oft auch jemand, mit dem ich mich kurz austauschen konnte. Viele Leute waren froh darüber, wenn sie mir von ihren Gebrechen berichten durften, um so mein Mitgefühl zu erhaschen. Wie heißt es so schön, „geteiltes Leid ist halbes Leid!“
Der letzte Besuch bei meinem Hausarzt gestaltete sich für mich als sehr schwierig. Fast nach jedem Schritt musste ich kurz innehalten, damit ich wieder zu Atem kam. Beim Überqueren der stark befahrenen Straße, verursachte mein langsamer Gang einen kleinen Stau. Mein Körper wirkte aufgedunsen. Als ich endlich die Praxis erreichte, war die Zeit für meinen Termin bereits vorbei. Zum Glück hat es mein Hausarzt mir nicht übel genommen, er quetschte mich sozusagen zwischen zwei andere Patienten. Leidvoll klagte ich ihm damals, dass ich mir neue Schuhe kaufen muss, weil meine Füße kaum mehr Platz darin fanden. Dabei ist es schon vorgekommen, dass ich mir die Schuhe gar nicht erst auszog, weil ich wusste, dass ich sie anderntags nicht wieder anziehen konnte. Denn die Wasserkissen, die sich tagsüber in den Füßen sowie den Beinen bildeten, gingen, wenn ich mich in der horizontalen Lage befand, nicht wieder zurück. Die Beine blieben geschwollen. Der Hausarzt hat mir gleich den Blutdruck gemessen, sich die Beine angeschaut und mir umgehend Torasemid-Tabletten verschrieben.
Er meinte dazu, dass diese Tabletten mir helfen würden, das viele Wasser im Körper auszuschwemmen und es mir dann bald wieder besser gehen werde. Dabei legte er mir auch nahe, endlich mit dem Rauchen auf zu hören! „Bla, bla, bla…!“ Dachte ich mir. Es ist ja nicht so, dass ich nicht aufhören könnte mit der Raucherei, vielmehr ist es für mich halt ein Genuss zu rauchen und manchmal auch das Einzige, woran ich mich erfreuen konnte. Auf keinen Fall wollte ich damit aufhören! Dann betupfte er mich gleich mit dem nächsten wunden Punkt, nämlich, ob ich mir überlegt habe, in ein Altersheim umzusiedeln? Ich erklärte ihm zum x-ten Mal, dass sowas für mich überhaupt nicht in Frage kommt! Nein, danke!
Die Arzthelferin hat mich darauf im Rollstuhl nach Hause geschoben, vorher holte sie noch die Wassertabletten in der Apotheke nebenan für mich ab. Sowas von nett! Ich dankte ihr von ganzem Herzen und, weil ich nichts weiter bei mir trug als die Zigarettenschachtel, bot ich ihr eine Zigarette an. Sie lehnte dankend ab.
Zurück in meinen vier Wänden schluckte ich gleich die erste Tablette, es dauerte nicht lange und ich musste mich dringend auf die Toilette begeben! Das Wasserlassen dauerte den ganzen Nachmittag über. Nach einer Stunde hatte ich kaum mehr die Kraft, um ständig von der Toilette ins Wohnzimmer und wieder zurückzugehen, so blieb ich einfach auf der Toilette sitzen, bis ich endlich bemerkte, dass der Harndrang nachließ.
Am nächsten Tag ging es mir schon deutlich besser. Dieses körperliche Hoch nutzte ich gleich, um in den Supermarkt zu eilen, wo ich mich mit dem Nötigsten eindecken konnte. Denn die letzte Woche verbrachte ich ausschließlich in der Wohnung. Dort angekommen, traf ich per Zufall eine alte Kollegin, der ich sofort von meinen neusten gebrechen erzählte und dass ich nun neue Pillen zum Einnehmen bekommen hätte. Darauf erklärte sie mir, dass sie vor langer Zeit auch solche Pillen von ihrem Arzt bekommen hätte, sie die aber längst abgesetzt hätte, weil die ihr Herzrasen und Übelkeit verursacht hätten.
Wieder zu Hause angekommen, meinte ich immer noch, diese Pillen würden Sinn machen! Als ich mir jedoch eine Tablette aus dem Blister drückte, um sie, wie verschrieben, hinunterzuschlucken, beschlichen mich Zweifel. Gestern hat mir diese eine Tablette derart viel Wasser abgeleitet, was kommt da heraus, wenn ich mir die nun täglich zweimal einwerfe?
Also legte ich die Packung in die Schublade zurück, ohne dass ich an diesem Tag eine Pille zu mir genommen hätte. In der nächsten Nacht träumte ich prompt, wie ich nach der Einnahme dieser Tabletten mit einem Schrumpfkopf aufgewacht bin und ich zum Einkaufen gehen musste. Die Leute im Supermarkt starrten mich alle entsetzt an und tuschelten ungeniert hinter meinem Rücken. Alle gingen sie mir aus dem Weg und versteckten sich hinter den Regalen! Wahrscheinlich meinten sie, ich sei ein Zombie? Bevor ich gänzlich zur Mumie wurde, konnte ich endlich aufwachen und war heilfroh darüber, dass dies nur ein Traum gewesen war! Jedoch war für mich sofort klar, diese Pillen waren sicher imstande, meinen ganzen Körper trocken zu legen. Und noch etwas anderes bereitete mir Sorgen; da ich ja schon ohne diese Pillen undicht war, was das Pinkeln anbelangte, konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich dieser Schwemme Herr werden könnte, wenn ich mal nicht zu Hause war? Folglich konnte ich mir gut vorstellen, dass sich meine Inkontinenz durch die Wassertabletten noch verstärken würde. Für meine Begriffe waren da die aufgeschwemmten Beine das kleinere Übel!

Es ist die Kälte, die mich schaudernd und vollends aus einem unruhigen Schlaf aufwachen lässt.
Ich kann nicht einmal mit Bestimmtheit sagen, ob ich nur gedöst oder aber tief und fest geschlafen habe. Mir fällt dazu ein, dass ich die große Pendeluhr in der Stube zu jeder Stunde schlagen hörte. Daher war mein Schlaf diese Nacht wohl nicht sehr tief und am heutigen Tag werde ich wohl immer wieder zwischendurch einnicken, weil ich mich, wie so oft in letzter Zeit, müde und erschlagen fühlen werde.
Aber nun ist mir kalt. Eisige Winde wehen um mich herum, ja sogar durch mich hindurch? Schnell will ich nach meiner Bettdecke greifen. Jedoch kann ich weder Hände noch Arme zum Handeln animieren? Es scheint mir, als hätten die sich aufgelöst?
Was ist denn passiert? Normalerweise kenne ich den Unterschied zwischen Traum und Wachsein! Doch meine ich zu wissen, der gegenwärtige Zustand ist weder noch?
Eigenartigerweise kann ich auch nichts Konkretes erkennen, denn ich bin komplett umgeben von einem diffusen Licht? Wie dichter Nebel und es ist mir nicht möglich, dadurch zu blicken!
Ab und zu schweben Schatten hin und her Sobald sie mir gegenüber baumeln, machen sie einen kurzen Halt und, ohne dass ich etwas Deutlicheres erblicken könnte, ziehen sie wieder achtlos weiter. Nur ihr modriger Gestank bleibt eine Zeitlang an mir hängen, bis auch der sich, zum Glück, wieder verflüchtigt.
Ich nehme an, dass die Schatten mich nicht bemerkt haben.
Vorhin war es mir gar nicht aufgefallen, aber ich bewege mich leicht wie ein Pendel hin und her. Ganz von alleine und ohne mein Zutun? Oder ist es der eisige Wind, der mich schwingen lässt? Nein, kann nicht sein, der Wind bläst aus einer anderen Richtung!
In meinem Innern beginnt es zu rumoren und auf einmal drängen starke und schwere Empfindungen, im Schwall aus meiner Bauchgegend heraus. Diese Kräfte umspannen mich im Nu wie Fesseln. Ihretwegen kann ich mich nirgendwohin bewegen und es gibt kein Entrinnen daraus!
Trotz der engen Fesseln fühle ich mich wie neu geboren, frisch und frei! All das Schwere ist nach außen gekehrt und liegt nicht weiter in meinem Innern! Meine bleiernen, ständig wiederkehrenden Gedanken haben sich aufgelöst? Es ist so, dass sich meine ganze Wahrnehmung in eine andere Dimension begeben hat. Das ganze Denken bereitet mir auf einmal keine Schwierigkeiten mehr. Alles erscheint mir klar und einfach.
Manche Alltagsbegebenheiten, die für mich unlösbar waren und die ich ganz frustriert in Gedanken zur Seite geschoben hatte, um sie zu vergessen, erklären sich in diesem Augenblick von alleine! Was für ein Wunder?
Es sind allesamt Muster, die sich in meinem gesamten Leben angesammelt und in Schichten aufgetürmt hatten, von sehr komplex bis ganz einfach. Immer wiederkehrend und für die mein dunstiger Verstand weder eine Alternative noch eine Lösung gefunden hatte!
Schon lange habe ich mich nicht mehr so leicht und wohl gefühlt! Einzig und allein die Kälte stört meinen perfekten Zustand! „Lügen“, schreit sogleich alles in mir auf! Meine Gedanken geben mir unmissverständlich zu verstehen, dass es nicht der eisige Wind ist, der meinen Körper frieren lässt. Diese Kälte entspringt tief aus meinem Innern! „Aber sowas kann ja gar nicht sein!“, will ich mich gleich wieder herauswinden. Meine eigenen Gedanken bezichtigen mich der Lüge? Ich soll diejenige sein, die durch all die Lügen mein Innerstes derart formte, dass ich nun friere! Denn mein Innerstes bin ich und ist untrennbar mit all meinen Sinnen und meinem Körper verbunden. Es geht nicht, diesen oder jenen Bereich von mir selbst einfach abzukoppeln und als etwas Separates, nicht mir Zugehöriges beiseitezustellen, und dann einfach zu behaupten, dieser Bereich sei schuld daran, dass ich nun friere!
Krass, diese Einsicht. Eine derartige Klarheit jagt mir sofort Angst ein! Diese Angst erzeugt wiederum eine noch stärkere Anspannung meiner Fesseln um mich herum. Für meinen Verstand ist das Ganze zutiefst gewöhnungsbedürftig. Ich alleine soll die Schuld dafür tragen, dass ich friere? Nicht irgendjemand anderes oder gar das Wetter!
Mit Widerwillen bleibt mir einfach nichts anderes übrig, als mir die Schuld einzugestehen. Augenblicklich entspannen sich die Gefühlsfesseln um mich herum ein wenig. Jedoch kann ich mich immer noch nicht aus ihnen befreien.
Keine Ahnung, wie ich dieser Kälte abhelfen könnte? Mit Kleidung jedenfalls nicht.
Da ich nur wie ein Pendel hin und her schwinge und ich mich nirgendwohin bewegen kann, tut sich nichts. Und weil ich nicht weiß, was das Ganze hier zu bedeuten hat, beginnt es mich zu nerven, dabei gehen kurze, grelle Blitze von mir ab. Doch sobald ich mich wieder beruhigt habe, scheint alles wieder
„normal“?
Lange ist es her, seit ich solch abstruses Zeug geträumt hatte, zuletzt wohl in meiner Kindheit.
Aber warum nur meine ich, dieser Zustand sei nur ein Traum? Weiter fällt mir auf, dass kein einziger Schmerz mich plagt? Es fühlt sich an, als wäre die gesamte körperliche Last von mir abgefallen!
Die ständig präsenten, rheumatischen Schmerzen in meinen Gliedern existieren nicht mehr? Als ich vierzig Jahre alt war, bemerkte ich die ersten Schmerzen in den Achseln und den Fingergelenken. Die schmerzenden Schwellungen in den Fingern führen dazu, dass ich kaum etwas in den Händen halten kann und die Arbeiten im Haushalt liegen lassen muss. Nach und nach gesellten sich beide Knie, der Nacken und der Rücken dazu.
Zu Beginn genügte es, wenn ich mir Wärmekissen auflegte und die schmerzenden Gelenke regelmäßig mit Rheumasalbe einrieb.
In den letzten paar Jahren verschlimmerten sich die Schmerzen rasant. Meine Strategie mit Wärme und Salben hat nur noch bedingt geholfen. Heute kann ich an einer Hand abzählen, welche Gelenke noch nicht von dieser Krankheit befallen sind, wo sich noch nicht Knochen an Knochen reiben. Es ist mir auch nicht mehr möglich, die Finger zu strecken, die haben sich mit den Jahren derart verkrümmt, sodass ich Tassen und andere Gegenstände nur noch mit den Handballen greifen
kann.
In all den Jahren mit dieser Krankheit ist kaum ein Tag vergangen, an dem ich keine Schmerzen erlebte. Mit Anbruch der kalten Jahreszeit und besonders, wenn sich Schnee ankündigt, werden die Schmerzen hochgradig. Erst da nehme ich die Pillen ein, die mir mein Arzt verschrieben hat. Ansonsten lasse ich lieber die Finger davon. Die lindern zwar den Schmerz in den Gelenken und hemmen die Entzündungen, andererseits verhalten sie sich dermaßen gallig in meinem Magen, dass ich nachts wegen Übelkeit und Schwindel nicht schlafen kann. Infolge der starken Nebenwirkungen wird auch mein Tagesablauf stark eingeschränkt. Nicht einmal meinen geliebten Kaffee vertrage ich mehr. Meine Magensäfte dulden da nur noch Kamillentee und Zwieback.
Vorausgesetz ich sitze oder liege lange bewegungslos, fühlen sich die Gelenke wie eingerostet an. Laut meinem Hausarzt sollte ich die Glieder dann langsam bewegen, um sie wieder geschmeidiger zu machen. Vielfach vergesse ich aber das Durchbewegen oder bin zu faul dazu! Somit gestaltet sich das Aufstehen mühsamer und schmerzhafter.
Aber nun, was ist los und warum verspüre ich meinen Körper nicht mehr? In diesem trüben Licht vermag ich nicht einmal mehr, an mir herunter zu blicken?
Ohne große Anstrengungen, schnell und klar gelingt es mir; mich an gestern Abend zurückzuerinnern. Normalerweise wusste ich am nächsten Tag nicht mehr, was gestern gewesen war oder was ich am gestrigen Tag zu Mittag gegessen hatte? Welches Wetter herrschte oder um welche Jahreszeit es sich gerade handelte? Alles vergessen. Zu meiner Beruhigung redete ich mir ein, dass dies alles zu wissen, nicht wichtig war.
Also auf jeden Fall weiß ich, dass ich mir nach der Tagesschau unbedingt den Wochenkrimi anschauen wollte. Der Anfang war ja ganz passabel und versprach spannend zu werden. Nach dem Mord, gleich zu Beginn der Sendung, konnte ich dem Geschehen noch richtig gut folgen. Bald aber wurden auf einmal viele verschiedene Leute für die Tat in Betracht gezogen und die verschiedenen Zusammenhänge verwirrten mich immer mehr. Nicht einmal mit Fantasie vermochte ich die vielen unterschiedlichen Eventualitäten einzuordnen. Dabei musste ich mich ständig fragen, wer da von der Polizei und wer Zivilpersonen war? Die Flut an Informationen überforderte meinen Verstand komplett. Außerdem wurde derart schnell und in hochdeutscher Sprache gesprochen, dass ich einfach nicht mehr folgen konnte! Alles wurde zu einem Wirrwarr aus Gesichtern und Wörtern?
Um doch noch zu wissen, wer denn die junge, hübsche Frau dermaßen brutal ermordet hatte, hätte ich bis zum Schluss der Sendung ausharren müssen, dabei wäre ich womöglich eingeschlafen und erst wieder bei der nächsten oder gar übernächsten Sendung aufgewacht. So etwas hätte mich noch mehr geärgert. Also schaltete ich den Fernseher gleich aus. Natürlich genervt!
Maßlos enttäuscht, blieb ich in meinem Sessel sitzen und bedauerte ausgiebig meine schwindenden Sinne und meine Einsamkeit! Die ganze Bitterkeit von gestern Abend steigt wie harte Bänder in mir hoch, die mich umschlingen und weiter einengen.
Ich sehe mich, wie ich in meinem Sessel saß und mit den Tränen kämpfte, bevor ich gleich richtig zu weinen anfing. Und das wollte ich nicht, denn nach meinen vergangenen Erfahrungen würde es Tage dauern, bis ich aus meinem Bedauern herausfand. Mich endlich wieder dazu aufraffen könnte, um wieder einigermaßen normal zu leben und die Kraft für andere Dinge aufzubringen.
Also zwang ich mich gestern Abend dazu, sofort diese dunklen Gedanken zu verbannen und überlegte mir stattdessen, die Nacht gleich hier in meinem Lehnstuhl zu verbringen. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen. Schon allein der Gedanke daran, mich mühsam aus dem tiefen Sessel zu winden, um mich auf die dicken, mit Wasser gefüllten Beine zu stellen, raubte mir gleich die letzte Kraft!
Mit dem Älterwerden verringerten sich meine Sinneskräfte ebenso wie die Muskelkraft. Wo sich früher an meinen Oberarmen noch gut ausgebildete Muskeln befanden, gibt es heute nur noch Haut, ein wenig Fleisch daran und dann kommt schon der Knochen. Habe dies beim Arzt schon oft zu spüren bekommen, wenn mir die Arzthelferin die monatlichen Vitamine in den Oberarm spritzte. So spürte ich, wenn sie den Knochen getroffen hatte, weil einfach fast kein Muskel mehr vorhanden war.
Zu Hause fehlt mir die Kraft, um meinen kleinen Haushalt sauber zu halten. Dauernd muss ich mich dann setzen, um mich auszuruhen. Manchmal dauert es Tage, bis ich mich wieder kräftig genug fühle, um den Abwasch zu erledigen. Wenn sich dann noch ein solch emotionaler Fernsehabend, wie gestern Abend einreiht, wird es noch schwieriger, mich hochzuschwingen.
Falls ich mich jeweils entscheide, im Lehnstuhl sitzen zu bleiben um darin zu nächtigen, versorgt mich die selbst gestrickte, wollene Decke mit behaglicher Wärme. So schlafe ich dann gewöhnlich ein paar Stunden und manchmal sogar bis am nächsten Morgen durch. Derartige Nächte, die ich im Lehnstuhl verbringe, sind nicht gerade von Vorteil für den nächsten Tag. Denn mein Kopf neigt sich beim Schlafen zur Seite oder nach vorne und kein Kissen vermag es, mir den Kopf genügend zu stützen, während ich schlafe. Eine solch unnatürliche Stellung des Kopfes verschafft mir am nächsten Tag eine schlimme Halskehre. Eine weitere Unannehmlichkeit sind meine geschwollenen Beine. Die fühlen sich dann an, als würden sie gleich platzen.
Immerhin, als ich mir gestern Abend die Folgen einer Lehnstuhlnacht vor Augen führte, riss ich mich gewaltig zusammen, um mich auf die dicken Beine zu stellen! Erst beim vierten oder fünften Anlauf ist es mir schließlich dennoch gelungen, aufzustehen. Als ich endlich stand, war ich so erschöpft, dass ich mich am liebsten gleich wieder in den Lehnstuhl zurück hätte fallen lassen. Zum Glück stand mein Rollator in Griffweite. Sofort zog ich das Ding zu mir hin, sodass ich mich mit beiden Händen daran festhalten konnte. Nachdem ich die Bremsen gelöst hatte, ging ich die paar Schritte langsam und bedächtig in mein Schlafzimmer hinüber. Auf dem Weg dorthin kam ich an der Toilette vorbei, aber den Gang dahin ersparte ich mir, denn es erschien mir unnötig und ich glaubte, dass die Windelhose die ich trug, noch nicht genug ausgelastet war. Endlich war es geschafft. Sofort ließ ich mich, mitsamt den Kleidern, langsam in mein Bett gleiten. Ich mochte mich nicht einmal mehr umziehen.
Die waagrechte Lage ist eine wirkliche Wohltat für meine Beine. Schnell verliert sich das Spannungsgefühl in den Waden, jedoch füllt sich dann flugs die Blase mit dem nach oben fließenden Wasser aus den Beinen. Meine Windelhosen vermögen solch eine Schwemme an Urin nicht aufzufangen. Ein beträchtlicher Teil fließt dann in mein Bett aus. Schon des Öfteren musste mir deswegen die Person von der Hauspflege die Bettwäsche wechseln und sogar die Matratze kehren.
Glücklicherweise werde ich nun täglich von der Hauspflege betreut. Mir wäre es nicht mehr möglich, selber meine Bettlaken zu wechseln. Bevor ich von der Hauspflege betreut wurde, schlug ich in meiner Not einfach die Bettlaken über das Bettgestell und ließ das Ganze den Tag durchtrocknen. Nicht immer vermochte bis am Abend alles zu trocknen, besonders die Matratze war mittlerweile ständig feucht. So legte ich einfach meine wollene Decke darüber. Die vermochte die Restfeuchte aufzunehmen, ohne dass ich das Gefühl verspürte, ich läge im Feuchten. Die Wolle ist nämlich von guter Qualität und ich konnte immer wunderbar darauf schlafen. Mein ausgeprägtes Schamgefühl hat es mir damals untersagt, es meiner Tochter zu erzählen, als sie mich nach langer Zeit wieder einmal besuchte. Gerne hätte ich sie damals gefragt, ob sie mir vielleicht die Bettwäsche wechseln würde? Sicherlich wäre es für sie kein Problem gewesen? Mir war es jedoch sowas von peinlich!
Mit Wehmut erinnere ich mich daran, wie ich noch vor ein paar Monaten nur mit einem Gehstock an der Hand, als stützende Begleitung, die Wohnung alleine verlassen konnte.
Meine Einkäufe erledigte ich noch ganz alleine und es tat mir gut, einmal täglich aus der Wohnung zu kommen, den Himmel zu sehen und die frische Luft zu spüren. Dabei verflüchtigten sich die immer wiederkehrenden Gedankengänge ein wenig!
Nur allzu gut bemerkte ich, wie sich meine Sehkraft und das Gehör in den letzten Jahren verschlimmerten, fast Viertel jährlich musste ich mir eine immer stärkere Brille zulegen. Manchmal brauchte ich sogar eine Lupe, um überhaupt das Wichtigste, nämlich das Kleingedruckte, noch lesen zu können. Wenn ich mir ein Haarshampoo kaufen wollte, verwechselte ich des Öfteren das Shampoo mit der Pflegespülung oder die Duschcreme mit der Körperlotion! Die Verpackungen sehen ja alle gleich aus und wenn ich die Lesebrille vergessen hatte, konnte ich nicht sehen, um was es sich tatsächlich handelte. Manchmal fragte ich mich, ob die Industrie diese Produkte extra für Leute wie mich herstellten?
Auch mein Gehör hat in letzter Zeit stark nachgelassen. Mehr als einmal verpasste ich Anrufe, weil ich das Klingeln des Telefons nicht hören konnte. Einmal im Monat hatte ich den Termin bei meinem Hausarzt, der gleich auf der gegenüberliegenden Straßenseite seine Praxis hat. Da wurde mir der Blutdruck gemessen und manchmal Blut abgenommen. Wichtiger als der Blutdruck waren für mich jedoch die paar Minuten, die sich mein Arzt Zeit nahm, um mit mir über alltägliche Dinge zu plaudern! Oder war ich diejenige, die plauderte? Im Wartezimmer fand sich oft auch jemand, mit dem ich mich kurz austauschen konnte. Viele Leute waren froh darüber, wenn sie mir von ihren Gebrechen berichten durften, um so mein Mitgefühl zu erhaschen. Wie heißt es so schön, „geteiltes Leid ist halbes Leid!“
Der letzte Besuch bei meinem Hausarzt gestaltete sich für mich als sehr schwierig. Fast nach jedem Schritt musste ich kurz innehalten, damit ich wieder zu Atem kam. Beim Überqueren der stark befahrenen Straße, verursachte mein langsamer Gang einen kleinen Stau. Mein Körper wirkte aufgedunsen. Als ich endlich die Praxis erreichte, war die Zeit für meinen Termin bereits vorbei. Zum Glück hat es mein Hausarzt mir nicht übel genommen, er quetschte mich sozusagen zwischen zwei andere Patienten. Leidvoll klagte ich ihm damals, dass ich mir neue Schuhe kaufen muss, weil meine Füße kaum mehr Platz darin fanden. Dabei ist es schon vorgekommen, dass ich mir die Schuhe gar nicht erst auszog, weil ich wusste, dass ich sie anderntags nicht wieder anziehen konnte. Denn die Wasserkissen, die sich tagsüber in den Füßen sowie den Beinen bildeten, gingen, wenn ich mich in der horizontalen Lage befand, nicht wieder zurück. Die Beine blieben geschwollen. Der Hausarzt hat mir gleich den Blutdruck gemessen, sich die Beine angeschaut und mir umgehend Torasemid-Tabletten verschrieben.
Er meinte dazu, dass diese Tabletten mir helfen würden, das viele Wasser im Körper auszuschwemmen und es mir dann bald wieder besser gehen werde. Dabei legte er mir auch nahe, endlich mit dem Rauchen auf zu hören! „Bla, bla, bla…!“ Dachte ich mir. Es ist ja nicht so, dass ich nicht aufhören könnte mit der Raucherei, vielmehr ist es für mich halt ein Genuss zu rauchen und manchmal auch das Einzige, woran ich mich erfreuen konnte. Auf keinen Fall wollte ich damit aufhören! Dann betupfte er mich gleich mit dem nächsten wunden Punkt, nämlich, ob ich mir überlegt habe, in ein Altersheim umzusiedeln? Ich erklärte ihm zum x-ten Mal, dass sowas für mich überhaupt nicht in Frage kommt! Nein, danke!
Die Arzthelferin hat mich darauf im Rollstuhl nach Hause geschoben, vorher holte sie noch die Wassertabletten in der Apotheke nebenan für mich ab. Sowas von nett! Ich dankte ihr von ganzem Herzen und, weil ich nichts weiter bei mir trug als die Zigarettenschachtel, bot ich ihr eine Zigarette an. Sie lehnte dankend ab.
Zurück in meinen vier Wänden schluckte ich gleich die erste Tablette, es dauerte nicht lange und ich musste mich dringend auf die Toilette begeben! Das Wasserlassen dauerte den ganzen Nachmittag über. Nach einer Stunde hatte ich kaum mehr die Kraft, um ständig von der Toilette ins Wohnzimmer und wieder zurückzugehen, so blieb ich einfach auf der Toilette sitzen, bis ich endlich bemerkte, dass der Harndrang nachließ.
Am nächsten Tag ging es mir schon deutlich besser. Dieses körperliche Hoch nutzte ich gleich, um in den Supermarkt zu eilen, wo ich mich mit dem Nötigsten eindecken konnte. Denn die letzte Woche verbrachte ich ausschließlich in der Wohnung. Dort angekommen, traf ich per Zufall eine alte Kollegin, der ich sofort von meinen neusten gebrechen erzählte und dass ich nun neue Pillen zum Einnehmen bekommen hätte. Darauf erklärte sie mir, dass sie vor langer Zeit auch solche Pillen von ihrem Arzt bekommen hätte, sie die aber längst abgesetzt hätte, weil die ihr Herzrasen und Übelkeit verursacht hätten.
Wieder zu Hause angekommen, meinte ich immer noch, diese Pillen würden Sinn machen! Als ich mir jedoch eine Tablette aus dem Blister drückte, um sie, wie verschrieben, hinunterzuschlucken, beschlichen mich Zweifel. Gestern hat mir diese eine Tablette derart viel Wasser abgeleitet, was kommt da heraus, wenn ich mir die nun täglich zweimal einwerfe?
Also legte ich die Packung in die Schublade zurück, ohne dass ich an diesem Tag eine Pille zu mir genommen hätte. In der nächsten Nacht träumte ich prompt, wie ich nach der Einnahme dieser Tabletten mit einem Schrumpfkopf aufgewacht bin und ich zum Einkaufen gehen musste. Die Leute im Supermarkt starrten mich alle entsetzt an und tuschelten ungeniert hinter meinem Rücken. Alle gingen sie mir aus dem Weg und versteckten sich hinter den Regalen! Wahrscheinlich meinten sie, ich sei ein Zombie? Bevor ich gänzlich zur Mumie wurde, konnte ich endlich aufwachen und war heilfroh darüber, dass dies nur ein Traum gewesen war! Jedoch war für mich sofort klar, diese Pillen waren sicher imstande, meinen ganzen Körper trocken zu legen. Und noch etwas anderes bereitete mir Sorgen; da ich ja schon ohne diese Pillen undicht war, was das Pinkeln anbelangte, konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich dieser Schwemme Herr werden könnte, wenn ich mal nicht zu Hause war? Folglich konnte ich mir gut vorstellen, dass sich meine Inkontinenz durch die Wassertabletten noch verstärken würde. Für meine Begriffe waren da die aufgeschwemmten Beine das kleinere Übel!

Das könnte ihnen auch gefallen :

Ver-rücktes Erwachen

Charles William Widtown

Tag der Drachen

Buchbewertung:
*Pflichtfelder