Spiegelwelt

Spiegelwelt

Antonia Jechnerer


EUR 12,90
EUR 7,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 244
ISBN: 978-3-99064-991-6
Erscheinungsdatum: 29.06.2020
Was macht man, wenn die Personen der eigenen Phantasie auf einmal Wirklichkeit werden? Entweder man hält es für eine ausgemachte Träumerei und ein Hirngespinst - oder man folgt ihnen und lässt sich ein auf eine neue Welt. Die siebzehnjährige Alice macht genau das ...

Der Brief meiner Verzweiflung

Beep, beep, beep.
Das war der Wecker. Gut, dann mal aufstehen, wenigstens war es der letzte Schultag vor den Weihnachtsferien, ein kleiner, aber bedeutender Funke Hoffnung.
Müde und noch immer verschlafen setzte ich mich in meinem Bett auf und streckte mich. Ich wollte nicht in die Schule, nicht noch die letzte Prüfung schreiben, sondern viel lieber hier in meinem warmen, bequemen und gemütlichen Bett weiterschlummern und schon in den Ferien sein. Mit ganz viel Schnee, guter Laune, dem Gefühl von Freiheit und der Leichtigkeit, mit der man sich bewegt. All das werde ich in wenigen Stunden erreicht haben – zumindest fast alles, geschneit hatte es bis jetzt noch immer nicht, aber ich war guter Dinge und glaubte noch an Wunder. Wenn ich zaubern könnte, dann würde ich ihn jetzt herbeizaubern. Kleine, kalte, aber wunderschöne Kristalle, die sich ihren Weg auf die Erde machten, um die Landschaften in glitzerndes Weiß zu hüllen.
Langsam bewegte ich mich in Richtung Fenster, um die beigefarbenen, großen Vorhänge aufzuziehen, die mir die Sicht auf den Wald versperrten, in der Hoffnung, es hätte doch geschneit, wenigstens ein bisschen.
Doch nichts, stattdessen regnete es, dass man meinen könnte, die Welt würde untergehen.
Klasse, bei dem Wetter musste ich in die Schule laufen. Mir blieb auch nichts vergönnt.
Gerade war ich dabei gewesen, eines der zwei Fenster zu kippen, damit die kühle Luft in mein Zimmer gelangen konnte, da klimperte mein selbst gebasteltes Mobile.
Ich war damals in die erste Klasse gekommen und hatte es mit meinem Vater am vorherigen Tag zusammengeklebt. Ein Lächeln umspielte meine Lippen, als ich mich an den Tag zurückerinnerte. Nichts hatte auch nur annähernd so geklappt, wie ich es wollte oder mir gar vorzustellen geträumt hatte.
Ich hatte auf den Boden gestampft und gesagt, alles sei ungerecht, die Welt solle doch Rücksicht auf ein so kleines Mädchen wie mich nehmen. Mein Vater gab mir dann eine Antwort, mit der ich so gar nicht zufrieden war. Er hatte gesagt, es läge im Auge des Betrachters. Ich hätte ein so schönes Mobile mit ihm zusammen erschaffen, auf das ich ehrlich stolz sein konnte. Ich war damals erst sieben geworden und wollte schon die Welt verändern.
Wenn ich es genauer betrachtete, war es wahrhaftig bezaubernd. Ich hatte damals verschiedenartiges, buntes Glas benutzt und kleine Gänseblümchen durch die Löcher gesteckt, wo auch zugleich die Schnur ihren Weg hindurch fand. Einige der Glasscherben glitzerten sogar, auf diese war ich besonders stolz.
Ich verließ mein Zimmer und ging die enge Wendeltreppe von meinem Zimmer in die Küche hinunter. Es duftete schon großartig, und ich ertappte mich dabei, wie ich darüber nachdachte, ob es heute wieder selbst gebackene Croissants mit Pfirsichmarmelade geben würde. Das war schon mein Lieblingsfrühstück gewesen, als ich vier Jahre alt war. Damals hatte ich mich immer heimlich in die Bäckerei meines Vaters geschlichen und die Hörnchen genommen und unter meinem Pullover versteckt. Eines Tages hatte er mich dann dabei erwischt und mit erhobenem Finger spaßig geschimpft.
Ein breites Grinsen machte sich auf meinem Mund breit, und ich setzte mich auf den Stuhl gegenüber meiner Mutter. Sie lächelte mich an und stand auf, um mir ein Glas mit frischem Orangensaft zu geben. Wir sprachen kaum darüber, doch ich wusste, was sie dachte.
Ohne mit der Wimper zu zucken trank ich den Saft mit der zugehörigen Tablette bis auf den letzten Tropfen leer. Ich wusste, dass sie mit sich rang, ob sie nun stolz auf mich sein sollte, da ich es so nahm, wie es war, oder ob sie daran zweifelte, ob das der richtige Weg sei, zu gehen. Um ehrlich zu sein, ich wusste die Antwort selbst nicht.
Sie war nun eben eine besorgte Mutter, die sich um ihr Kind zu sorgen wusste. Mit hier und da einer kleinen Übertreibung musste ich gelegentlich rechnen, doch mittlerweile störte mich das nicht mehr so sehr wie noch vor ein paar Monaten.
Es war schwer, eine so fortgeschrittene Krankheit zu heilen versuchen, wie ich sie hatte. Ich gebe zu, dass ich es so hinnahm und nur selten, wenn ich mich gar nicht mehr unter Kontrolle hatte, mir einen kleinen oder eher etwas größeren Anfall erlaubte, wobei das Wort „erlauben“ wohl nicht ganz richtig war. In Wahrheit konnte ich mich dagegen wehren, wenn mir alles über den Kopf stieg. Das Einzige, was mir in einer solchen Situation blieb, war, einen, so gut es ging, kühlen Kopf zu bewahren und durchzuatmen. Wobei ein kühler Kopf bei einem siebzehnjährigen Mädchen mit Wahnvorstellungen schier unmöglich schien, aber der Weg war mein Ziel, wenn ich es versuchte, konnte ich Fortschritte machen.
„Guten Morgen, Alice“, sagte mein Vater und stellte mir meinen geheimen Frühstückswunsch vor mir auf den Tisch.
Nachdem ich aufgegessen und mich angezogen hatte, holte ich wirr meine im Zimmer verstreuten Schulbücher und Hefte und stopfte sie in meine alte und halb kaputte bunte Umhängetasche und ging abermals die Treppen hinunter. Nun stand ich vor dem Spiegel und sah ein kleines, schmächtiges Mädchen darin. Das konnte nicht ich sein, nein, doch alles überzeugte mich vom Gegenteil: Die blau-grauen leeren Augen und die langen, aschblonden lockigen Haare, die mittlerweile bis zu meinem Hosenbund reichten. Die blasse Haut und die Augenringe, die schmutzige Stoffhose, die eigentlich rosa und nicht eine Mischung aus rosa und undefinierbarem Schmutz sein sollte.
Jetzt wusste ich, warum meine Mutter diesen Gesichtsausdruck mit Furcht in den Augen gehabt hatte – ich sah grauenhaft aus, aber so fühlte ich mich nun mal wohl, so war ich.
Meinen viel zu großen Regenmantel stülpte ich mir über den Kopf, mit der Hoffnung, die Kapuze würde es nicht wegwehen, und verließ das Haus. Ich traute meinen Augen kaum, aus dem nassen und kalten Regen ist matschiger Schneeregen geworden!
Die Regenkapuze durch die Hände weit nach vorne haltend, trat ich das letzte Mal in diesem Jahr meinen Weg zur Schule an. Schnelle Schritte sollten die Zeit verringern, die ich brauchte, um anzukommen.
Der Regen schlug mir wie eine Peitsche ins Gesicht, und das bisschen Schnee gab mir den Rest. Ich hatte eigentlich nichts gegen Wasser oder Regen, jedoch hasste ich es, wenn ich in Eile schnell in die Schule musste und mir Schneeregen dann die Sicht nahm. Ich wusste nicht, ob ein Auto kam, da sich das Wetter immer mehr zu verschlechtern schien, und überquerte die Straße. Meine dunklen ausgetretenen Stiefel, die nur bis zu den Knöcheln reichten, wurden allmählich nass und meine zwei unterschiedlichen Socken ebenfalls. Die Pfütze, die ich gerade übersehen hatte, machte es nicht besser. Nun war auch meine schon schmutzige Hose noch ein bisschen dreckiger geworden. Wenigstens hatte ich die Straße ohne einen Unfall überqueren können. Doch mein Hauch Glück wendete sich, als ein Fahrrad an mir vorbeifuhr und mit dem Lenker an meiner rechten Schulter hängen blieb und mir dabei die Tasche wegriss. Die Bändel, die ich selbst schon mehrere Male angenäht hatte, rissen und ebenfalls ein Stück des Stoffs der Tasche. Ein gewaltiges Loch, das die Hälfte der Oberfläche einnahm, in meinem Beutel und eine klitschnasse Alice waren das Ergebnis des Geschehnisses, welches sich gerade ereignet hatte. Wenigstens – ratsch.
Die Bücher! Sie waren mit meinen Heften herausgefallen und lagen nun auf dem nassen, dreckigen Asphalt. Schnell hob ich sie auf und klemmte sie mir unter den rechten Arm, während die Tasche im Griff meiner linken Faust war.
Okay Alice, du hast noch genügend Zeit, rechtzeitig im Unterricht zu erscheinen, keine Sorge.
Ich sah auf meine Uhr, und sie zeigte 3:46 Uhr an. Sie war wohl in der Nacht stehen geblieben. Ich schaffte es trotz alledem hier noch pünktlich … hoffentlich.
Als ich mich gerade wieder aufrichten wollte, um auf die Kirchturmuhr zu sehen, rempelte mich eine Gestalt meiner Fantasie an. Das wusste ich, weil sie keine Schatten hatten, und diesmal hatte ich nicht einmal auf den Schatten zu schauen brauchen, denn er war glibberig und durchsichtig, definitiv ein Geist. Ich konnte gerade noch mein Gleichgewicht halten, ehe ich auf den nassen und kalten Gehweg gefallen wäre.
„He!“, brüllte ich ihm nach.
Ich zog es normalerweise vor, Augenkontakt, Nähe und vor allem Gespräche zu meiden, aber nicht dieses Mal. Mein Therapeut sagte mir, würde ich mit Einbildungen reden oder Kontakt aufnehmen, halte er meine Heilung für unmöglich. Außerdem, hatte er gesagt, seien sie ja nicht einmal real, was ich wusste, sie waren Wahnvorstellungen. Sie würden außerdem auch gar nicht mit mir reden wollen, sie könnten es gar nicht. Sie könnten mich gar nicht sehen, hatte er gesagt. Doch das war eine Lüge. Ich hatte schon im Kindesalter immer mit ihnen gesprochen, gelacht und rumgealbert. Viele waren sehr nett, aber es gab auch einige, die mir Angst bereiteten. Bei dem hier war es mir aber egal, ich war spät dran, schmutzig, durchgefroren und zu guter Letzt mal wieder mit den Nerven am Ende. Und die Schule hatte noch nicht einmal angefangen.
Er drehte sich um und sah mich verdutzt an. Der Geist war wie versteinert und mindestens so überrascht wie ich.
Ich war unsicher, was ich nun tun sollte, also ging ich einfach ein paar Schritte auf ihn zu und wartete ab, was er tat oder sagte. Aber nichts dergleichen geschah. Ich hatte meine Füße weder in Bewegung gesetzt noch hatte ich meinen Mund aufbekommen, ich stand da und starrte ihn an und er mich. Noch nie war ich so perplex in Gegenwart einer Wahnvorstellung gewesen. Ich sah ihn mir genauer an, normalerweise tat ich das auch nicht, aber da niemand von uns auch nur zu atmen wagte – und mir langsam die Luft weg blieb -, musste ich mich irgendwie ablenken, und das tat ich, indem ich ihn musterte. Er war auf jeden Fall mindestens einen Kopf größer als ich, also so 1,80 Meter, der Geist war ein Mann, oder eher gesagt ein jüngerer Erwachsener. Wäre er ein Mensch, würde ich ihn auf zwanzig schätzen. Nun gut, er hatte längeres Haar und eine Brille. Würde ich es nicht besser wissen, hätte ich sagen können, er wäre genauso in Eile gewesen, wie ich es noch vor wenigen Augenblicken gewesen war – und immer noch sein sollte. Das erkannte ich daran, dass seine Frisur recht zerzaust aussah, und er hatte seinen Gürtel nicht richtig geschlossen, denn der war jetzt offen. In seiner rechten Hand hielt er ein zerknittertes Stück Papier, welches, wenn ich genauer hinsah, eine Art von Brief war und in einem Umschlag steckte. Was darauf stand, konnte ich nicht erkennen.
Nun aber Schluss mit dem Anschweigen, sonst würde ich vor der Pause gar nicht mehr in den Unterricht kommen, und das würde mir mehr als zwei Wochen Nachsitzen einbringen, die ich höchstwahrscheinlich bekommen werde, habe ich keine gute Ausrede oder einen guten Grund – oder beides.
Nach einer weiteren Schweigeminute ging ich einen Schritt auf ihn zu, und er zuckte zusammen. Ein zweiter und dritter gelang mir, ich ging so lange weiter, bis ich nur noch einen Meter von ihm entfernt war. Was in seinem Kopf gerade vorging, konnte ich weder wissen noch erahnen.
„Tut … tut mir leid, dass ich dich angerempelt habe“, bekam er gezwungen heraus.
„Schon okay, ich bin nur spät dran …“
„Du auch? Aber was machst du dann hier?“
Ja, was ich hier machte, war ganz einfach, ich redete mit einem Geist, der nicht existierte und zugleich seltsame Fragen stellte, die ich nicht verstand. Warum war er überhaupt so … ich konnte kein passendes Wort finden – vielleicht angespannt, irritiert, ahnungslos. Ja, das Letzte traf wahrscheinlich am besten zu.
„Ich verstehe nicht, was du meinst, ich war auf dem Weg zur Schule und dann … ach egal, dann hast du mich gestoßen.“
„Ja, das wollte ich nicht, wie gesagt, entschuldige vielmals, aber wie willst du denn …“. Er unterbrach sich selbst und sah mich genauer an, gleich darauf sah der Geist auf den Brief in seiner Faust.
„Ich bin übrigens Gage Price.“
Er streckte mir seine Hand entgegen. Ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Geist berührt, und ganz nebenbei – meine kleinen Fortschritte wären dann den Bach runter- gelaufen. Jedoch sah er mich so erwartungsvoll an, und ich wollte schnell weiter in die Schule. Also gut, ich würde mich kurz vorstellen und dann weitergehen, damit ich eine Toilette finden konnte, in der ich meine Haare wenigstens ein wenig auswringen konnte.
„Alice Bloomfield“, sagte ich kurz angebunden.
„Freut mich, aber ich muss ehrlich weiter, sonst verpass ich meine Prüfung.“
Ich schenkte ihm ein schnelles Lächeln und ergriff die Flucht.
„Alice, warte bitte!“
Er packte mich am Handgelenk, sein Griff war fest.
Ich ahnte nichts Gutes.
Was mich dazu veranlasst hatte, zu bleiben und nicht gleich das Weite zu suchen, als wir noch geschwiegen hatten, wusste ich nicht. Normalerweise war ich sehr schüchtern und sagte kaum mehr als nötig. So wie noch vor wenigen Sekunden. Mehr als meinen Namen brauchte er nicht über mich zu wissen. Ich wurde unruhig und wollte endlich gehen, doch es schien unmöglich, mich aus seinem Griff zu befreien.
„Was?“, fragte ich verzweifelt.
„Ich bringe dich in die Schule, ich habe dort noch was zu erledigen, und wenn ich das nicht in den nächsten Minuten abgehakt habe, macht mir Preston die Hölle heiß.“
Er hatte in meiner Schule noch was zu erledigen? Und wer war Preston? Jetzt stieg mir alles über den Kopf, so viel war klar, ich tickte nicht mehr ganz richtig. Um nichts in der Welt würde ich mit ihm mitgehen. Gage hielt immer noch meine Hand, wo mir auffiel, dass sie sich anfühlte wie eine ganz normale Hand, nicht irgendwie eklig oder schleimig, nein, so wie meine.
„Danke, aber nein.“
In meinem Kopf machten sich Gedanken breit, an die ich noch nie gedacht hatte, sie machten mir Angst, und ich wollte sie verdrängen. Mit einem gezwungenen Lächeln und viel Kraft schaffte ich es, mich von seinem Griff zu befreien. Mir war gar nicht aufgefallen, dass es aufgehört hatte zu regnen, wenigstens wurden meine Haare dann nicht noch nasser. So wie es den Anschein hatte, wollte er mir nicht ganz zuhören, doch irgendwas in mir sagte: Ja, geh mit ihm.
Dann nickte ich. In der nächsten Sekunde hellte sich seine Miene auf, und wir machten uns auf den Weg in die Schule. Es dauerte nicht mehr lange, und meine Prüfung würde anfangen, das machte mich ungeduldig. Ich war nämlich eine Niete in Mathe und durfte diesen Test nicht vermasseln.
Endlich waren wir vor dem Gebäude, das sich Hauptschule nannte, angekommen. Ich hasste es, der Anblick widerte mich an, doch ich war froh, endlich von dem Spinner weg zu sein und öffnete die Tür, um geradewegs mein Klassenzimmer aufzusuchen. Wenigstens ließ er mich jetzt in Ruhe, endlich.
Die Schulklingel schallte durch die Aula, und Panik stieg in mir auf. Ich musste so schnell wie möglich in mein Klassenzimmer kommen und nahm die Beine in die Hand. Wie viel Uhr genau es war, wusste ich nicht, das war mir vollkommen egal, Hauptsache, ich kam noch rechtzeitig. Ich stürmte den langen Gang entlang und bog scharf links ab, wobei ich fast mit einem Fünftklässler zusammengestoßen wäre. Abrupt machte ich halt, das Herz schlug mir bis zum Hals, und mein Atem rasselte. Er meckerte mich an, ich solle doch aufpassen, wo ich hinrenne und die Augen aufmachen. Ich konnte nun mal nicht um die Ecke denken, kleiner Klugscheißer. Wenigstens machte ich mein Klassenzimmer vor mir aus, und unseren Englischlehrer – nein, das konnte nicht sein, unmöglich, ich hatte Englisch erst nach Mathe, das hieß … Ich hatte meine Prüfung verpasst, ich war geliefert. Er sah mich mit funkelnden Augen an, das konnte nichts Gutes heißen, Ärger, Nachsitzen und mit viel Pech ein Verweis, das stand alles auf der Tageskarte und würde mich in Kürze erwarten.
„Alice, wo waren Sie, und warum tauchen Sie erst jetzt auf?“, sagte er in angespitztem, lautem Ton.
„Ich … ehm, also ich war gerade auf dem Weg gewesen, da …“ Weiter wusste ich nicht. Ich brauchte nicht mit dem Argument anzukommen, dass ein Geist meiner schizophrenen Fantasie mich aufgehalten und ein Pläuschchen mit mir geführt hatte, das stand völlig außer Frage. Doch wo bekam ich auf die Schnelle etwas Realistisches und Glaubhaftes her?
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, Herr Müller, Alice trägt keine Schuld, die liegt ganz allein bei mir.“
Adrenalin strömte in mir hoch, als ich die Stimme meiner Einbildung hörte. Was wollte er damit bezwecken, außer mich völlig fertigzumachen?
„Mister Price? Was für eine Überraschung! Okay, dann … sehe ich mal darüber hinweg.“ Jetzt richtete er sich genau an mich. „Die Prüfung wird wiederholt, in der letzten Stunde“, sagte er trotzig, bemüht, herrisch zu klingen.
Ich war überwältigt, das konnte gerade nicht wirklich geschehen sein, absolut ausgeschlossen. Meine Wahnvorstellung hatte mit Herrn Müller geredet und ihn umstimmen können und ihn auch noch gekannt! Wie konnte das möglich sein? Ich musste träumen, nur so war das alles zu erklären, aber auch das war auszuschließen, denn als mich Gage gestoßen hatte, hatte ich das gespürt. Mist, okay, gut überlegen, was gab es noch für Alternativen? Mir fiel beim besten Willen nichts Gescheites ein, mir fiel überhaupt nichts ein. Und warum hatte er ihn Mister genannt, war er Engländer? Mein Name war auch englisch, aber ich wurde nicht mit Mrs. angesprochen. Das war aber auch verständlich, ich war schließlich erst siebzehn. Mein Gehirn machte sich über Dinge Gedanken, die völlig irrelevant waren, das lag jedoch an meiner Krankheit, hoffte ich jedenfalls. Total irritiert folgte ich meinem Lehrer ins Klassenzimmer und setzte mich in die erste Reihe auf meinen Platz. Die gesamte Stunde verbrachte ich damit, darüber nachzudenken, was das alles zu bedeuten hatte. Wie bitte, wie war es möglich, dass er ihn hatte sehen können? Er war eine meiner Einbildungen, und das konnte ich ziemlich genau sagen, da ich sie schon als Kleinkind sehen konnte. War Herr Müller auch schizophren? Nein, er war normal, sonst hätte er sich erst gar nicht von ihm umstimmen lassen.
Die restlichen Stunden zerbrach ich mir dem Kopf darüber, wie dergleichen möglich war, nämlich gar nicht! Das half mir im Grunde auch nicht weiter, und als es dann zur letzten Stunde läutete, musste ich noch einmal tief Luft holen, Kraft schöpfen, diesmal nicht durchzufallen. Alice, reiß dich zusammen, du kriegst das irgendwie hin, ganz sicher.
Der kleine und viel zu enge Korridor schien mir unendlich lang, und ich zog den Gedanken in Erwägung, umzukehren. Ein Schritt links, ein Schritt rechts, und immer so weiter. Ich musste ganz präzise denken, doch ging mir Gage nicht mehr aus dem Kopf. Ich atmete ein letztes Mal kräftig durch und schloss die Augen, als ich sie jedoch wieder öffnete, ließ ich einen Schrei los und sprang fast einen halben Meter in die Höhe.
„Es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken, Alice. Ich wollte dir lediglich gutes Gelingen wünschen für deine Matheprüfung – und dich noch ein Stück begleiten, weil ich auch in die Richtung muss.“ Er lächelte mich an.
Ich konnte ihn nicht recht einschätzen, so förmlich und strikt, dass man glauben möge, er sei Lehrer für Hochbegabte, jedoch zugleich genauso normal wie jeder andere auch. Seine Art, wie er sich gab, seine Worte wählte, die so unterschiedlich und verschiedener nicht sein konnten, er faszinierte mich – und ich starrte ihn ununterbrochen an. Das war schlecht, ich durfte mich nicht wieder auf irreale Wesen einlassen, meine Eltern hatten gerade wieder Hoffnung für ein echtes Leben für mich geschöpft, und das sollte er nicht ruinieren. Doch schon, wie er neben mir ging, als würde er über dem Boden unter seinen Füßen schweben …
„Sind Sie Engländer?“, fragte ich.
„Sind Sie es denn?“ Er grinste, „Ja, ich wurde in England geboren. Es ist sehr schön dort, wenn man die richtigen Orte kennt.“
„Warum sind Sie dann gegangen?“
Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass er mich bei unserer Begegnung vor wenigen Minuten auch schon mit „Sie“ angesprochen hatte. Das war alles sonderbar.
„Nun ja, ich bekam eine Stelle, um die ich mich beworben hatte, und wollte mir die Chance nicht entgehen lassen, und außerdem …“ Er holte tief Luft. „Ich wollte schon immer die Welt sehen.“
5 Sterne
Genial - 30.06.2020
Bub

Fesselnd. Man liest und taucht direkt in eine andere Welt ein. Die Autorin schafft es, mir alles bildlich vorstellen zu können. Nach zwei Tagen war ich sehr traurig, weil ich es verschlungen habe. Hoffentlich kommt noch ein zweiter Teil!

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