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Der letzte Karnathide

Regis Jeanin


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 240
ISBN: 978-3-99131-752-4
Erscheinungsdatum: 21.11.2022
Ein Junge kehrt in das Land seiner Väter zurück. Dort erwarten ihn nicht nur Freunde. Kann er das Vertrauen seines Clans gewinnen und sich gleichzeitig mit seinen besonderen Fähigkeiten vor seinen Gegnern schützen?
1.
***

„Vergib mir, dass ich dir diese Last aufbürde.“

Die Sterne schimmerten und funkelten, Myriaden winziger Edelsteine; noch hatten sie den Himmel für sich, erst später am Abend würde ihr Leuchten verblassen, wenn die beiden Monde über dem Berg aufgingen.
Mayï lag auf dem Rücken auf dem Dach seines Heims und blickte nach oben; der laue Wind ließ die Blätter der Bäume hinter dem Haus rascheln und wehte geschäftige Geräusche aus der Küche zu ihm herauf. Leises Rauschen und fernes Geklapper: Mehr war nicht zu hören. Kein Gelächter, keine neckischen Rufe gefolgt von nicht minder frechen Entgegnungen. Es war still geworden auf dem Gelände der Schule auf dem Berg, das vertraute Lärmen der Meute verstummt. Doch so gedämpft die Geräusche auch sein mochten, wenigstens waren sie da, er konnte zumindest etwas hören. Unter dem Dach, auf dem er lag, im Inneren seines Elternhauses, herrschte Stille. Keine Gesprächsfetzen, die er aufschnappen konnte, wenn er am Studierzimmer seines Vaters vorbeiging, während der sich gerade mit jemandem unterhielt – seltener mit einem Besucher, oft über die Kommunikationsstation –; keine sanfte Stimme, die ihn fragte, wie er mit seinen Studien vorankam, oder wieso eben nicht; in letzterem Fall würde die Stimme immer noch sanft bleiben, aber hörbar an Schärfe gewinnen.
Was würde er dafür geben, jetzt, in diesem Augenblick, noch einmal von dieser Stimme gescholten zu werden, er würde sich mit Freuden zusammenfalten lassen. Doch sie würde ihn nie wieder ermutigen oder tadeln; niemand würde plötzlich in der Tür zum Studierzimmer stehen und ihn verscheuchen, wenn er zu lange im Flur gestanden und neugierig gelauscht hatte.
Sie waren weg, alle beide, und ließen dieses leere, stille Haus zurück. Überall lagen und standen ihre Sachen, die Dinge, die ihnen gehört, die sie berührt hatten: Bücher, Schreibzeug, ein Schrank voller Teetassen und -krügen, allesamt Einzelstücke – es gab so vieles, das ihn im Haus auf Schritt und Tritt an seine Eltern erinnerte. Ein Haus voller Geister.
Hier oben war es besser, erträglicher.
Der Nachthimmel war klar, nur am Horizont schoben sich ein paar tiefe Wolken an der Bergflanke entlang, als wären sie zu faul, um drüber zu steigen. Mayï betrachtete weiter die Sterne. Er liebte ihren Anblick, wie sie blinkten und schimmerten, stets am gleichen Ort und doch jedes Mal anders: kalt strahlend im Winter, im Sommer beinahe samtig leuchtend. Oder in unterschiedlichen Farben schillernd, wie jetzt im Herbst. Mayï wusste eine Menge über die Sterne und das Weltall, er verschlang alles, was er an Fakten und Berichten in die Hände bekam; unter seinen Ausbildern befanden sich namhafte Astronomen und Piloten. Dennoch war alles Erlernte bloße Theorie, Fachwissen, mehr nicht. Er wollte die Sterne erleben, sich zwischen ihnen bewegen. Seine Eltern hatten diese Begeisterung zwar nicht geteilt, ihn aber doch ein paar Mal auf ihren Reisen mitgenommen; es war nichts Besonderes gewesen: eine Materiallieferung zum nächstgelegenen Außenposten, ein Abstecher entlang der Bojenroute, um Daten zu sammeln und die Sonden zu warten – reine Routineflüge und nichts, was auch nur annähernd in den eigentlichen Aufgabenbereich seiner Eltern gefallen wäre; sie hatten ihm nur einen Gefallen tun wollen. Für ihn allerdings waren diese Flüge das Größte! Er hatte fast die ganze Zeit auf der Brücke oder im Kartenraum verbracht und die Besatzung, insbesondere den Navigator, mit Fragen gelöchert. Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Mayïs Gesicht, als er nun daran zurückdachte. Was für eine wundervolle Zeit das gewesen war und wie er diese Reisen genossen hatte, gut behütet von seinen Eltern.
Wie er sie vermisste.
Seine Miene wurde wieder ernst, als er an die letzte Reise dachte, die einzige reale Außenmission, an der er teilgenommen hatte, und an deren Ende nichts mehr so war wie zuvor.

***

„Was ist es, das dich hierher führt?“, hatte sein Vater das erste Mal gefragt, als er zu Mayï aufs Reetdach gestiegen war. Andere Väter hätten vielleicht erschrocken gerufen: „Komm sofort runter, dort ist es viel zu gefährlich!“, oder: „Du wirst ausrutschen und in den Abgrund stürzen!“, wenn sie ihren kleinen Sohn auf dem Dach ihres Hauses erwischt hätten, direkt über dem Steilhang, der sich über die sumpfige Ebene erhob. Nicht so Altmeister Lerean. Ein falscher Schritt und es ging beinahe tausend Fuß in die Tiefe, doch er wusste, dass sein Sohn keine Gefahr lief, schließlich war er selbst einer seiner zahlreichen Ausbilder. Außerdem, selbst wenn er versehentlich auf dem rutschigen Grasdach den Halt verlieren sollte: Was konnte ihm schon groß passieren? Außer vielleicht, dass ein Geheimnis, das nie wirklich eines gewesen war, offenbar würde? Statt also seinen Sohn zu schelten, hatte sich sein Vater zu ihm auf das Dach gesetzt, im Zurücklehnen mit einer unbewussten Geste seinen langen Zopf nach vorne über die Schulter geschwungen und gefragt: „Was ist es, das dich hierher führt?“
Mayï hatte die Hand ausgestreckt und sein Vater war mit dem Blick seinem Finger gefolgt. „Das“, hatte Mayï gesagt.
„Das Weltall“, hatte sein Vater gesagt. Eine Feststellung.
„Da möchte ich einmal hin. Mir die Galaxien und Nebel aus der Nähe ansehen. Schauen, was es dort gibt, wer dort lebt.“
„In den Datenbanken findest du alles, was du wissen möchtest“, hatte sein Vater gesagt.
„Das ist nicht dasselbe“, hatte Mayï entgegnet, der über die kleine Informationsstation in seinem Zimmer bereits alles zum Thema gelesen hatte, auf das er Zugriff hatte – und das war eher bescheiden. „Da gibt es nur alte Berichte und Beschreibungen. Für Kinder.“ Er hatte sich aufgesetzt und seinen Vater angesehen. In der Dunkelheit war nur ein Umriss zu erkennen gewesen, und ein Paar Augen, rot leuchtend wie glühende Kohlen. „Das ist uninteressant. Ich möchte mehr erfahren.“
„Das wirst du, zu gegebener Zeit. Sei nicht so ungeduldig.“
Mayï hatte sich wieder zurückfallen lassen und in den Nachthimmel geblickt. „Wenn ich groß bin, möchte ich dort hinaus.“
Vater und Sohn hatten sich noch eine Weile unterhalten über die Sternbilder und Galaxien, die sie von ihrem Platz auf dem Dach aus sehen konnten, und seit jener Nacht vor zehn Jahren war die Richtung von Mayïs Ausbildung klar gewesen.

***

Ein Geräusch hinter ihm ließ Mayï aufblicken. Über den First kam eine Gestalt auf ihn zu. Mayï erkannte die schmale Silhouette sofort. Es war Ni, einer der vier Meisterschüler seines Vaters.
„Hier steckst du also“, sagte Ni. „Dein Essen wartet auf dich.“
„Ich habe keinen Hunger“, sagte Mayï.
Ni setzte sich zu dem Jungen, so wie sein Meister all die Jahre zuvor. Wer die beiden so dasitzen sah, hätte sie für Onkel und Neffe halten können: Sie hatten den gleichen leichten Körperbau, dieselben teeblattförmigen Augen, doch waren die Augäpfel des Jungen blassgrün anstatt weiß, und seine Augen leuchteten im Dunkeln wie die eines nächtlichen Jägers. Ni und Mayï waren zwei verschiedene Spezies – nichts Ungewöhnliches in dieser Welt, in der die Vertreter aller Arten und Spezies des Universums eine Heimat gefunden hatten, gehende, kriechende, schwebende. In der Schule hier auf dem Berg wurden die humanoiden Krieger ausgebildet.
Ni musterte den Jungen; er hatte die gleichen goldgefleckten braunen Augen wie Altmeister Lerean, dieselben unbändigen Locken, nur feuerrot statt schiefergrau, und kurz geschnitten; in alle Richtungen abstehend wehten sie in der leichten Brise.
„Du hast in den vergangenen Tagen viel zu wenig zu dir genommen. Du fängst an abzumagern.“ Ein gurgelndes Grummeln ließ ihn hinzufügen: „Und dein Magen knurrt.“
„Ich habe keinen Appetit“, sagte Mayï wahrheitsgemäß. Er fühlte sich immer noch wie gelähmt nach allem, was passiert war; das Erlebte bereitete ihm Alpträume, sodass er sich kaum noch einzuschlafen traute. In dem Haus voller Gespenster.
Die Mitglieder der Meute gaben sich alle Mühe, ihn moralisch aufzubauen oder wenigstens zu unterstützen, doch sie taten es auf eine gedämpfte und zurückhaltende Weise, die so gar nicht zu ihnen passte. Natürlich ging der Unterricht weiter, waren tagein, tagaus das Klirren und Klappern der Waffen und Holzstöcke zu hören, die gebrüllten Kommandos, der Chor der Antworten. Doch das Gelächter, das die Übungen immer begleitet hatte, war verstummt. Dabei war die Meute bekannt für ihre Fröhlichkeit und ihre derben Späße, obwohl sie die härteste Ausbildung aller Waffenschulen erhielt. Die Meute: was zu Beginn als abwertende Bemerkung gedacht war, hatte sich schnell zu einem begehrten Ehrentitel entwickelt, so wie der vermeintlich rückständige Instruktor aus einer archaischen Gesellschaft zu einem der angesehensten Meister seines Fachs geworden war. Bis heute trugen die Mitglieder der Schule den Namen mit Stolz.
Doch über der Schule lag nun der Schatten der Trauer.
Ni griff mit der Hand unter seine Wickelweste, zog einen kleinen zylindrischen Gegenstand hervor und hielt ihn Mayï hin. Es war ein kompaktes Fernrohr, eines von der Sorte, die sich automatisch justierten. Mayï sah den Waffenmeister fragend an. „Das kleine Raumdock“, sagte Ni lächelnd.
Mayï nahm das Fernrohr und richtete den Blick nach Osten, am Berggrat entlang. Dort waren eben die beiden Monde aufgegangen auf ihren synchronen Umlaufbahnen. Mayï schloss ein Auge und blickte mit dem anderen durch das Fernrohr. Er wusste, dass das kleine Raumdock sich über dem kleineren Mond in einer dem Planeten zugewandten fixen Position befand. Mayï wartete einen Augenblick, bis das Fernrohr die Verzerrungen der Atmosphäre ausgeglichen hatte und das Bild gestochen scharf war. Schnell fand er, was er suchte: eine kugelförmige Konstruktion, von der sich zwölf flache Stege wie die Strahlen eines Kranzes ins All streckten. Nur zwei dieser Stege waren gerade belegt; an einem hatte ein mechanischer Transporter festgemacht, wie sie für kurze Strecken verwendet wurden. Das zweite Schiff war beinahe dreimal so lang wie der Steg, an dem es lag, und völlig fehl am Platze; Schiffe dieser Größe brauchten kein Raumdock. Auf seiner glatten Oberfläche reflektierten unzählige Bullaugen das Sternenlicht wie hunderte winziger Augen. Die gewaltige Schwanzflosse bewegte sich träge auf und ab.
Mayï kannte diese Art Schiffe von seinen Reisen ins All. Merkwürdige Wesen waren das, weder Tier noch Pflanze, sich selbst versorgend, selbstheilend; ihr Inneres ließ sich gestalten, konnte in Korridore und Räume eingeteilt werden, solange sich diese Wesen noch in der Wachstumsphase befanden. Aber das Wichtigste, das, was sie erst zu perfekten Sternenschiffen machte, war: Sie konnten springen, den Raum verdichten, um sich dann hindurchzuwinden, und so gewaltige Entfernungen meistern – vorausgesetzt, es befanden sich ein Pilot und ein Navigator an Bord, die sie zu steuern wussten. Andernfalls war so ein Schiff bloß eine fliegende Seegurke, ständig auf der Suche nach der nächsten Futterquelle. Und die Piloten erst …
Der riesige Springer – so wurden diese Schiffe ob ihrer Eigenschaften bezeichnet – bewegte sich, rollte sich träge etwas zur Seite, sodass zum Vorschein kam, was eben noch in seinem Schatten verborgen gewesen war. Mayï drehte am Justierring seines Fernrohrs und zoomte sich näher an das Dock heran. Nun konnte er sehen, dass die Kreatur gar nicht angedockt hatte, sondern sogar ein gutes Stück vor dem Steg schwebte und mit seinem mächtigen Rumpf den Blick auf etwas anderes versperrt hatte, das in etwa die Größe des mechanischen Transporters hatte, der in einiger Entfernung lag. Ein weiteres Schiff? Was für eins?
Mayï starrte fasziniert und mit offenem Mund durch das Fernrohr, als sich eine Wolke vor die Linse schob, gerade in dem Augenblick, als das kleinere Schiff im Begriff war, aus dem Schatten seines riesigen Begleiters herauszutreten.
Ungeduldig und vor Spannung zappelnd stieß Mayï einen lautlosen Fluch aus. Ni versuchte, nicht zu grinsen. Nach ein paar Augenblicken hatte sich die Wolke verzogen und Mayï setzte das Fernrohr wieder an. Hatte er vorhin richtig gesehen? War das Funkeln dort oben im Schatten des Raumdocks nur das Licht der Sterne, das sich auf der metallenen Hülle eines weiteren Versorgungsschiffes brach?
Der Rumpf des Schiffes schimmerte matt in allen Farben des Regenbogens und war besetzt mit zahlreichen Bullaugen, die das Sternenlicht reflektierten, wie ovale Edelsteine. Es war ein Springer – die exakte Kopie seines ausgewachsenen und fünfmal so großen Begleiters.
„Ich habe noch nie einen jungen Springer gesehen“, sagte Mayï fasziniert. „Er ist so … bunt.“
„Nun ja, jung ist relativ. Das Exemplar da oben hat immerhin schon hundert Jahre auf dem Buckel“, sagte Ni. „Ihre definitive Farbe nehmen sie erst an, wenn sie ausgewachsen sind.“
„Lässt er sich bereits dirigieren? Hat er schon einen Piloten? Darf ich ihn mir mal aus der Nähe ansehen?“ Mayï bestürmte Ni mit Fragen.
Ni lachte. „Ja, ja und … ja! Aber alles zu seiner Zeit. Erst einmal gehen wir zur Kantine, bevor dein Essen eiskalt ist. Es gibt Suppe.“ Wie alle Mitglieder seines Volkes legte Großmeister Ni Mentu, Nachfolger von Altmeister Lerean an der Schule für traditionelle und weiterführende humanoide Kampfkunst, höchsten Wert auf vernünftige Ernährung.
Mayï sprang auf, gab Ni das Fernrohr zurück und rannte sicheren Trittes den First des Reetdaches entlang über das Hauptgebäude zum Nordflügel, hüpfte auf das niedrigere Dach der Galerie, die den kleinen Waffensaal mit den Unterkünften der Schüler verband, und sprang von dort auf die Terrasse, wo er von der Meute mit lautem Hallo begrüßt wurde.
Ni folgte dem Sohn seines Meisters mit gemächlicheren Schritten. Seine Miene war wieder ernst.
In dieser Nacht plagten Mayï keine Alpträume, denn seine Gedanken kreisten allein um den Springer und seine Bestimmung. Es war das erste Mal seit dem Komplott, dem seine Eltern zum Opfer gefallen waren.



2.
***

Der Boden unter seinen Füßen war fest und weich zugleich, genauso, wie er es in Erinnerung hatte, als würde er über einen dicken Teppich schreiten. Mayï streckte seine Hand aus, um die Wand zu berühren. Sie fühlte sich rau und elastisch an, wie Leder. Ein fluoreszierendes Leuchten ging von ihr aus und tauchte den Korridor in gedämpftes hellgrünes Licht. Es roch vage nach Seetang und feuchter Erde. Mayï blieb stehen, lauschte und hörte: nichts. Es herrschte absolute Stille, und nur, wenn er sein Ohr an die Wand hielt, konnte er ein leises Gurgeln vernehmen. Es kam aus den Gleitkanälen für den Piloten, die sich durch das ganze Schiff zogen, zusammen mit einem dichten Netz aus Versorgungsadern und Nervensträngen. Haptik, Geruch, das Fehlen von Maschinengeräuschen, alles war typisch für einen Springer. Doch der Gang war niedriger, als es Mayï von den anderen Schiffen, auf denen er gewesen war, in Erinnerung hatte. Er konnte die Arme heben und die Decke berühren, ohne sich dafür strecken zu müssen. Er ging hinter Ni durch den Korridor, der zu schmal war, als dass sie beide nebeneinander laufen konnten. Ihnen folgte Pao, die jedes Mal den Kopf einziehen musste, wenn sie unter einem Stützbogen hindurchging. Schlank und dunkel überragte sie ihren Waffenbruder um einen Kopf. Die beiden Meisterschüler begleiteten Mayï bei der Besichtigung des kleinen Springers.
„Er hat bislang nur zwei Decks“, erklärte Pao. „Das untere ist ein gutes Stück kürzer als das hier, genügt aber als Lager. Ein kleiner Raumflieger würde auch noch reinpassen.“
Mayï drehte sich zu ihr um. Sie bleckte die spitzen weißen Zähne in einem breiten Grinsen und rollte die Augen, wie immer, wenn sie sich amüsierte. „Wozu sollte man hier ein Lager brauchen?“, fragte Mayï. „Oder einen Flieger. Hier ist ja noch nicht einmal genug Platz für eine Mannschaft.“
„Für eine ganze Besatzung nicht, da hast du vollkommen recht, Kleiner.“ Mayï ärgerte sich jedes Mal, wenn sie ihn so nannte, er war schließlich schon lange kein kleiner Junge mehr. Pao erriet seine Gedanken und grinste noch breiter; wer sie nicht kannte, würde sie glatt für eine Irre halten – und damit nicht völlig falsch liegen. „Aber mit einer minimalen Besetzung vermag dieses Schiff alles, was ein ausgewachsenes Exemplar auch kann. Na ja, vielleicht ist es nicht ganz so bequem“, fügte sie mit einem Schulterzucken hinzu.
Der Korridor vor ihnen wurde breiter und öffnete sich auf eine Art Balkon mit einem Geländer davor. Dahinter lag eine Halle, die über zwei seitliche Treppen zu erreichen war. Unten standen ein Steuerpult und ein Sessel: der Arbeitsplatz des Navigators. Gegenüber befand sich das größte Bullauge des Schiffes, es nahm die gesamte Breite des Bugs ein und wirkte von außen wie ein weit geöffnetes Maul. Durch das riesige Fenster konnte Mayï noch ein Stück des Landungssteges erkennen; dahinter erstreckten sich die unermesslichen Weiten des Alls. Mayï fand, dass es der schönste Ausblick war, den es gab.
Er lief die Treppe hinunter zum Sessel vor der Steuerkonsole. Im Augenblick war der Stuhl unbenutzt und zu einer Kugel zusammengerollt; bei Bedarf würde er sich entfalten und sich der Anatomie des Navigators anpassen. Der eigentliche Pilot war … Mayï drehte sich um und blickte unter den Balkon. Die Wand dort war durchsichtig, der Raum dahinter mit Flüssigkeit gefüllt. Hier befand sich das Herzstück des Springers: der Tank des Piloten; von hier aus verliefen Salzwasserröhren durch das gesamte Schiff, sich in immer feinere Kanäle verzweigend, bis sie in das Nervensystem des lebendigen Schiffes übergingen. Durch diese Bahnen glitten die Tentakel des Piloten, ein Chloeopside, der im Wesentlichen aussah wie eine Qualle: ein Kopf mit meilenlangen hochsensiblen Fäden; wenn er sich einmal ganz entfaltet hatte, konnte der Pilot mit ihnen jeden noch so entlegenen Bereich des Schiffes erreichen. Er kontrollierte den Springer, er steuerte ihn. Ein Chloeopside war eins mit seinem Schiff.
Der Tank war leer.
„Er ist gerade in der Ruhephase“, sagte Ni, „und bereitet sich auf seine Reise vor.“
„Wohin wird er reisen? Und wo ist sein Navigator? Er kann doch unmöglich allein fliegen.“ Ein junger Springer, vermutlich mit seinem allerersten Piloten, beide überdies im Begriff, zu einem Abenteuer aufzubrechen, Mayï verspürte wieder dieses mittlerweile vertraute Gefühl: Fernweh. Könnte er doch mitfliegen. Aber seine Ausbildung war noch lange nicht abgeschlossen.
„Zu deiner ersten Frage“, sagte Ni, der sich zu dem Jungen gesellt hatte, „schau dir die Karte an.“ In der Nähe des Tanks war eine kreisrunde Scheibe in den Boden eingelassen. Mayï trat an sie heran und machte eine Bewegung mit seiner Hand. Wie aus dem Nichts erschien ein dreidimensionales Modell des Weltalls, das sich ganz langsam über der Scheibe um seine Achse drehte. Das Innere der in der Senkrechten schwebenden Ellipse bestand aus einem dichten Netz aus Abermilliarden winzigen Punkten, die sich an manchen Stellen zu kleinen Knoten oder fetten Strängen verdichteten, an anderen Stellen ausdünnten und wie Perlen auf einer Schnur im All hingen, bis sie wieder zu dickeren Fäden zusammenliefen. Zwischen diesem Wirrwarr aus Galaxien, Clustern und mehr oder weniger dichten Filamenten taten sich Leerräume wie Abgründe auf: die Voids. Mit geübten Bewegungen seiner Finger rief Mayï den Teil des Universums auf, in dem sie sich jetzt befanden. Während die Details heranzoomten, kam das träge Rotieren des Modells zum Stillstand. Zunächst wählte Mayï ein Gebiet aus dem oberen Rand des Modells aus und vergrößerte es schrittweise, bis er einen kleinen Galaxienhaufen vor sich hatte, der eine eigentümliche Formation aufwies: Zwei der etwa drei Dutzend Galaxien in dem Haufen befanden sich auf direktem Kollisionskurs; einer der beiden Spiralarme der bläulich schimmernden Galaxie war kurz davor, auf eine gelbe Galaxie zu treffen. Mayï war das Bild vertraut, er konnte es in klaren Nächten am Himmel beobachten, wenn das blaue Band hinter den braungelben Nebeln seiner Heimatgalaxie aufleuchtete.

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