Ryloven

Ryloven

Die Nah’rane

Manuel Tschmelak


EUR 19,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 392
ISBN: 978-3-99107-686-5
Erscheinungsdatum: 23.08.2021
Keron muss erfahren, wie schnell sich ein Leben im Königreich Ryloven ändern kann. Seine Zukunft als Reichsschütze ist bereits vorgezeichnet, als sich sein Weg unerwartet mit einem dunkleren Pfad kreuzt. Ein erbitterter Kampf droht ganz Ryloven zu erschüttern.
Unverhoffte Hilfe

Drop, drop, drop. Immer wieder ertönte das Geräusch von fallenden Wassertropfen, die auf dem harten Steinboden in tausende und abertausende von viel kleineren Wasserperlen zersprangen. Keron saß zusammengesunken im Regen auf einem kleinen Vorsprung am Fuße einer Statue, die in der Mitte eines kleinen Platzes aufgestellt worden war. Beiläufig blickte er nach oben und fragte sich, wer diese Person wohl gewesen war, dass man ihr eine Statue in der Hauptstadt des Reiches errichtet hatte. Das kantige Gesicht und das Emblem auf der Rüstung des Mannes, der hier dargestellt wurde, kamen ihm bekannt vor, aber in Wirklichkeit war es ihm gleichgültig.
Keron blickte zurück auf den Boden vor ihm. Beiläufig wischte er sich seine kurzen braunen Haare, die nass an seiner Haut klebten, von der Stirn und versank wieder in seinen trüben Gedanken. Zum wiederholten Male fragte er sich, wie es sein konnte, dass sich das Leben von Menschen in wenigen Augenblicken so verändert?
Der erste dieser Momente ereignete sich in Kerons Fall bereits in seiner Kindheit. Er wuchs in einem kleinen Dorf auf, das hauptsächlich von Bauern bewohnt wurde. Seine wahren Eltern hatte er nie kennengelernt. Angeblich waren sie beide kurz nach seiner Geburt gestorben.
Stattdessen wurde er von seinen Stiefeltern aufgezogen. Sie besaßen kaum Dinge, die man als wertvoll erachtet hätte, aber Keron erinnerte sich, dass er damals noch glücklich gewesen war. Doch als er zehn Jahre alt wurde, starb seine Stiefmutter unerwartet an einer Krankheit. Sein Stiefvater verfiel daraufhin in große Trauer. Er konnte es nicht ertragen, in ihrem Zuhause zu bleiben. Also nahm er Arbeit in den Minen des Königreiches an und sie verließen ihr Dorf.
Sein Stiefvater machte sich alle Mühe, sie zu versorgen, doch obwohl er jeden Tag lange arbeitete, kamen sie gerade so über die Runden. Sie hatten noch weniger zum Leben als zuvor und Keron konnte seinem Stiefvater ansehen, dass es ihm nicht gut ging. Er wurde zunehmend stiller und jeden Tag, wenn er von der Arbeit aus den Minen zurückkam, wirkte er kraftloser. Mit der Zeit vergrößerten sich seine Augenringe und Keron schmerzte es, dass er nichts dagegen tun konnte. Er war doch nur ein Kind. Obwohl es schwierig für sie war, versuchte er seinem Vater wenigstens ein guter Sohn zu sein. Er tat sein Bestes, aber sein Leben sollte sich schon bald erneut wandeln.
Eines Tages kam sein Vater früher von der Arbeit in der Mine zurück und befahl Keron seine Sachen zu packen. Er verstand zwar nicht, was passiert war, aber er tat wie ihm geheißen. Sein Vater hatte diesen Tonfall in der Stimme, der bedeutete, dass man ihm nun lieber nicht widersprach. Zum ersten Mal seit langem schien sein Stiefvater wieder ein wenig wie früher zu sein. Er wirkte zufrieden.
Sein Vater führte ihn zu dem kleinen Hauptplatz des Minenarbeiterdorfes und stellte ihn dort einem etwas älteren Mann vor. Sein Name war Sir Francis. Er war ein Ritter des Reiches und sein Vater hatte ihn überzeugt, Keron als seinen Lehrling mitzunehmen. Als dieser jedoch erkannte, dass er sich von seinem Vater trennen sollte, protestierte er kräftig. Doch sein Vater kniete sich zu ihm herunter, nahm ihn mit beiden Händen an den Schultern und erklärte ihm, dass er gehen solle. Er wünsche sich ein besseres Leben für seinen Sohn, als er es gehabt hatte. Er solle diese Chance nützen und in die Zukunft gehen, ohne zurückzublicken.
Tränen waren ihm damals über die Wangen geronnen, aber er respektierte die Entscheidung seines Stiefvaters und verließ zusammen mit seinem neuen Herrn das kleine Dorf der Minenarbeiter.
Von einem Tag auf den anderen hatte sich sein Leben vollkommen verändert und er hatte nichts dagegen tun können. Auch das Leben mit Sir Francis war nicht einfach. Sie zogen die meiste Zeit durch das Königreich Ryloven, wo Sir Francis seine Pflichten erledigte.
Allerdings wurden diese Jahre rückblickend zur schönsten Zeit in seinem Leben. Keron liebte es bald, mit seinem Meister durch die Welt zu reisen, immer neue Orte und Menschen kennenzulernen. Sir Francis verlangte ihm einiges ab, aber im Gegenzug sorgte er gut für Keron. Seit dem Tag als sein Vater, der, wie er später erfuhr, bei einem Arbeitsunfall verstorben war, ihn in die Obhut des älteren Ritters gegeben hatte, hatte Keron nie wieder hungern müssen.
Ein kleines Lächeln breitete sich auf seinem regennassen Gesicht aus. Er blickte sich auf dem kleinen Platz um, aber natürlich war niemand bei diesem Wetter auf den Straßen. Keron war alleine und das tat weh. Doch auf eine seltsame Art und Weise beruhigte ihn der kühle Regen, der unaufhörlich sanft auf ihn niederprasselte. Um sich von der Trauer abzulenken, tauchte er erneut in seine Gedankenwelt ein.
Bis zu jenem Tag, an dem sein Leben zum dritten Mal vollkommen auf den Kopf gestellt wurde, war Keron insgesamt acht Jahre bei Sir Francis gewesen und er hatte einiges bei ihm gelernt, wie zum Beispiel das Reiten, wie man in der Natur überlebte, das Fallenstellen, um zu jagen, und noch viele andere Fähigkeiten und Techniken. Allerdings hatten sie mit seinem Kampftraining, das Keron benötigte, um ein Ritter zu werden, noch nicht so richtig begonnen. Sir Francis hatte immer gemeint, dass er noch nicht bereit dazu wäre. Dies sah Keron natürlich ganz anders, aber wenn sich der alte Ritter einmal eine Meinung gebildet hatte, war er nur noch schwer davon abzubringen.
Keron war nun ein junger Mann von 18 Jahren mit kurzen braunen Haaren und einem von der Arbeit mit Sir Francis recht muskulösen Körper, was man ihm aber wegen seiner drahtigen Statur nicht gleich ansah. Dies konnte, wie Keron herausfand, sich allerdings manchmal auch als Vorteil herausstellen, weil ihn seine Gegner oftmals unterschätzten, was wiederum dazu führen konnte, dass er sie mit einem unerwartet kräftigen Schlag überraschte.
Keron hatte zwar die grundlegenden Fähigkeiten, um alleine überleben zu können, aber wenn es zu einem richtigen Kampf kommen würde, käme er mit seinen bescheidenen Schwertkünsten nicht sehr weit. Ein Anflug von Zorn breitete sich in ihm aus. Hätte Sir Francis ihn schon früher im Kampf unterrichtet, wäre vielleicht alles anders gelaufen. Vielleicht hätte er dann etwas tun, hätte irgendwie helfen können.
Keron schüttelte seinen Kopf, um diese Gedanken zu verscheuchen, und Wasser spritzte in alle Richtungen, wie bei einem Hund, der sich nach einem Bad schüttelte, um wieder trocken zu werden.
Vor wenigen Stunden hätte Keron niemals damit gerechnet, dass er sich nun so schlecht fühlen würde. Es war ein wunderschöner Tag gewesen. Sir Francis und er waren vor einem Tag in Reduna, der Hauptstadt des Reiches, angekommen. Die Sonne schien vom blauen Himmel auf Keron herab, der versuchte mit seinem Lehrmeister Schritt zu halten, als sie durch die engen Gassen der Innenstadt marschierten. Er hatte schon viele Orte des Reiches mit Sir Francis besucht, aber in Reduna waren sie nur sehr selten gewesen.
Alles schien etwas größer und wundervoller als sonst irgendwo.
„Junge! Pass doch auf, wo du hinläufst!“, rief Sir Francis plötzlich. Keron richtete seinen Blick erschrocken wieder nach vorne, konnte aber nicht mehr verhindern, dass er in einen Händler hineinlief, der gerade die Waren an seinem Stand an der Seite der Gasse neu ordnete. Bei dem Versuch noch auszuweichen, riss er den Mann mit sich zu Boden, was dazu führte, dass einige der Waren auf dem Steinboden klirrend zum Liegen kamen.
„Du verdammter Bengel!“, schrie der Händler wütend. „Geh gefälligst von mir runter, damit ich dir die Ohren lang ziehen kann!“ Sir Francis schnappte seinen Schüler am Kragen und richtete ihn wieder auf. Während Keron Sir Francis entschuldigend ansah, erhob sich auch der Händler und wollte schon wieder anfangen zu schreien. Dann allerdings erblickte er Sir Francis in seiner polierten silbernen Rüstung und das Emblem des Königs auf seiner linken Brust.
Er verstummte und sah zu seinem Verkaufsstand hinüber, wo einige Waren kaputtgegangen waren. „Meine kostbaren Gegenstände!“, jammerte er und funkelte Sir Francis böse an.
Dieser seufzte, holte einen kleinen Lederbeutel hervor und reichte dem verärgerten Händler einige Münzen. Danach wandte er sich ohne ein weiteres Wort zum Weitergehen um und Keron folgte ihm, nachdem er dem Händler noch einen entschuldigenden Blick zugeworfen hatte.
„Du musst wirklich besser aufpassen, Junge“, sagte Sir Francis streng, als Keron ihn eingeholt hatte. „Ein Ritter muss immer wachsam bleiben. Man weiß nie, wann man seinen Feinden gegenübertreten muss.“
„Entschuldigung“, murmelte Keron.
Sir Francis wollte gerade fortfahren seinem Lehrling eine Predigt zu halten, als plötzlich ein lautes Krachen von splitterndem Holz ertönte und er sich nach dessen Ursache umsah. Ein Mann war einige Meter vor ihnen aus einem Lokal hinausgeworfen worden. Vier Männer folgten ihm und halfen ihm aufzustehen. Doch offenbar war die Sache damit nicht erledigt, denn noch mehr Menschen kamen aus dem Gebäude und nahmen gegenüber der ersten Gruppe Aufstellung. Es lag eine bedrohliche Anspannung in der Luft. Keron konnte aus dieser Entfernung nicht verstehen, was die Leute sagten, aber es waren bestimmt keine Nettigkeiten. Dieser Eindruck verstärkte sich weiter, als die beiden Gruppen von Menschen begannen aufeinander loszugehen und sich zu prügeln.
„Vielleicht sollten wir die Stadtwachen holen?“, schlug Keron vor, doch da war Sir Francis schon an ihm vorbeigestampft und ging auf die tobende Menschenmenge zu, die sich gebildet hatte. In seiner schimmernden Rüstung sah er in der Sonne recht eindrucksvoll aus und Keron konnte ihn mit lauter, gebieterischer Stimme rufen hören, während er versuchte die Situation unter Kontrolle zu bringen: „Ihr Narren, prügelt euch nicht wie irgendwelche Tiere! Hört sofort auf!“ Die tobenden Menschen wirbelten den trockenen Staub auf der Straße auf und Keron musste näher herangehen, um erkennen zu können, was dort passierte. Im Vergleich zu ihm selbst sahen die Männer und Frauen, die sich vor ihm prügelten, um einiges stärker aus und er zögerte seinem Mentor zu Hilfe zu kommen. Schnell drehte er sich um die eigene Achse und versuchte irgendwo eine Stadtwache zu finden, als plötzlich ein schriller Frauenschrei die Luft zerriss und Chaos in der Gasse ausbrach.
Die Menschenmassen, die den Kampf bis jetzt mit einiger Begeisterung beobachtet hatten, stoben plötzlich in alle Richtungen davon. Panik stieg in Keron auf und er versuchte gegen den Menschenstrom anzukommen, um zu Sir Francis zu gelangen. Als er endlich an den verängstigten Leuten vorbeigekommen war, gefror ihm das Blut in den Adern. Nur noch eine Person war von den Leuten, die sich geprügelt hatten, übrig geblieben und lag bewegungslos am Boden.
„Fraaancis!“, schrie Keron und lief zu seinem Meister. Er drehte ihn auf den Rücken und sah einen Dolch mit einem aufwendigen Muster am Griff aus dem Bauch direkt unterhalb des Brustpanzers seines Lehrmeisters ragen. Keron legte sich schützend über den Körper seines Meisters und schluchzte, während um ihn herum die Menschen in der Gasse aufgeregt hin und her liefen. Keron konnte es nicht glauben, er rüttelte an Sir Francis, um ihn wieder zu Bewusstsein zu bringen, aber es half nicht und die Blutpfütze unter ihm wurde immer größer. So viel Blut, das war viel zu viel Blut. Plötzlich wurde Keron von einem Mann in der Uniform der Stadtwache von Sir Francis weggerissen. Ein Dutzend Soldaten waren mittlerweile eingetroffen und versuchten die Lage zu beruhigen. Keron wehrte sich gegen den Griff des Mannes, der ihn festhielt, doch er konnte sich nicht befreien und musste zusehen, wie ein anderer Mann seinen Lehrmeister untersuchte und dann den Kopf schüttelte. Keron gab es auf, sich zu wehren, und heiße Tränen rannen ihm über das Gesicht, als die Soldaten Sir Francis’ leblosen Körper auf eine Trage hievten und davontrugen. Keron erkannte, dass jemand versuchte mit ihm zu sprechen, aber er war wie versteinert, sodass er es nicht schaffte zu antworten. Der Soldat, der ihn immer noch an den Schultern festhielt, schien zu demselben Schluss gekommen zu sein, denn er festigte seinen Griff und bewegte Keron so in dieselbe Richtung, in die sein Meister getragen worden war. Als man ihn zu einem kleinen Amtsgebäude führte, begann es leicht zu regnen. Dort wurde er zu den Geschehnissen befragt und durfte Sir Francis noch einmal sehen, bevor man ihm befahl, vor dem Gebäude auf dem kleinen Platz zu warten. Die Soldaten hatten durchaus Mitgefühl für seine Lage und wollten, dass er im Trockenen blieb, bis ihn jemand abholte, allerdings wollte Keron für den Moment lieber alleine mit seinen Gedanken sein und setzte sich draußen in den Regen an den Sockel der Statue vor dem Amtsgebäude.
Da war er nun und wartete, zu Beginn der Nacht, alleine mit seinen Gedanken. Er konnte es immer noch nicht fassen. Er verfluchte den Schöpfer, weil er alle Personen in seiner Nähe immer zu sich nehmen musste. Was sollte er jetzt nur tun?

Nach einiger Zeit des Grübelns, was nun mit ihm geschehen würde, denn irgendwie musste es doch weitergehen, bemerkte er plötzlich eine Gestalt, die im Dunkeln den Platz vor dem Gebäude der Stadtwache überquerte. Sie sprach kurz mit der Wache, die vor der Tür stand und Keron im Auge behalten hatte, und kam dann direkt auf ihn zu. Es war ein Mann von stattlicher Größe. Er trug einen braunen Mantel um die Schultern und bewegte sich sehr geschmeidig und leise. Man konnte keinen Laut hören, wenn er einen Schritt auf den Steinen des Weges tat. Er kam direkt auf Keron zu und blieb vor ihm stehen. „Bist du der Schüler von Sir Francis?“, fragte er und nun wurde sein Gesicht von den Fackeln vor dem Eingang des Amtsgebäudes erhellt.
„Ja“, antwortete Keron nur und betrachtete den Mann genauer. Er hatte kurze braune Haare, die schon die eine oder andere graue Strähne aufwiesen, und ein recht markantes Gesicht sowie einen gut durchtrainierten Körper, soweit Keron dies durch seine Kleidung erkennen konnte.
„Ich bin Sir Nicolas Tirion. Ich habe von deiner Lage erfahren und biete an dir zu helfen. Wenn du willens bist, mit mir zu kommen, möchte ich dir die Chance geben, von mir zu lernen“, sagte der Mann mit seiner rauen Stimme.
Keron war vollkommen perplex ob dieses Angebotes und brachte nur ein „Wieso?“ heraus.
Sir Nicolas wirkte nicht überrascht und antwortete prompt: „Zum einen kannte ich Sir Francis sehr gut und bin äußerst betrübt über seinen Tod. Zum anderen starb auch mein Meister, als ich mich noch in der Ausbildung befand, und Sir Francis half mir, einen neuen Ausbildungsplatz zu finden. Deswegen weiß ich, wie es dir jetzt geht. Also, ja oder nein, Junge?“
Kurz trat Stille ein. Doch dann traf Keron eine Entscheidung. „Ja, mein Herr. Es wäre mir eine Ehre unter Euch zu lernen“, sagte er, als er seine Stimme wiedergefunden hatte.
Keron verbeugte sich kurz, woraufhin der Mann sich umdrehte und wieder, ohne ein Geräusch zu verursachen, fortging. „Dann komm. Wir holen auf dem Weg noch deine Sachen. Ich selbst wohne, für den Moment, nicht weit von hier in einem Gasthof.“ Keron grinste ein klein wenig. Zum ersten Mal seit Stunden verspürte er so etwas wie Hoffnung. Es würde also doch mit ihm weitergehen. Wenn er religiös gewesen wäre, hätte er geglaubt, dass eine höhere Macht eine schützende Hand über ihn gehalten hatte. Er kannte zwar diesen Mann nicht, aber wenn er wirklich ein Freund von Sir Francis gewesen war, konnte er ihm vielleicht helfen. Außerdem hätte er ohnehin nicht gewusst, was er sonst hätte tun sollen. Nun bot sich zumindest eine Möglichkeit, die er ergreifen konnte.
Es war mittlerweile schon tiefste Nacht, als Keron, seinen Reisebeutel geschultert, neben Sir Nicolas durch die Stadt wanderte. Sie gingen eine Zeit lang immer weiter nach Norden ins Innere von Reduna und dann gegen Osten. Während sie ihren Weg durch die verlassenen Straßen der Hauptstadt suchten, kamen sie an mehreren Gasthäusern vorbei, in denen noch einige Menschen ausgelassen feierten. Als sie gerade wieder einmal an einem dieser Häuser vorbeigingen, aus dem laute Musik drang, wurde plötzlich ein Mann aus der Tür geworfen, der genau vor ihren Füßen landete. Keron rutschte ein erschrockener Schrei heraus, aber Nicolas ließ sich nichts anmerken und half dem bedauernswerten Geschöpf auf die Füße, welcher betrunken etwas murmelte, das wie ein „danke, Sir“ klang, und dann wieder in den Gasthof zurück wankte.
Die beiden setzten ihren Weg durch die dunklen Gassen von Reduna fort, ohne dass Sir Nicolas auch nur ein einziges weiteres Wort mit Keron gewechselt hatte. Schließlich hielt Keron diese
Stille zwischen ihnen einfach nicht mehr aus. Er hatte so viele Fragen.
„Haben Sie Sir Francis wirklich gekannt?“ Es war eigentlich eine dumme Frage, da er die Antwort ja schon erhalten hatte, doch es war ein Anfang. „Ja, das habe ich. Ich habe ihn kennengelernt, als ich so in deinem Alter war, vielleicht etwas älter, und mein Ausbilder gestorben war. Sir Francis hätte mich als seinen eigenen Schüler aufgenommen, allerdings hatte er damals schon einen Lehrling, der ihn begleitete, und half mir deshalb, als Schüler der Reichsschützen aufgenommen zu werden. Aber genug jetzt von der alten Zeit. Wir können uns morgen weiter unterhalten“, sagte er und beendete damit das Gespräch wieder. Keron wusste damals nicht viel über die Reichsschützen, nur dass sie die besten Bogenschützen des Landes waren, direkt dem König unterstanden und dass sich die einfachen Bürger viele Geschichten über sie erzählten, von denen eine unwahrscheinlicher war als die andere. Keron wollte unbedingt wissen, ob sein neuer Lehrmeister nach seiner Ausbildung bei den Reichsschützen auch in der Lage war, so gut mit dem Bogen umzugehen, wie es der Volksmund von den Reichsschützen erzählte. Doch Nicolas hatte ziemlich deutlich gemacht, dass das Gespräch für heute beendet war. Daher fragte Keron ihn nicht weiter aus, damit er ihn nicht jetzt schon gegen sich aufbrachte, indem er etwas Dummes tat.
Kurz darauf kamen sie offenbar an jenem Ort an, zu dem Nicolas sie führte. Sie standen Schulter an Schulter vor einem kleinen Gasthof, der „Der wilde Bär“ hieß und ein kleines rotes Schild über der Tür hatte, auf dem ein Bär mit einem Bierkrug dargestellt war. Aus der Eingangstür drang etwas Licht heraus und man konnte die Stimmen der Leute hören, die sich im Gastraum unterhielten. Keron folgte Sir Nicolas in den Schankraum, der voll mit Menschen war, die lachten, tranken und sich angeregt unterhielten. Sir Nicolas nickte dem Wirt kurz zu, der seinerseits zurücknickte, und durchquerte dann den Raum. Keron fand, dass der Wirt mit seinem langen struppigen Bart und dem außerordentlich großen und muskulösen Körper im Licht des Kamins und der Kerzen wirklich etwas von einem Bären hatte. Sie bahnten sich einen Weg durch die munteren Leute und gingen in den zweiten Stock hinauf. Nicolas zeigte Keron die Tür zu seinem Zimmer, flüsterte „gute Nacht“ und verschwand dann im Zimmer nebenan. Keron wunderte sich über die Wortkargheit seines neuen Lehrmeisters.
Er konnte diesen Mann einfach noch nicht einschätzen.
Keron öffnete zaghaft die Tür, die mit einem leisen Quietschen aufschwang, und wartete ein bisschen, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann entdeckte er, dass es zwei Betten, zwei kleine Tische neben den Betten und einen runden Tisch mit zwei Sesseln in der Mitte des Raumes gab. Eines von den beiden Betten war leer, doch in dem anderen schlief schon jemand. Keron versuchte sich so langsam und leise wie möglich zum leeren Bett zu bewegen, aber leider war der Boden alt und knarrte unter Kerons Gewicht. Er setzte sich auf das freie Bett und bemerkte plötzlich, wie müde ihn die Ereignisse des Tages gemacht hatten. Er breitete sich auf der überraschend weichen Matratze aus und versuchte schnell einzuschlafen. Doch jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er Sir Francis vor seinem geistigen Auge blutend in dieser Gasse liegen. Wieder einmal staunte er darüber, wie schnell sich das Leben eines Menschen ändern konnte. Allerdings hatte er nicht viele Alternativen. Er musste irgendwie weitermachen. Dies hatte ihm sein bisheriges Leben beigebracht. Es musste immer irgendwie weitergehen.
Da er einfach nicht einschlafen konnte, lag Keron einige Zeit nur da und lauschte den Geräuschen der Nacht. Von unten hörte er die gedämpften Stimmen der Leute, die noch tranken und lachten. Er vernahm auch die leisen regelmäßigen Atemzüge der Person, die neben ihm, auf der anderen Seite des Zimmers schlief. Doch aus dem Nebenzimmer, wo sich Nicolas aufhielt, hörte er keinen einzigen Laut. Es dauerte noch einige Zeit, bis es im Schankraum unter ihnen ruhig wurde und Keron endlich vor Übermüdung einschlief. Er fiel erschöpft in die Welt der Träume, die diese Nacht vom Tod Sir Francis’ und dem Blut handelten, das er an diesem Tag zu sehen bekommen hatte.
5 Sterne
Super für Fantasy Fans - 20.11.2021
Lena

Die Geschichte, die der Autor in diesem Buch erzählt, richtet sich sehr zielstrebig an Fantasy Fans. Ich selbst lese, seitdem zurückdenken kann, selbst unglaublich gerne Fantasy Bücher und war begeistert von diesem Buch. Es ist wirklich unfassbar, wie schnell ich mich in die Welt von Ryloven eingelebt habe und Bindungen zu den Charakteren aufbauen konnte. Wenn man es nicht besser wüsste, würde man denken, dass dieses Buch aus der Feder eines sehr erfahrenen Schriftstellers stammt! Hut ab! :)

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