Navigator 2

Navigator 2

Der Stützpunkt

Regis Jeanin


EUR 25,90
EUR 20,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 274
ISBN: 978-3-99130-288-9
Erscheinungsdatum: 16.08.2023
Die zweite Etappe seiner Reise durch das Weltall führt den angehenden Navigator Mayï zum Stützpunkt auf der Erde. Dort erwarten ihn neue Freundschaften, neue Herausforderungen … und alte Feinde.
1.

***

Unterwegs


Die Stille war perfekt. Kein brummender Antrieb, keine fiependen Konsolen waren zu vernehmen. In den Wänden gurgelte es leise, wenn Luftblasen in den Salzwasserröhren aufstiegen. Der Junge gähnte, streckte sich wohlig und lag dann wieder still. Er liebte es, aufzuwachen und in die morgendliche Stille hineinzuhorchen. Bald würde es wieder hektischer zugehen: Sein Pilot würde in der Röhre hinter der durchsichtigen Wand erscheinen, um ihm den Bericht der vergangenen Nacht vorzutragen, anschließend würde er sich in der winzigen Kombüse aus Wasser und Konzentrat ein Glas warme Milch zubereiten und mit hinunter in den Steuerraum nehmen; dort schließlich würde er sich an seine Konsole setzen und den Tagesplan studieren, während er seine Milch schlürfte. Er und sein Pilot würden den ganzen Tag lang die vorgegebenen Manöver fliegen, ihre Übungen durchgehen und sich auf diese Weise allmählich ihrem Ziel nähern.
Ihrer nächsten Etappe.
Sein letzter Landgang lag bereits zwanzig Tage zurück, und er freute sich darauf, wieder festen Boden zu betreten, den Wind in seinem Gesicht zu spüren und die Sonne auf seiner Haut. Die Erinnerung an das letzte Abenteuer zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hatte den Ruf der Familie seiner Vorfahren wiederhergestellt, seine Erblande zurückgefordert und eine bewaffnete Auseinandersetzung verhindert – sehr wahrscheinlich sogar einen Aufstand. Er hatte neue Freunde gefunden. Zu schade, dass er sie wieder hatte verlassen müssen. Aber er war ja nicht ausschließlich zu seinem Vergnügen hier draußen unterwegs; diese Reise diente seiner Ausbildung, die Ziele waren sorgfältig ausgewählt worden, ebenso die Aufgaben, die er und sein Pilot unterwegs zu erfüllen hatten. Ihre Lehrer unterrichteten und betreuten die beiden dabei aus der Ferne. Es war ein straffes Programm, das nicht viel Raum für Müßiggang ließ. Und daneben gab es ja auch noch die Waffenübungen, die ihm sein Vater beigebracht hatte und die er mindestens einmal täglich absolvierte.
Was den Jungen auf seinen Landgängen erwartete und wie er auf die Situationen reagierte, war dem Zufall überlassen. Die einzige Auflage dabei war, dass er sich fair und anständig zu verhalten hatte. Ehrenhaft. Doch auch während der Außenmissionen wurde er genauestens beobachtet – oder beschützt, je nachdem, in welche Situation er geriet –, manchmal von seinem Piloten, der an das Schiff gebunden war und ihn deshalb nicht begleiten konnte, manchmal von …
Der Junge runzelte die Stirn, wandte den Kopf und blickte in den grünlich dämmrigen Raum seiner Kabine mit den sanft fluoreszierenden Wänden. Jenseits des Bullauges lag die ewige Nacht des Weltalls. Wieso war er eigentlich bereits wach? Sein Gefühl sagte ihm, dass es noch zu früh zum Aufstehen war; der Beweis: Sein Pilot war noch nicht aufgetaucht, und er war grundsätzlich – beinahe schon zwanghaft – pünktlich. Etwas musste ihn geweckt haben. Er lauschte.
Da! Ein schwaches, aber deutlich vernehmbares „Piep!“ drang vom Korridor her durch die geschlossene Tür. Der Junge warf die Decke beiseite, schwang die Füße über den Rand seines Bettes und stand auf. Er ging zur Tür, und bei jedem Schritt versanken seine Füße ein wenig im Boden, als läge dort ein dicker Teppich ausgebreitet. Lautlos glitt die automatische Tür zur Seite, und der Junge trat auf den Korridor hinaus.
„Guten Morgen. Haben wir dich geweckt? Du hast einen leichten Schlaf.“ Das stimmte, bei seinem Aufenthalt auf Karneä hatte er sich angewöhnt, auf das leiseste Geräusch zu reagieren. Das hatte ihm einmal das Leben gerettet.
„Guten Morgen“, sagte der Junge und streckte sich gähnend. „Was machst du da?“
„Wir“, antwortete der Gefragte und betonte das Wort, „setzen Marker.“
„Jetzt schon?“, fragte der Junge und meinte damit nicht die Tageszeit.
„Seit eurem Aufbruch ist der Springer ein gutes Stück gewachsen“, sagte der Mann, unterbrach seine Arbeit und kam den Korridor entlang auf den Jungen zu. Er bewegte sich geschmeidig und mit federnden Schritten; silberfarbene Strähnen durchzogen das schwarze Haar, das zu einem struppigen kurzen Schweif zusammengebunden war, doch sein wettergegerbtes Gesicht machte es unmöglich, sein wahres Alter zu schätzen. Er zeigte auf den Rahmen der Tür, in der der Junge stand. „Siehst du hier diese Wachstumsnaht? Sie bricht auseinander.“ Tatsächlich hatte sich ein schmaler Spalt um den Türrahmen herum aufgetan, so, als wollte eine unsichtbare Kraft ihn aus der Wand reißen, in die er eingebettet war. Das war natürlich nicht der Fall, wusste der Junge; vielmehr war es so, dass die Wand sich kaum wahrnehmbar, doch unaufhaltsam in alle Richtungen dehnte. Trotzdem wunderte er sich, der Spalt war ihm bis jetzt gar nicht aufgefallen. Allerdings hatte er bisher auch nie genau hingesehen, und die Veränderungen gingen sehr langsam vonstatten. Ihm war ja auch nicht ständig bewusst, dass er selbst weiterwuchs – bis er wie jetzt gerade Ni gegenüberstand und merkte, dass er zum allerersten Mal nicht mehr zu ihm hoch blicken musste.
„Die Wände zwischen dem Korridor und den Kabinen fangen an, sich zu teilen. Es ist an der Zeit, die Marker zu setzen, um dem Schiffsinneren seine zukünftige Form zu geben. Also: Willst du ein größeres Quartier haben?“
Der Junge schüttelte den Kopf, und seine ungekämmten feuerroten Locken wippten wild hin und her. „Nein, die Größe ist in Ordnung. Ich ziehe mich rasch an und gehe frühstücken. Hast du schon gegessen?“
„Schon vor Stunden, aber ein Tee wäre jetzt gut“, sagte der Mann und ging zurück zur Stelle, an der er seine Arbeit unterbrochen hatte.
Kurz darauf gesellte sich der Junge zu ihm und reichte ihm eine Tasse, in der eine leuchtend gelbe Flüssigkeit dampfte. Er selbst hielt sein morgendliches Glas Milch in der Hand.
Der Mann nahm die Tasse dankend entgegen und fragte: „Du magst immer noch keinen Tee, was?“ Er grinste, als der Junge die Nase rümpfte. „Du solltest dich dran gewöhnen, Mayï, denn in meiner alten Heimat ist er ebenso beliebt wie auf Karneä. Mindestens.“
Mayï seufzte. Er konnte sich mit dem bitteren Getränk nicht anfreunden; dabei kannte er es von klein auf, hatten seine Eltern doch nichts anderes zu sich genommen, als Tee in zahlreichen kleinen, über den Tag verteilten Dosen. Tee war ihre einzige Nahrung gewesen, ihr Stoffwechsel so völlig anders als sein eigener.
„Trinke doch einfach jeden Tag eine Tasse zum Abhärten“, ertönte eine Stimme in der Wand, und der Mann schnaubte belustigt. Die Wände des Schiffes waren durchzogen von mit Salzwasser gefüllten Röhren, an vielen Stellen des Schiffes waren sie durchsichtig, so auch dort, wo der Mann und der Junge standen; in der Röhre vor ihnen schwebte ein merkwürdiges Wesen mit durchscheinendem gallertartigem Körper, den es verformen konnte, um auch durch die schmaleren Rohre des Schiffes zu passen. Nun blickte es den Jungen mit seinen fünf großen Augen an.
„Besten Dank für deinen Rat, Pfeifer“, sagte Mayï gespielt säuerlich. „Ich werde ihn ignorieren.“
Das Wesen gab eine Reihe pfeifender Laute von sich: seine Art zu lachen. Deshalb hatte Mayï seinem Piloten auch den Spitznamen Pfeifer gegeben; sein eigentlicher Name war für Humanoide unaussprechlich. Der Pilot dieses Schiffes war ein Chloeopside, ein Meeresbewohner, dessen lange, empfindliche Tentakel es ihm ermöglichten, sich mit dem Nervensystem eines organischen Schiffes – eines Springers – zu verbinden und es auf diese Weise zu kontrollieren. Zusätzlich ließ sich das Schiff über eine externe Steuerkonsole manövrieren. Im Augenblick war das Schiff auf Autopilot geschaltet, und der Pilot half dem Mann, die Marker zu setzen.
„Kann ich dir irgendwie helfen, Ni?“, fragte Mayï.
„Trink erst einmal deine Milch, und sieh dann im Steuerraum nach dem Rechten. Später zeige ich dir, wie man die Marker setzt. Du wirst das auf deiner weiteren Reise gelegentlich tun müssen.“

***

Mayï fand den Bericht seines Piloten in der Datenbank. Es hatte in der Nacht keine besonderen Vorkommnisse gegeben; wäre dem so gewesen, hätte Pfeifer ihn ohnehin geweckt. Er, der Navigator, und sein Pilot Pfeifer waren beide für das Schiff verantwortlich.
Ni war nur als Passagier an Bord – das behauptete er zumindest. Der Springer war klein, mit nur einer Kajüte, und so hatte er im Hangardeck zwischen dem kleinen Flieger und Kisten voller Gerätschaften und Proviant sein Lager aufgeschlagen. Mayï hätte bereitwillig sein Zimmer mit ihm geteilt, doch Ni hatte dankend abgelehnt. „Ich bin nur vorübergehend an Bord und möchte dich auf keinen Fall durch meine Präsenz beeinflussen. Das Hangardeck reicht mir völlig.“ Ni blickte dem Jungen über die Schulter, wenn er hinter dem Steuerpult saß, und beobachtete genauestens, wie er den Springer manövrierte. Und natürlich studierte er allabendlich Mayïs Aufzeichnungen. Wäre er nicht an Bord, hätte Mayï ihm die Berichte ohnehin geschickt, denn Ni war einer der Ausbilder, denen er auf seiner Reise Rechenschaft ablegen musste. Für Mayï aber war er noch weitaus mehr: Von allen Schülern seines Vaters hatte Ni seinem Meister am nächsten gestanden, die beiden waren beinahe wie Brüder gewesen; von Anfang an war er für den Jungen Onkel und Freund zugleich und seit einem knappen halben Jahr auch sein Vormund. Mayï hatte seinen Anweisungen ohne Wenn und Aber Folge zu leisten, das hatten ihm seine Eltern sehr deutlich klargemacht.
Mayï überprüfte den Kurs und vergewisserte sich, dass die einprogrammierte Route frei von Hindernissen und anderen Überraschungen war. So leer das All auch sein mochte, irgendetwas gab es immer, das ein schnelles Schiff wie ihren Springer vom Kurs abbringen konnte: Eis- und Gesteinsbrocken, manche davon so groß wie Berge, die in die Flugbahn drifteten, die Gravitationsfelder Schwarzer Löcher oder anderer massereicher Objekte, kosmische Interferenzen. Ja, selbst ferne Energiequellen wie Neutronensterne konnten bewirken, dass der Springer instinktgesteuert darauf zuhielt, statt auf Kurs zu bleiben. Springer ernährten sich von Radiowellen und Strahlung jeder Art, Neutronensterne waren für sie geradezu unwiderstehlich.
Für den Augenblick aber war alles in bester Ordnung, und so verließ Mayï seinen Posten am Steuerpult wieder und lief die Treppe zum Korridor hinauf.
Ni war gerade bei der Tür zu seinem Quartier angelangt. „Du kommst gerade recht“, sagte er. In seiner Hand hielt er einen Metallgegenstand, nicht größer als ein Knopf und ebenso flach. In der Mitte war ein winziges Lämpchen in die Hülle eingelassen. Im Augenblick war das Lämpchen dunkel.
„Du sagtest, dein Zimmer sei groß genug, nicht wahr?“ Ni hielt dem Jungen den metallenen Gegenstand hin. „Hier, setze den Marker in diese Ecke zwischen Türrahmen und Wachstumsspalt.“
Mayï nahm das knopfartige Gebilde und schob es senkrecht in die Fuge. Ni reichte ihm ein tragbares Kontrollgerät, das lediglich aus einem Bildschirm mit zwei Griffen an den Seiten bestand. Mayï nahm das Gerät entgegen, drehte es in der Hand und richtete es auf den Marker. Auf dem Bildschirm erschien ein dreidimensionales Modell des Markers und seiner unmittelbaren Umgebung. In dem Modell leuchtete der Marker blau. „Jetzt aktiviere den Marker.“ Der Junge drückte einen Knopf, das Gerät gab einen Piepton von sich – dasselbe Geräusch, das ihn am Morgen geweckt hatte –, und der Marker auf dem Display wechselte die Farbe von Blau zu Grün. Mayï blickte vom Display zum Marker in der Wand: Das Lämpchen war angegangen und blinkte rot.
„Gut. Der Teil der Wand, der sich auf der Rückseite des Markers befindet, ist arretiert, das heißt, er wird nicht weiter mit dem Schiff wachsen. Alles, was sich davor befindet, wird sich mit der Zeit ausdehnen. Vor deinem Quartier wird sich also ein weiterer Raum bilden. Setze nun drei weitere Marker in die anderen Türecken.“
Während er das tat, fragte Mayï: „Was ist mit den anderen drei Räumen?“
„Den Kartenraum im vorderen Teil habe ich nur zur Außenhülle hin arretiert, damit ihm das Bullauge erhalten bleibt. Ansonsten brauchst du dich nicht darum zu kümmern.“
Vom Steuerraum und dem Hangardeck einmal abgesehen, war der Kartenraum der größte Raum eines Springers; er diente der Besatzung als Besprechungs- und Versammlungsort und musste genug Platz bieten für den Projektionstisch mit seinen riesigen Hologrammkarten. Auf Mayïs kleinem Schiff befand sich der Projektionstisch im Steuerraum, und dort würde er so lange bleiben, bis der eigentliche Kartenraum neben Mayïs Quartier seine richtigen Ausmaße erlangt hatte. Dieser wiederum diente unterdessen als Lager.
Nach der Tür war Mayïs Zimmer an der Reihe. Er setzte die Marker in alle vier Ecken jeder Wand, so, wie Ni es ihm erklärt hatte, und aktivierte sie einen nach dem anderen. Nun blieben noch die Kombüse und die Hygienestation auf der gegenüberliegenden Seite des Korridors.
„Die Kombüse könnte größer sein, was meinst du?“, fragte Ni.
Mayï nickte. „Ja, hier brauchen wir noch nichts zu machen. Was ist mit dem Hygieneraum?“
„Die Dimensionen müssen unverändert bleiben, wegen der nicht organischen Installationen. Es ist wichtig, dass die Marker hier genauestens sitzen.“
Die beiden betraten die Hygienestation; rechts befanden sich eine mit Metall ausgekleidete Nische und daneben ein Glaszylinder, beide mannshoch: Die Nische war ein hocheffizienter Abort, der alle organischen Abfallprodukte, die beim Stoffwechsel anfielen, direkt aus dem Körperinneren entfernte, analysierte und in die Wiederaufbereitungseinheit einspeiste. Mayï hatte eine Weile gebraucht, bis er sich an das merkwürdig invasive Gefühl gewöhnt hatte, wenn er sich in die Nische stellte und sein Verdauungstrakt und seine Blase sich auf scheinbar magische Weise leerten. In dem Zylinder befand sich die Dusche, zweckmäßig wie alles andere auf dem Springer und für jemanden, der ausgiebiges Baden liebte, kein großer Spaß. An der gegenüberliegenden Wand war eine schmale Liege montiert, darüber hing eine Metallplatte gleicher Größe: die Diagnoseeinheit. Sie konnte autonom Krankheiten diagnostizieren und behandeln und sogar Knochenbrüche heilen. Die Einheit konnte jedoch keinen Mediziner ersetzen und war nur für den Notfall gedacht. Hinter der Wand befand sich eine ähnliche Anlage für den Piloten. Und wie alle Geräte auf dem Springer lieferten auch die Installationen der Hygienestation ihre Daten auf direktem Wege zu den Ausbildern und Mentoren der beiden Teamkollegen.
„Pilot!“, rief Ni, und schon tauchte hinter der durchsichtigen Wand der quallenartige Körper des Chloeopsiden auf. Der Wasserkanal war hier enger als in der Wand des Korridors, und sein weicher Körper verformte sich, als er sich hineinzwängte. „Es ist wichtig, dass die Diagnosestation auf beiden Seiten symmetrisch bleibt. Daher wirst du die Marker auf deiner Seite genau an derselben Stelle anbringen wie wir auf unserer.“
Mit einem seiner drei kräftigen Greiftentakel zog der Chloeopside einen Marker aus dem Netz, das er mit sich führte, und fixierte ihn an der Wand der Wasserröhre; Ni aktivierte ihn über sein Kontrollgerät. Pfeifers Marker waren schmal und länglich und so konstruiert, dass sie in der Wand des Springers versinken und sich zu einer vorprogrammierten Stelle durcharbeiten konnten.
Den Rest des Vormittags verbrachten die drei damit, die Marker im Hygieneraum zu setzen. Zwischendurch ging Mayï immer wieder hinunter in den Steuerraum und überprüfte die Flugdaten.
„Wie ist der Wasserdruck?“, fragte Ni den Piloten.
„Stabil“, antwortete Pfeifer.
„Verständige die Zentrale der Schulen, sobald er sich verändert. Es dauert eine Weile, bis ein Versorgungsschiff eintrifft, um das Wasserreservoir aufzufüllen. Ohne den richtigen Wasserdruck könnt ihr nicht springen.“
Mayï murmelte etwas Unverständliches; in seinem Rohr in der Wand verschwand der Pilot hinter einem Schwall Luftblasen.
Ni blickte vom Chloeopsiden zum Jungen, ohne dass sein Gesicht eine Gefühlsregung erkennen ließ. „Ja, der erste Sprung war ziemlich holprig.“
Mayï fand, dass das eine Untertreibung war, Pfeifers erster Sprung als Pilot dieses Schiffes hatte ihm eine blutige Nase beschert. Außerdem hatte Pfeifer sein Ziel um mehrere Tagesreisen verfehlt.
„Aber der Pilot wird noch viele Gelegenheiten haben, das zu üben“, sagte Ni.
Nachdem sie mit dem Hygieneraum fertig waren, gingen Mayï und Ni zum Hangardeck hinunter. Auf der Treppe blieb Ni stehen, drehte sich um und zeigte auf einen horizontalen Spalt im Boden, der sich über der obersten Stufe der Treppe aufgetan hatte. „Hier entsteht ein neues Deck. Darum wird sich ein Ingenieur kümmern, sobald die Dehnungsfuge groß genug ist. Die Treppe ist im unteren Deck im Boden festgemacht und sicher.“
Auf dem Hangardeck gab es nicht viel zu tun, sie platzierten lediglich Marker an den Verankerungen des Fliegers. Die Schotten und die Hangaröffnung waren wie der Haupttank des Piloten im Steuerraum und die Wasserrohre, die das Schiff durchzogen, im Gencode des Springers hinterlegt und würden sich dem Wachstum des Schiffes anpassen.

***

„Noch zwei Tage und elf Stunden bis zum Eintritt ins Sonnensystem der Erde“, meldete der Pilot.
Sie hatten die Galaxie an ihrem äußeren Rand entlang umrundet, anstatt sie in nur wenigen Tagen auf geradem Weg zu durchqueren; das Gravitationsfeld des Schwarzen Lochs im Zentrum hätte aufwendiges Gegensteuern verlangt, und sie wollten die Energiereserven des Springers schonen. Deshalb näherte sich das Schiff mit seiner kleinen Besatzung auf einem Umweg seinem Ziel. Ni hatte die Gelegenheit genutzt, um Mayï und seinen Piloten zusätzliche Manöver fliegen zu lassen, und zu seiner Zufriedenheit festgestellt, dass die beiden in der kurzen Zeitspanne, die sie bislang zusammen verbracht hatten, ein nahezu perfekt eingespieltes Team geworden waren. Steueranweisungen seines Piloten befolgte der junge Navigator beinahe zeitgleich und mit äußerster Präzision; zusammen manövrierten sie das Schiff durch dichte Asteroidenschwärme und Radioturbulenzen, als hätten sie jahrelang nichts anderes getan. Und es schien ihnen sichtlich Spaß zu machen. Ohne Murren sprang Mayï nachts aus dem Bett und übernahm hellwach und konzentriert das Steuer, wenn ihn sein Pilot rief. Er konnte das Schiff mehrere Tage hintereinander ohne Ruhepause fliegen, wenn Pfeifer einen kurzen Schlafzyklus benötigte; bei längeren Schlafzyklen allerdings, die etwa alle hundert Tage stattfanden, würde er einen zweiten Navigator brauchen, damit sie sich ablösen konnten, oder das Schiff gleich einer anderen Mannschaft überantworten müssen. Während seines Aufenthaltes auf Karneä hatte Ni ein paar Freunde gebeten, sich um den Springer und seinen schlafenden Piloten zu kümmern, damit Mayï in aller Ruhe die Heimatwelt seiner Eltern erkunden konnte.
„Genug Zeit, den Landgang vorzubereiten“, sagte Ni. „Hast du dir Meister Lereans Aufzeichnung bereits angesehen?“
„Noch nicht“, antwortete Mayï mit leichtem Unbehagen. Sein Vater hatte diese Reise bis ins kleinste Detail geplant, er hatte ihm den Springer organisiert und den Piloten ausgewählt. Der Flug war in mehrere Etappen eingeteilt, jede davon sollte seinem Sohn neues Wissen vermitteln und ihn neue Erfahrungen machen lassen. Für jede Station hatte Meister Lerean eine Aufnahme mit Informationen vorbereitet, damit Mayï sich eine Vorstellung machen konnte von dem, was ihn erwartete. Hätte es sich dabei nur um im Bordcomputer gespeicherte Daten gehandelt, Mayï hätte sie schon längst abgerufen, neugierig wie er war. Sein Vater aber hatte die Aufnahmen als Hologrammprojektionen hinterlegt, und es versetzte Mayï jedes Mal einen Stich ins Herz, ihn in voller Lebensgröße vor sich zu sehen. Nun, da er unerreichbar geworden war. Da tröstete es ihn auch nicht, zu wissen, dass die Aufnahmen lange vor der Herbst-Tagundnachtgleiche gemacht worden waren. Bevor Mayïs Welt auseinandergebrochen war.

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