Samuel – Ein Weg durch Licht und Schatten
Susanne Willeke
EUR 18,90
EUR 11,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 368
ISBN: 978-3-95840-613-1
Erscheinungsdatum: 07.05.2018
Ein finsterer Engel, ein einsames Mädchen, eine junge Dämonin und eine Welt im Wandel. Eine Schicksalsgemeinschaft ist auf der Suche nach Wahrheit und Recht. Doch der Krieg eilt ihnen voraus und die Vergangenheit heftet sich an ihre Fersen.
Der Mond kam gerade zum Vorschein, als Samuel sich wieder auf den Boden sinken ließ. Er machte drei oder vier schnelle Flügelschläge, um seinen Schwung zu bremsen, und landete dann mit gebeugten Knien. Er war bei der Landung beobachtet worden. Ein Mann trat aus dem Schatten und ging zu dem Engel, vorsichtig, denn obwohl ihm Samuel nur Gutes getan hatte, fürchtete er sich immer noch vor ihm. Samuel wartete, bis der Mensch näher trat, er war etwas rundlich und hatte ein freundliches Gesicht, das schon von dünner werdenden Haaren umrandet wurde. „H-hallo, Samuel“, stotterte er. „Korbinian“, begrüßte der Engel den Neuankömmling. Der Mann trat unsicher noch einen Schritt vor, seine Hände umklammerten den Rand seiner Schürze. Innerlich aufseufzend reichte Samuel ihm die Hand. „Wollen wir wohin gehen, wo wir uns in Ruhe unterhalten können?“, fragte er dann. „Ja, aber“, Korbinian fasste sich ein Herz, „ich kann nicht so lange. Es ist schon sehr spät, ich muss in der Bäckerei bald einheizen.“ „Ich verstehe. Es ist nicht weit“, nickte Samuel. Der Bäcker atmete auf. Einen kurzen Fußmarsch später betraten sie das Henkersbeil, Korbinian atmete schwer von dem Aufstieg. Sie setzten sich an Samuels Stammplatz und der Engel bat Raan um einen Krug Wasser und zwei Becher. Korbinian trank mit großen Schlucken, dann setzte er seinen Becher ab und sah sich nervös um. „Wie geht es dem Geschäft und der Familie?“, erkundigte sich Samuel. Korbinian lächelte versonnen. „Gut, sehr gut, allen beiden. Das Geschäft läuft ausgezeichnet. Ich habe mittlerweile eine gute Stammkundschaft und viel zu tun, obwohl die Leute alle sehr freundlich sind. Der Familie geht es prächtig. Elena hat viel zu tun mit den beiden Kleinen, aber Tobias wird ja schon acht. Er …“ Korbinian wollte gerade ansetzen, von seinem Ältesten zu erzählen, als ihm einfiel, dass er aus ganz anderen Gründen da war. „Aber einem Bekannten von mir geht es nicht gut. Er hat eine Metzgerei und jede Nacht lauert eine Horde Dämonen vor der Tür. Sie werfen mit Steinen, er musste schon ein Fenster vernageln, weil die Scheibe eingeworfen wurde. Er hat wirklich Angst, er wohnt über dem Laden und fürchtet, dass sie sich nicht mit dem Geschäft unten zufriedengeben, wenn sie mal durch die Tür kommen. Er war gestern bei mir und sagt, sie werden jede Nacht aggressiver.“ Er schwieg kurz und fügte dann schnell hinzu: „Ich will nur sagen, als du mich damals gerettet hast, hast du gesagt, du machst das gerne, und wenn mir etwas zu Ohren kommt …“ „Es ist gut, Korbinian, danke, dass du mir davon erzählt hast“, fiel ihm der Engel schnell ins Wort. „Ich werde mich auf alle Fälle darum kümmern. Wo ist das Haus deines Bekannten?“ „Was? Oh, danke, Samuel! Er hat wirklich Angst. Das Haus liegt in der Berghofgasse, im Nordwesten der Stadt.“ Samuel nickte langsam. Die Viertel, die zum Großteil von Dämonen bevölkert waren, lagen nicht weit von dort entfernt. „Ich werde mich morgen Nacht damit befassen.“ Korbinian bedankte sich noch einmal herzlich, dann fiel sein Blick aus dem Fenster. „Oh, es tut mir leid, aber ich muss …“ „Du musst dich nicht entschuldigen, geh ruhig“, fiel ihm Samuel abermals ins Wort. Korbinian murmelte einen Dank und verabschiedete sich. Dann verließ er mit hastigen Schritten das Henkersbeil. Als er vor der Tür stand, atmete er tief durch und machte sich dann auf den Weg, hinaus aus dieser finsteren Welt und in seine vertraute Backstube.
Samuel blieb noch eine Weile sitzen und schmiedete einen Plan, bevor er schließlich aufbrach. Die Nacht war schon fortgeschritten, am östlichen Horizont zeigte sich bereits der erste Schimmer der Morgendämmerung, als er bei dem verfallenen Haus ankam. Er hatte einen Plan für die nächste Nacht und würde ein wenig früher aufstehen als sonst.
Im späten Nachmittagslicht saß der Engel wie ein Wasserspeier auf einem Dach und betrachtete das Treiben unter sich. Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen und suchte deshalb auf diese Weise nach dem Dämon. Als er ihn endlich entdeckte, wartete er, bis dieser sich in eine der weniger belebten Gassen davonmachte, um sich dann vom Dach fallen zu lassen. „Zif!“ Mit gebleckten Zähnen, eines der Messer, die er in seiner Kleidung versteckt trug, in seiner Hand, wirbelte der Dämon herum. Samuel zuckte zurück und griff unwillkürlich nach seinem eigenen Schwert, als sich Zif auch schon entspannte. „Samuel, hast du mich erschreckt!“ „Das hat man gesehen“, gab der Engel amüsiert zurück. „Ich brauche deine Hilfe.“ „Was krieg ich dafür?“, fragte Zif schnippisch. „Das werden wir sehen, wenn dein Auftrag erledigt ist“, sagte Samuel bestimmt, dann berichtete er, worum es sich handelte. Zifs Blick wurde hart. „Diese Idioten!“, zischte er. „Trottel wie die sind der Grund, warum mich Händler immer noch mit Fußtritten verscheuchen, wenn ich etwas kaufen will, weil sie denken, ich räume ihren Stand aus, wenn sie sich umdrehen und schneide ihnen dann die Kehle durch. Keine Bezahlung diesmal, das geht mich auch etwas an.“ Samuel nickte und beschrieb ihm dann den Plan, den er gefasst hatte. Zif war einverstanden, und so postierten sich die beiden im letzten Licht des Tages in Sichtweite des Ladens und warteten. Es war noch nicht lange dunkel, als eine Horde grölender jugendlicher Dämonen auftauchte. Wie Korbinian beschrieben hatte, machten sie einen Heidenlärm, schrien zu dem Fenster des Metzgers hinauf, warfen mit Steinen, beschmierten das übrige Schaufenster und versuchten, in den Laden zu kommen. Zif stieß ein wütendes Knurren aus. „Ganz ruhig“, redete Samuel auf ihn ein. „Geh jetzt und beeil dich. Ich werde aufpassen, dass sie nicht verschwinden und es nicht übertreiben.“ Zif nickte angespannt und huschte in die Seitengasse, leise zuerst, aber als er einige Entfernung zwischen sich und den Schauplatz gebracht hatte, rannte er los, so schnell ihn seine Beine trugen.
Samuel stand da und beobachtete, wie die jungen Dämonen sich stritten und rauften, während zwei immer noch auf die Tür einschlugen. Plötzlich kam ein weiterer aus dem Schatten, ein verbogenes Metallstück in der Hand. Aus der Entfernung hörte der Engel sie rufen. „Schaut mal, was ich gefunden habe!“ Ein anderer nahm dem Sprecher die Metallstange aus der Hand. „Das können wir als Brecheisen benutzen.“ „Oder die Scheiben damit einschlagen!“, schlug ein anderer kichernd vor. „Dann gibt es heute endlich was zu fressen, ich bin am Verhungern“, beklagte sich die helle Stimme eines Mädchens. Sie stellten sich im Kreis um die Tür auf und der größte von ihnen setzte das Brecheisen an. Samuel sah, wie der Vorhang im zweiten Stock schwankte und ein verängstigtes Gesicht einen Blick nach draußen warf, bevor es sich zurückzog. Der Engel beschloss, dass es jetzt Zeit war, einzugreifen. Schnellen Schrittes trat er auf die Straße hinaus. Die Gruppe Jugendlicher war so in ihr Tun vertieft, dass sie ihn erst bemerkten, als er sich hinter ihnen aufgebaut hatte und mit durchdringender Stimme rief: „Halt!“
Zif sah sich zu beiden Seiten um, bevor er über die letzte Straße huschte und an die Tür hämmerte. „Kassiopeia, mach auf! Bitte, es ist wichtig!“ Die Tür öffnete sich und ein ängstliches Gesicht sah unter einer buschigen schwarzen Mähne zu ihm auf. Zif lächelte verkrampft. „Hallo, Persephone. Ist deine Mutter da?“ „Sie ist.“ Die Tür ging weiter auf und enthüllte die Gestalt von Kassiopeia. „Was soll der Radau, Zif? Was ist los?“ „Da sind ein paar Idioten, sie versuchen, einzubrechen und der Händler hat Angst und deshalb verkauft mir keiner was!“, sprudelte es aus dem aufgeregten Jungen. „Bitte was?“ Kassiopeia zog verwirrt und verärgert die Augenbrauen zusammen. Zif atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen. „Da ist eine Gruppe Jugendliche, welche von uns. Sie terrorisieren einen Händler, so wie es aussah, nicht zum ersten Mal. Sie versuchen, in seine Metzgerei einzubrechen.“ Zif ballte die Fäuste. „Solche Idioten sind schuld daran, dass wir auf der Straße immer noch böse angeschaut werden!“ Kassiopeia verstand ihn. „Wir gehen sofort los. Denen werde ich das Fell gerben. Geh zu Papa, Persephone. Ich bin bald wieder da.“ Dann trat sie zu Zif auf die Straße. „Welche Richtung?“, wollte sie wissen. Zif zeigte mit dem Finger die gegenüberliegende Gasse hoch und mit schnellen Schritten machte sich die Dämonin auf den Weg. „Wollen wir niemand anderes mitnehmen?“, fragte Zif, als er sie eingeholt hatte. Kassiopeia schüttelte grimmig den Kopf. „Das dauert zu lange. Mit denen werde ich schon alleine fertig. Bei Luzifers Barthaaren, die werden sich noch wünschen, brav daheim geblieben zu sein!“ Die beiden Dämonen hasteten durch die Straßen.
Erschrocken wirbelten die jungen Dämonen herum und sahen sich dem Engel gegenüber. „Was willst du hier? Verschwinde!“, zischte einer von ihnen. Er schaute einmal kurz nach links und einmal nach rechts und seine Freunde verteilten sich um den Engel. Ein bedrohliches Knurren kam aus ihren Mündern. Ihre Augen leuchteten schwach in der Dunkelheit. Samuel blieb ruhig stehen, keine Spur von Angst zeigend. „Lasst den Blödsinn. Der Mann hat euch nichts getan.“ Der Dämon vor ihm stieß ein zischendes Lachen durch hervorstehende Hauer aus. Seine krallenbewehrten Hände klammerten sich um das Brecheisen. „Nichts getan? Ha! Die Menschen denken doch alle, wir sind nur Abschaum. Keinen interessiert es, was mit einem Dämon passiert. Wir zahlen es ihnen nur mit gleicher Münze heim!“ „Und du denkst wirklich, dadurch wird irgendetwas besser?“, fragte Samuel ruhig. „Besser? Es wird nie besser werden! Kassiopeia wird von diesem Engel-Bastard und dieser Witzfigur von einem Fürsten doch nur ausgelacht. Wie soll denn jemals etwas besser werden? Wenn wir uns nicht um uns selbst kümmern, dann tut es keiner. Und du“, seine wütenden Augen bohrten sich in Samuels, „du bist im Weg.“ Er hob das Brecheisen, täuschte an und ließ es dann auf Samuels Hüfte zuschießen. Der Engel machte einen Satz nach hinten, wurde aber von zwei anderen Dämonen, die hinter ihm standen, zurückgestoßen. Der erste Jugendliche stand in gebückter Angriffshaltung da, er knurrte den Engel an. Samuel machte sich bereit, sich zu verteidigen. Die Gruppe um sie herum begann, ihren Anführer anzufeuern, als dieser wieder angriff. Samuel fing das Brecheisen im Schlag und versuchte, es festzuhalten, während er seinem Angreifer einen Stoß versetzte, doch dieser riss die Metallstange aus dem Griff des Engels. Er holte gerade abermals aus, als eine scharfe Stimme erklang. „Stopp!“ Entsetzt drehte sich die Gruppe Jugendlicher zu Kassiopeia um, die, Zif im Schlepptau, die Straße entlangstürmte. Die Anführerin der Dämonen glühte buchstäblich vor Wut, als sie sich den Ihren zuwandte. „Ihr habt wohl vor lauter Heißhunger euer Hirn verdaut. Was glaubt ihr, was ihr hier macht? Ich setze mich tagtäglich mit dem Fürsten und dem Weisen auseinander, lasse mich beleidigen und herabsetzen, um irgendein Auskommen unter den Völkern in dieser Stadt zu erreichen, und was macht ihr? Bestätigt aus lauter Dummheit alle Gerüchte, die über uns im Umlauf sind! Ab nach Hause, und denkt gar nicht erst daran euch davonzumachen!“ Ihr glühender Blick bohrte sich in zwei der jungen Dämonen, die versucht hatten, unauffällig nach hinten zurückzuweichen. „Ich werde mir etwas für euch ausdenken müssen, und glaubt mir, meine Freunde, das wird kein Spaß!“ Kassiopeia scheuchte die Gruppe vor sich her und wandte sich dann widerstrebend Samuel zu. „Ich … bitte um Verzeihung. Es wird nicht wieder vorkommen, ich werde mich jetzt um sie kümmern.“ Samuel nickte ihr nur zu, dann machten sie sich auf den Weg. Zif nickte dem Engel zum Abschied ebenfalls kurz zu, wurde dann aber vom Anführer der Randalierer hart gestoßen, sodass er hinfiel. „Zif, du elender Verräter. Nie verstehst du einen Spaß, du …“ Kassiopeia brachte ihn mit einem kräftigen Klaps auf den Hinterkopf zum Schweigen. „Halt die Klappe. Der Junge denkt eben weiter als bis zu seiner Nasenspitze, was man von euch nicht behaupten kann.“ Zif rappelte sich auf und starrte einen Moment wütend auf das Pflaster, bevor er hinter Kassiopeia in der Dunkelheit verschwand.
Samuel sah ihnen noch einen Moment nach, dann blickte er zu dem Fenster auf. Hinter den Vorhängen kam ein erleichtertes Gesicht zum Vorschein und der Fensterladen wurde geöffnet. „Ich danke Euch, mein Herr! Vielen Dank!“ „Keine Ursache. Ich hoffe, Ihr könnt jetzt wieder ruhig schlafen“, gab Samuel lächelnd zurück. „Ganz bestimmt. Kommt morgen wieder, dann werde ich mich erkenntlich zeigen“, rief der Metzger noch hinunter, bevor er das Fenster wieder schloss. Samuel lächelte und ging seines Weges.
Die Nacht war schon beinahe vorbei, bald würde es Zeit sein, sich in die Ruine zurückzuziehen, und Samuel freute sich schon auf die wohlverdiente Ruhe nach der Aufregung. Aber etwas ließ ihn auf seinem Weg innehalten. Etwas fiel zu Boden, ein ganzes Stück entfernt, und dann erklang eine flehende Stimme. „Nein, bitte nicht! Nehmt alles, aber tut mir nichts!“ Die angsterfüllten Schreie alarmierten den Engel sofort und er hechtete, halb laufend, halb fliegend, in die Richtung, aus der sie kamen. Bald sah er eine ältere Frau auf dem Boden liegen, die Hände über dem Kopf erhoben. Ein Mann stand über ihr, die Faust geballt, mit der anderen Hand zerrte er an dem Warenkorb, den sie offenbar zu ihrem Marktstand hatte bringen wollen. Sie wollte den Riemen lösen, aber er schlug ihr ins Gesicht und sie legte wimmernd die Arme um ihren Kopf, um sich zu schützen. Samuel packte den Räuber am Kragen und riss ihn zurück. Der Mann stolperte und schlug hin. Samuel behielt ihn im Auge, als er der Frau aufhalf. „Ganz ruhig, er wird Euch nichts mehr tun. Aber es ist wohl besser, wenn Ihr jetzt geht.“ Die Marktfrau nickte erschrocken, wischte sich über das Gesicht und hastete nach einem schnellen Dank davon. Samuel sah aus dem Augenwinkel, wie der Mann sich aufrappelte und auf ihn losging. Der Engel versetzte ihm einen Tritt und wieder flog der Dieb auf die Steine. „Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man keine fremden Frauen belästigt?“, fragte Samuel mit scharfer Stimme. „Die Hure wollte mir nichts verkaufen, dann ist sie doch selbst schuld“, schrie der Mann. „Es ist ihr gutes Recht, selbst zu entscheiden, wem sie ihre Ware verkauft. Das gibt dir noch lange nicht das Recht, sie zu überfallen!“, versetzte der Engel, auch wenn ihm klar war, dass seine Worte umsonst waren. „Lass es in Zukunft bleiben oder wir werden uns wiederbegegnen.“ Er wollte sich abwenden, als er den Dieb abermals auf sich zuschießen sah. Er wehrte ihn ab und entging nur knapp dem Messer in der Hand des Mannes. Der Engel wich zurück und zog sein Schwert. Sein Angreifer wirkte nur umso aggressiver. „Ich stech’ dich ab, du geflügelter Hund! Dich und diese Hure!“ Wieder sprang er auf Samuel los und diesmal zögerte dieser nicht. Er wich aus und ließ seinen Zweihänder durch die Luft pfeifen.
Kopfschüttelnd stand der Engel über der Leiche des Mannes. Er bereute es nicht, er wusste, dass er vermutlich mehr Leben gerettet als genommen hatte, inklusive seines eigenen. Dennoch hinterließ das Auslöschen eines Lebens immer ein kaltes Gefühl von Banalität in ihm. Wie viel war ein Leben wert, wenn es nur eines scharf geschliffenen Stückes Metall bedurfte, um es zu nehmen? Der Engel hörte Schritte näher kommen. Es war zu spät, irgendwelche Spuren zu verwischen. Schnell erhob er sich in den Himmel, und als die ersten Zeugen am Ort des Mordes ankamen, war von ihm nicht einmal mehr eine schwarze Flügelspitze zu sehen.
Einige Zeit war es ruhig. Samuel tat, was er konnte, um sich die Zeit zu vertreiben, was meistens darauf hinauslief, dass er sehr viel Zeit im Henkersbeil verbrachte. Er sinnierte über seinem Weinkrug, als die Tür aufging und die vertraute Gestalt von Zif den Schankraum betrat. Der Engel setzte sich gerade hin. Zif ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Samuel sinken, begrüßte ihn knapp und begann zu erzählen, was aus den Randalierern geworden war. „Kassiopeia hat ihnen das Fell über die Ohren gezogen. Sie dürfen das Viertel nicht mehr verlassen und müssen jetzt bei allem mithelfen, was ihnen unangenehm ist, um zu lernen, was harte Arbeit ist, damit sie in Zukunft keine arbeitenden Menschen mehr belästigen. Finde ich eigentlich ganz fair“, gab der Junge mit einem Grinsen zu. „Aber das war ganz schön riskant. Wenn es irgendwie geht, würde ich gerne vermeiden, dass Kassiopeia erfährt, dass ich für dich arbeite.“ Samuel runzelte die Stirn. „Wenn das so ein großes Risiko für dich ist, warum tust du es dann?“ „Ich brauche jede Münze, die ich ergattern kann“, erwiderte Zif einfach. „Außerdem“, er nahm einen Schluck aus seinem eigenen Becher. „Außerdem finde ich gut, was du machst. Ich habe nicht viel zu tun, da bin ich froh, wenn ich auch noch ein gutes Gewissen haben kann, während ich Geld verdiene.“ Samuel schmunzelte. „Ich fühle mich geehrt, dass du meine Arbeit schätzt. Nun, was gibt es sonst noch Neues in der Stadt?“
„Heute Morgen sind wieder einige Händler losgezogen. Sie nehmen die Oststraße. Die eine Familie war sehr aufgeregt und fröhlich, wenn ich es richtig gehört habe, wollen sie den Kontinent verlassen.“ Der Dämon kratzte mit spitzen Fingernägeln in den Rillen des Tisches herum. „Ich glaube nicht, dass sie es schaffen.“ Sein Gegenüber hob eine Augenbraue. „Wie kommst du darauf?“ „Sie sahen nicht so aus, als wären sie sich darüber im Klaren, dass es ein paar Gestalten gibt, die nur darauf warten, ihnen alles abzuknöpfen. Sie hatten keine Waffen dabei, keinen Schutz, ich bin mir nicht mal sicher, ob sie sich den anderen anschließen. Die können froh sein, wenn sie die erste Nacht überstehen.“ Samuel lehnte sich zurück und trank abwesend von seinem Wein. Dann stand er auf. „Ich muss los. Danke, Zif.“ Der Dämonenjunge sprang auf. „Verfolgst du sie?“ Doch der Engel nahm nur wortlos sein Schwert, klopfte dem Jungen auf die Schulter, legte seinen Krug und eine Münze auf den Tresen und ging. Ratlos sah sich Zif um, bevor er ein Glitzern sah. Auf dem Tisch, dort, wo er gerade noch gesessen hatte, lag eine kleine, silberne Münze. Schulterzuckend steckte er sie ein. Wenigstens würde morgen kein magerer Tag werden.
Überfall
Der Nachtwind rauschte in Samuels Ohren. Seine Schwingen schnitten elegant durch die Luft und trugen ihn in raschem Flug über das Land. Im blassen Mondlicht konnte er die Straße unter sich erkennen. Die langen, schwarzen Strähnen seines Haares wirbelten ihm in die Augen, als er den Kopf wandte. Am Horizont tauchte ein kleines Licht auf. Der Engel winkelte den linken Flügel an und sein Flug beschrieb eine Kurve. So näherte er sich der Lichtquelle. In fast lautlosem Gleitflug strich er über die Wipfel der Baumgruppe, bei der wohl Reisende Schutz gesucht hatten. Unter ihm war ein Lager aufgebaut. Mit Planen bedeckte Wagen waren in einem schützenden Kreis um ein Feuer herum aufgestellt, Zugtiere grasten in der Nähe, ein paar Wachen waren um den Kreis aufgestellt. Die Wagen schienen schwer beladen. Das waren die Händler. Tatsächlich saß eine Familie mit am Feuer, wenigstens waren sie nicht alleine. Lautes Lachen erschallte. Die Augen des Engels verengten sich. Diese Zurschaustellung von Wohlstand würde jeden Räuber im Umkreis von zehn Kilometern anlocken. Die Verteidigung sah zwar solide aus und er hoffte, dass sie die meisten abschrecken würde, aber trotzdem blieb er. Der Engel ließ sich im Wipfel einer Eiche nieder und richtete sich darauf ein, Wache zu halten.
Die Nacht wurde kühl. Die Menschen gingen schlafen, legten sich in oder unter ihre Wagen. Das Feuer brannte zu Glut herunter, mehrmals wurden die Wachen gewechselt, nicht ahnend, dass sie eine unsichtbare Rückendeckung hatten. Samuel wurde langsam müde, durch das unbequeme Sitzen im Baum taten ihm die Knochen weh. Sobald sie weiterzogen, würde er sich auf den Rückweg in seine Ruine machen. Wie bequem erschien ihm nun der morsche Holzboden, er konnte es kaum erwarten, sich in seine Decke gehüllt dort auszustrecken. Die Augenlider des Engels wurden immer schwerer und er döste ein wenig in den tiefsten Stunden der Nacht. Der Morgen graute schon, als von Weitem Schreie und das Krachen von berstendem Holz an sein Ohr drangen. Seine Augen flogen auf. Die aufgeschreckten Händler sahen nur noch einen schwarzen Schatten hinter den Baumwipfeln verschwinden.
Samuel blieb noch eine Weile sitzen und schmiedete einen Plan, bevor er schließlich aufbrach. Die Nacht war schon fortgeschritten, am östlichen Horizont zeigte sich bereits der erste Schimmer der Morgendämmerung, als er bei dem verfallenen Haus ankam. Er hatte einen Plan für die nächste Nacht und würde ein wenig früher aufstehen als sonst.
Im späten Nachmittagslicht saß der Engel wie ein Wasserspeier auf einem Dach und betrachtete das Treiben unter sich. Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen und suchte deshalb auf diese Weise nach dem Dämon. Als er ihn endlich entdeckte, wartete er, bis dieser sich in eine der weniger belebten Gassen davonmachte, um sich dann vom Dach fallen zu lassen. „Zif!“ Mit gebleckten Zähnen, eines der Messer, die er in seiner Kleidung versteckt trug, in seiner Hand, wirbelte der Dämon herum. Samuel zuckte zurück und griff unwillkürlich nach seinem eigenen Schwert, als sich Zif auch schon entspannte. „Samuel, hast du mich erschreckt!“ „Das hat man gesehen“, gab der Engel amüsiert zurück. „Ich brauche deine Hilfe.“ „Was krieg ich dafür?“, fragte Zif schnippisch. „Das werden wir sehen, wenn dein Auftrag erledigt ist“, sagte Samuel bestimmt, dann berichtete er, worum es sich handelte. Zifs Blick wurde hart. „Diese Idioten!“, zischte er. „Trottel wie die sind der Grund, warum mich Händler immer noch mit Fußtritten verscheuchen, wenn ich etwas kaufen will, weil sie denken, ich räume ihren Stand aus, wenn sie sich umdrehen und schneide ihnen dann die Kehle durch. Keine Bezahlung diesmal, das geht mich auch etwas an.“ Samuel nickte und beschrieb ihm dann den Plan, den er gefasst hatte. Zif war einverstanden, und so postierten sich die beiden im letzten Licht des Tages in Sichtweite des Ladens und warteten. Es war noch nicht lange dunkel, als eine Horde grölender jugendlicher Dämonen auftauchte. Wie Korbinian beschrieben hatte, machten sie einen Heidenlärm, schrien zu dem Fenster des Metzgers hinauf, warfen mit Steinen, beschmierten das übrige Schaufenster und versuchten, in den Laden zu kommen. Zif stieß ein wütendes Knurren aus. „Ganz ruhig“, redete Samuel auf ihn ein. „Geh jetzt und beeil dich. Ich werde aufpassen, dass sie nicht verschwinden und es nicht übertreiben.“ Zif nickte angespannt und huschte in die Seitengasse, leise zuerst, aber als er einige Entfernung zwischen sich und den Schauplatz gebracht hatte, rannte er los, so schnell ihn seine Beine trugen.
Samuel stand da und beobachtete, wie die jungen Dämonen sich stritten und rauften, während zwei immer noch auf die Tür einschlugen. Plötzlich kam ein weiterer aus dem Schatten, ein verbogenes Metallstück in der Hand. Aus der Entfernung hörte der Engel sie rufen. „Schaut mal, was ich gefunden habe!“ Ein anderer nahm dem Sprecher die Metallstange aus der Hand. „Das können wir als Brecheisen benutzen.“ „Oder die Scheiben damit einschlagen!“, schlug ein anderer kichernd vor. „Dann gibt es heute endlich was zu fressen, ich bin am Verhungern“, beklagte sich die helle Stimme eines Mädchens. Sie stellten sich im Kreis um die Tür auf und der größte von ihnen setzte das Brecheisen an. Samuel sah, wie der Vorhang im zweiten Stock schwankte und ein verängstigtes Gesicht einen Blick nach draußen warf, bevor es sich zurückzog. Der Engel beschloss, dass es jetzt Zeit war, einzugreifen. Schnellen Schrittes trat er auf die Straße hinaus. Die Gruppe Jugendlicher war so in ihr Tun vertieft, dass sie ihn erst bemerkten, als er sich hinter ihnen aufgebaut hatte und mit durchdringender Stimme rief: „Halt!“
Zif sah sich zu beiden Seiten um, bevor er über die letzte Straße huschte und an die Tür hämmerte. „Kassiopeia, mach auf! Bitte, es ist wichtig!“ Die Tür öffnete sich und ein ängstliches Gesicht sah unter einer buschigen schwarzen Mähne zu ihm auf. Zif lächelte verkrampft. „Hallo, Persephone. Ist deine Mutter da?“ „Sie ist.“ Die Tür ging weiter auf und enthüllte die Gestalt von Kassiopeia. „Was soll der Radau, Zif? Was ist los?“ „Da sind ein paar Idioten, sie versuchen, einzubrechen und der Händler hat Angst und deshalb verkauft mir keiner was!“, sprudelte es aus dem aufgeregten Jungen. „Bitte was?“ Kassiopeia zog verwirrt und verärgert die Augenbrauen zusammen. Zif atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen. „Da ist eine Gruppe Jugendliche, welche von uns. Sie terrorisieren einen Händler, so wie es aussah, nicht zum ersten Mal. Sie versuchen, in seine Metzgerei einzubrechen.“ Zif ballte die Fäuste. „Solche Idioten sind schuld daran, dass wir auf der Straße immer noch böse angeschaut werden!“ Kassiopeia verstand ihn. „Wir gehen sofort los. Denen werde ich das Fell gerben. Geh zu Papa, Persephone. Ich bin bald wieder da.“ Dann trat sie zu Zif auf die Straße. „Welche Richtung?“, wollte sie wissen. Zif zeigte mit dem Finger die gegenüberliegende Gasse hoch und mit schnellen Schritten machte sich die Dämonin auf den Weg. „Wollen wir niemand anderes mitnehmen?“, fragte Zif, als er sie eingeholt hatte. Kassiopeia schüttelte grimmig den Kopf. „Das dauert zu lange. Mit denen werde ich schon alleine fertig. Bei Luzifers Barthaaren, die werden sich noch wünschen, brav daheim geblieben zu sein!“ Die beiden Dämonen hasteten durch die Straßen.
Erschrocken wirbelten die jungen Dämonen herum und sahen sich dem Engel gegenüber. „Was willst du hier? Verschwinde!“, zischte einer von ihnen. Er schaute einmal kurz nach links und einmal nach rechts und seine Freunde verteilten sich um den Engel. Ein bedrohliches Knurren kam aus ihren Mündern. Ihre Augen leuchteten schwach in der Dunkelheit. Samuel blieb ruhig stehen, keine Spur von Angst zeigend. „Lasst den Blödsinn. Der Mann hat euch nichts getan.“ Der Dämon vor ihm stieß ein zischendes Lachen durch hervorstehende Hauer aus. Seine krallenbewehrten Hände klammerten sich um das Brecheisen. „Nichts getan? Ha! Die Menschen denken doch alle, wir sind nur Abschaum. Keinen interessiert es, was mit einem Dämon passiert. Wir zahlen es ihnen nur mit gleicher Münze heim!“ „Und du denkst wirklich, dadurch wird irgendetwas besser?“, fragte Samuel ruhig. „Besser? Es wird nie besser werden! Kassiopeia wird von diesem Engel-Bastard und dieser Witzfigur von einem Fürsten doch nur ausgelacht. Wie soll denn jemals etwas besser werden? Wenn wir uns nicht um uns selbst kümmern, dann tut es keiner. Und du“, seine wütenden Augen bohrten sich in Samuels, „du bist im Weg.“ Er hob das Brecheisen, täuschte an und ließ es dann auf Samuels Hüfte zuschießen. Der Engel machte einen Satz nach hinten, wurde aber von zwei anderen Dämonen, die hinter ihm standen, zurückgestoßen. Der erste Jugendliche stand in gebückter Angriffshaltung da, er knurrte den Engel an. Samuel machte sich bereit, sich zu verteidigen. Die Gruppe um sie herum begann, ihren Anführer anzufeuern, als dieser wieder angriff. Samuel fing das Brecheisen im Schlag und versuchte, es festzuhalten, während er seinem Angreifer einen Stoß versetzte, doch dieser riss die Metallstange aus dem Griff des Engels. Er holte gerade abermals aus, als eine scharfe Stimme erklang. „Stopp!“ Entsetzt drehte sich die Gruppe Jugendlicher zu Kassiopeia um, die, Zif im Schlepptau, die Straße entlangstürmte. Die Anführerin der Dämonen glühte buchstäblich vor Wut, als sie sich den Ihren zuwandte. „Ihr habt wohl vor lauter Heißhunger euer Hirn verdaut. Was glaubt ihr, was ihr hier macht? Ich setze mich tagtäglich mit dem Fürsten und dem Weisen auseinander, lasse mich beleidigen und herabsetzen, um irgendein Auskommen unter den Völkern in dieser Stadt zu erreichen, und was macht ihr? Bestätigt aus lauter Dummheit alle Gerüchte, die über uns im Umlauf sind! Ab nach Hause, und denkt gar nicht erst daran euch davonzumachen!“ Ihr glühender Blick bohrte sich in zwei der jungen Dämonen, die versucht hatten, unauffällig nach hinten zurückzuweichen. „Ich werde mir etwas für euch ausdenken müssen, und glaubt mir, meine Freunde, das wird kein Spaß!“ Kassiopeia scheuchte die Gruppe vor sich her und wandte sich dann widerstrebend Samuel zu. „Ich … bitte um Verzeihung. Es wird nicht wieder vorkommen, ich werde mich jetzt um sie kümmern.“ Samuel nickte ihr nur zu, dann machten sie sich auf den Weg. Zif nickte dem Engel zum Abschied ebenfalls kurz zu, wurde dann aber vom Anführer der Randalierer hart gestoßen, sodass er hinfiel. „Zif, du elender Verräter. Nie verstehst du einen Spaß, du …“ Kassiopeia brachte ihn mit einem kräftigen Klaps auf den Hinterkopf zum Schweigen. „Halt die Klappe. Der Junge denkt eben weiter als bis zu seiner Nasenspitze, was man von euch nicht behaupten kann.“ Zif rappelte sich auf und starrte einen Moment wütend auf das Pflaster, bevor er hinter Kassiopeia in der Dunkelheit verschwand.
Samuel sah ihnen noch einen Moment nach, dann blickte er zu dem Fenster auf. Hinter den Vorhängen kam ein erleichtertes Gesicht zum Vorschein und der Fensterladen wurde geöffnet. „Ich danke Euch, mein Herr! Vielen Dank!“ „Keine Ursache. Ich hoffe, Ihr könnt jetzt wieder ruhig schlafen“, gab Samuel lächelnd zurück. „Ganz bestimmt. Kommt morgen wieder, dann werde ich mich erkenntlich zeigen“, rief der Metzger noch hinunter, bevor er das Fenster wieder schloss. Samuel lächelte und ging seines Weges.
Die Nacht war schon beinahe vorbei, bald würde es Zeit sein, sich in die Ruine zurückzuziehen, und Samuel freute sich schon auf die wohlverdiente Ruhe nach der Aufregung. Aber etwas ließ ihn auf seinem Weg innehalten. Etwas fiel zu Boden, ein ganzes Stück entfernt, und dann erklang eine flehende Stimme. „Nein, bitte nicht! Nehmt alles, aber tut mir nichts!“ Die angsterfüllten Schreie alarmierten den Engel sofort und er hechtete, halb laufend, halb fliegend, in die Richtung, aus der sie kamen. Bald sah er eine ältere Frau auf dem Boden liegen, die Hände über dem Kopf erhoben. Ein Mann stand über ihr, die Faust geballt, mit der anderen Hand zerrte er an dem Warenkorb, den sie offenbar zu ihrem Marktstand hatte bringen wollen. Sie wollte den Riemen lösen, aber er schlug ihr ins Gesicht und sie legte wimmernd die Arme um ihren Kopf, um sich zu schützen. Samuel packte den Räuber am Kragen und riss ihn zurück. Der Mann stolperte und schlug hin. Samuel behielt ihn im Auge, als er der Frau aufhalf. „Ganz ruhig, er wird Euch nichts mehr tun. Aber es ist wohl besser, wenn Ihr jetzt geht.“ Die Marktfrau nickte erschrocken, wischte sich über das Gesicht und hastete nach einem schnellen Dank davon. Samuel sah aus dem Augenwinkel, wie der Mann sich aufrappelte und auf ihn losging. Der Engel versetzte ihm einen Tritt und wieder flog der Dieb auf die Steine. „Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, dass man keine fremden Frauen belästigt?“, fragte Samuel mit scharfer Stimme. „Die Hure wollte mir nichts verkaufen, dann ist sie doch selbst schuld“, schrie der Mann. „Es ist ihr gutes Recht, selbst zu entscheiden, wem sie ihre Ware verkauft. Das gibt dir noch lange nicht das Recht, sie zu überfallen!“, versetzte der Engel, auch wenn ihm klar war, dass seine Worte umsonst waren. „Lass es in Zukunft bleiben oder wir werden uns wiederbegegnen.“ Er wollte sich abwenden, als er den Dieb abermals auf sich zuschießen sah. Er wehrte ihn ab und entging nur knapp dem Messer in der Hand des Mannes. Der Engel wich zurück und zog sein Schwert. Sein Angreifer wirkte nur umso aggressiver. „Ich stech’ dich ab, du geflügelter Hund! Dich und diese Hure!“ Wieder sprang er auf Samuel los und diesmal zögerte dieser nicht. Er wich aus und ließ seinen Zweihänder durch die Luft pfeifen.
Kopfschüttelnd stand der Engel über der Leiche des Mannes. Er bereute es nicht, er wusste, dass er vermutlich mehr Leben gerettet als genommen hatte, inklusive seines eigenen. Dennoch hinterließ das Auslöschen eines Lebens immer ein kaltes Gefühl von Banalität in ihm. Wie viel war ein Leben wert, wenn es nur eines scharf geschliffenen Stückes Metall bedurfte, um es zu nehmen? Der Engel hörte Schritte näher kommen. Es war zu spät, irgendwelche Spuren zu verwischen. Schnell erhob er sich in den Himmel, und als die ersten Zeugen am Ort des Mordes ankamen, war von ihm nicht einmal mehr eine schwarze Flügelspitze zu sehen.
Einige Zeit war es ruhig. Samuel tat, was er konnte, um sich die Zeit zu vertreiben, was meistens darauf hinauslief, dass er sehr viel Zeit im Henkersbeil verbrachte. Er sinnierte über seinem Weinkrug, als die Tür aufging und die vertraute Gestalt von Zif den Schankraum betrat. Der Engel setzte sich gerade hin. Zif ließ sich auf den Stuhl gegenüber von Samuel sinken, begrüßte ihn knapp und begann zu erzählen, was aus den Randalierern geworden war. „Kassiopeia hat ihnen das Fell über die Ohren gezogen. Sie dürfen das Viertel nicht mehr verlassen und müssen jetzt bei allem mithelfen, was ihnen unangenehm ist, um zu lernen, was harte Arbeit ist, damit sie in Zukunft keine arbeitenden Menschen mehr belästigen. Finde ich eigentlich ganz fair“, gab der Junge mit einem Grinsen zu. „Aber das war ganz schön riskant. Wenn es irgendwie geht, würde ich gerne vermeiden, dass Kassiopeia erfährt, dass ich für dich arbeite.“ Samuel runzelte die Stirn. „Wenn das so ein großes Risiko für dich ist, warum tust du es dann?“ „Ich brauche jede Münze, die ich ergattern kann“, erwiderte Zif einfach. „Außerdem“, er nahm einen Schluck aus seinem eigenen Becher. „Außerdem finde ich gut, was du machst. Ich habe nicht viel zu tun, da bin ich froh, wenn ich auch noch ein gutes Gewissen haben kann, während ich Geld verdiene.“ Samuel schmunzelte. „Ich fühle mich geehrt, dass du meine Arbeit schätzt. Nun, was gibt es sonst noch Neues in der Stadt?“
„Heute Morgen sind wieder einige Händler losgezogen. Sie nehmen die Oststraße. Die eine Familie war sehr aufgeregt und fröhlich, wenn ich es richtig gehört habe, wollen sie den Kontinent verlassen.“ Der Dämon kratzte mit spitzen Fingernägeln in den Rillen des Tisches herum. „Ich glaube nicht, dass sie es schaffen.“ Sein Gegenüber hob eine Augenbraue. „Wie kommst du darauf?“ „Sie sahen nicht so aus, als wären sie sich darüber im Klaren, dass es ein paar Gestalten gibt, die nur darauf warten, ihnen alles abzuknöpfen. Sie hatten keine Waffen dabei, keinen Schutz, ich bin mir nicht mal sicher, ob sie sich den anderen anschließen. Die können froh sein, wenn sie die erste Nacht überstehen.“ Samuel lehnte sich zurück und trank abwesend von seinem Wein. Dann stand er auf. „Ich muss los. Danke, Zif.“ Der Dämonenjunge sprang auf. „Verfolgst du sie?“ Doch der Engel nahm nur wortlos sein Schwert, klopfte dem Jungen auf die Schulter, legte seinen Krug und eine Münze auf den Tresen und ging. Ratlos sah sich Zif um, bevor er ein Glitzern sah. Auf dem Tisch, dort, wo er gerade noch gesessen hatte, lag eine kleine, silberne Münze. Schulterzuckend steckte er sie ein. Wenigstens würde morgen kein magerer Tag werden.
Überfall
Der Nachtwind rauschte in Samuels Ohren. Seine Schwingen schnitten elegant durch die Luft und trugen ihn in raschem Flug über das Land. Im blassen Mondlicht konnte er die Straße unter sich erkennen. Die langen, schwarzen Strähnen seines Haares wirbelten ihm in die Augen, als er den Kopf wandte. Am Horizont tauchte ein kleines Licht auf. Der Engel winkelte den linken Flügel an und sein Flug beschrieb eine Kurve. So näherte er sich der Lichtquelle. In fast lautlosem Gleitflug strich er über die Wipfel der Baumgruppe, bei der wohl Reisende Schutz gesucht hatten. Unter ihm war ein Lager aufgebaut. Mit Planen bedeckte Wagen waren in einem schützenden Kreis um ein Feuer herum aufgestellt, Zugtiere grasten in der Nähe, ein paar Wachen waren um den Kreis aufgestellt. Die Wagen schienen schwer beladen. Das waren die Händler. Tatsächlich saß eine Familie mit am Feuer, wenigstens waren sie nicht alleine. Lautes Lachen erschallte. Die Augen des Engels verengten sich. Diese Zurschaustellung von Wohlstand würde jeden Räuber im Umkreis von zehn Kilometern anlocken. Die Verteidigung sah zwar solide aus und er hoffte, dass sie die meisten abschrecken würde, aber trotzdem blieb er. Der Engel ließ sich im Wipfel einer Eiche nieder und richtete sich darauf ein, Wache zu halten.
Die Nacht wurde kühl. Die Menschen gingen schlafen, legten sich in oder unter ihre Wagen. Das Feuer brannte zu Glut herunter, mehrmals wurden die Wachen gewechselt, nicht ahnend, dass sie eine unsichtbare Rückendeckung hatten. Samuel wurde langsam müde, durch das unbequeme Sitzen im Baum taten ihm die Knochen weh. Sobald sie weiterzogen, würde er sich auf den Rückweg in seine Ruine machen. Wie bequem erschien ihm nun der morsche Holzboden, er konnte es kaum erwarten, sich in seine Decke gehüllt dort auszustrecken. Die Augenlider des Engels wurden immer schwerer und er döste ein wenig in den tiefsten Stunden der Nacht. Der Morgen graute schon, als von Weitem Schreie und das Krachen von berstendem Holz an sein Ohr drangen. Seine Augen flogen auf. Die aufgeschreckten Händler sahen nur noch einen schwarzen Schatten hinter den Baumwipfeln verschwinden.