na:i:en

na:i:en

Band 1

Jonathan Saunders


EUR 25,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 686
ISBN: 978-3-99048-135-6
Erscheinungsdatum: 22.07.2015

Leseprobe:

Prolog des Erzählers

Als Patty Brian nach für sie zwanzig verlorenen Jahren wieder im Vereinigten Königreich ankam, erfuhr sie, dass Maynard Ganapathy und Leslie Tralee vor bereits langer Zeit gestorben waren. Ihre noch lebende, vermeintliche Freundin hatte sich unrechtmäßig während Brians Abwesenheit ihr ererbtes Vermögen angeeignet – und sie hatte nicht mehr, als sich als Mensch auf einer unbeschreiblich fantastischen Reise wachsen zu sehen. Einen Menschen, der nun offenbar vor den Scherben seines einstigen Lebens stand, das nicht mehr war.
Die einzigen Freunde, die Patty Brian geblieben schienen, waren zwei vielleicht absurd imaginäre Dohlen, die sie auf einer Insel vor Norwegen zurückgelassen hatte, von der sie selbst aufgebrochen war, um die Wirklichkeit einer diktierenden Zeit in Britannien zu begreifen, die ihr die Dohlen – falls nötig – später zu erklären gedachten.
Enttäuscht einerseits über das menschliche Versagen anderer und den trügerischen Charakter aller Zeit, andererseits aber kräftiger denn jemals zuvor, als Patty Brian noch unter den Menschen lebte, verlässt sie die britische Insel wieder, um das unbegreifliche Mysterium der verlorenen Zeit in duldsamer Einsamkeit mit den ihr ergebenen Dohlen zu verstehen.

Nachdem sie sich von dem scheinbar letzten Schatz Merlins getrennt hatte, der ihr anvertraut worden war, ein in Leder geschlagenes Buch, das sie auf magische Weise durch ihr Leben geführt hatte, machte sie sich auf den Weg zurück zu ihren Vögeln – den letzten, vertrauten Begleitern ihrer selbst, die vielleicht wertvolle Antworten schuldig geblieben waren, so unwahrscheinlich diese auch oft in ihren Ohren geklungen hatten.
Von einem Martin Doheny zu einem Flughafen gebracht, verabschiedete sie sich von ihm, stellvertretend für die Menschheit, lachend auf seine Frage, wohin sie gehen werde, mit den Worten, dass sie auf einem langen, steinigen Weg zu den Sternen sei. Damals ahnte sie noch nicht, welch dramatisches Recht sie besitzen sollte.

Von Schottland flog sie nach Norwegen, organisierte ihre Passage zu Merlins Insel, auf der sie von den Dohlen erwartet wurde, und nahm sich scheinbar aus einer Zeitgeschichte heraus, die ihr Leben für sie zu schreiben müde geworden war.
Gemeinsam mit den Dohlen Daoine und Sidhe in ihrem gewählten Exil, offenbar der vielsinnigen Welt fremd geworden, fern ihrer zweifelhaften Ereignisse, dauerte Brian an. Sie war unbemerkt. Unscheinbar. Und heimlich mit ihren beflügelten Geistern. Still … als Frau. Bescheiden und demütig … als Mensch. Allgegenwärtig … als Wesen in ihrer Einsamkeit. Und sie wuchs in streitender Gewissheit, etwas sei anders mit ihr als mit anderen Menschen.

Auf dieser Insel des Nordmeeres, gebettet in ihre wattigen Nebelbänke, vermochte Zeit nur noch verwunschen zu sein und Brian ein gewinnendes Dasein zu fristen, dessen Summen sie als Mensch kaum ertragen könnte.
Und hungrig sah man sie zwischen glitschigen Felsen rutschend nach Muscheln und Tang suchen, bevor sich ihr jene Welt zeigen mochte, die Brians wahrscheinlich wirkliches Wesen offenbaren würde.



I

„Das kann man sehen, wie man will. Tatsache ist, ich weiß weder, was mir geschieht, noch habe ich die mindeste Ahnung, wie es geschieht. Und darin Erfüllung oder gar Weisheit erkennen zu wollen ist für mich durchaus gewagt. Muscheln, Seepocken, Krabben und Tang … nur das scheint mir heute noch sicher zu sein“, meinte Brian zu Sidhe, ihrer sie begleitenden Dohle, die erheblich beholfener als Brian über die glitschigen Steine am Meeressaum der Insel hüpfte. „Und alles andere ist unsicher. Höhere Bestimmung und so ein Mist … und selbst wenn ich an die Muscheln denke, so weiß ich noch nicht einmal, ob die nicht vielleicht radioaktiv belastet sind“, sprach sie und kratzte mit ihren bereits wunden Fingern eine weitere Muschel aus einer nassen, salzigen Steinspalte, die sie sich dann in ihre Jackentasche zu den vorher gefundenen steckte.
Das Meer lief mit langen, flachen Wellen gegen den alten Felsen von Merlins Insel, die für Brian einen vulkanischen Ursprung zu besitzen schien.
„Dafür hältst du dich aber immer noch gut“, lobte Sidhe Brian laut und sehr bewusst.
„Und du auch. Denn welche sprechende Dohle kann schon so geschickt über die verflixt glitschigen Steine stolzieren und gleichzeitig über die Zeit philosophieren?“, erwiderte Brian sarkastisch. „Dazu gehört einiges Talent, finde ich.“
„Was bleibt uns übrig, frage ich mich?“
„Na, dann frage einmal mich, und ich kann dir einiges sagen … Warum nur werden wir hier irgendwie festgehalten? Was hält uns bloß hier, Sidhe? Und worauf warten wir? Manchmal weiß ich, dass das Schwappen der Meereswellen hier als eine Warnung zu verstehen ist, nur hier auf diesem Felsen bleiben zu sollen“, meinte Brian und wusste kaum noch, ob es eine ihr bekannte Welt hinter diesem Ozean gab. „Du könntest ja fliegen. Aber ich …, ich sitze hier irgendwie fest und harre aus, weil sich eine Wölfin mein Schicksal so gedacht hat. Denn dass das Merlins Absicht gewesen sein könnte, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, bemerkte sie, steckte sich die noch geschlossenen Muscheln in die Tasche und meinte, man sollte wieder auf das Plateau zu der Höhle zurückkehren, da sie genügend Meerestiere für eine Mahlzeit gefunden hätte. „Und hoffentlich fängt Daoine nicht wieder mit dem Blödsinn von Reinkarnation an“, lachte sie etwas bitter. „Sieh mich an. Die Fingernägel eingerissen. Stumpf. Zerbrochen. Meine Finger kaputt und die Haut zerschunden“, meinte sie und betrachtete ihre strapazierten Hände. „Ganz zu schweigen einmal davon, dass dieser Felsen sicher für eine Maniküre völlig ungeeignet ist und sie sicher niemandem empfehlen wollte“, ergänzte sie, als Sidhe über Brians unmutigen Kommentar schmunzeln musste. „Mit deinen Flügeln bist du mir wirklich keine sonderliche Hilfe beim Umdrehen der Steine“, sagte sie und hatte sich bereits zum Gehen gedreht, um über die glitschigen Steine zurückzurutschen. „Vielleicht kommt wenigstens einmal ein neuer Haarschnitt in Betracht. Mal sehen, ob wir das nicht irgendwie hinkriegen. Durch und wegen euch bin ich hier. Also tut auch etwas für mich“, stöhnte sie mehr vor sich hin, als dass sie mit Sidhe sprach. „Es ist an euch, euren Protagonisten in der wohl traurig-komischsten Geschichte dieser Welt zu amüsieren und bei Laune zu halten.“
„Patty. Es ist deine Geschichte. Und wir sind in ihr nur die Statisten. Ob du es wahrhaben willst oder nicht. Wir sind nebensächlich“, erwiderte Sidhe und erinnerte Brian an Dinge, von denen sie gegenwärtig nichts wissen wollte.
„Ach ja?! Du meinst, da war noch etwas?!“, lachte sie wieder innerlich angespannt und rutschte seitlich auf einem der runden Steine aus. „Mist. Ich bekomme einfach kein Gleichgewicht in meinen Körper. Das sollte mir doch nach all der Zeit und der Übung besser gelingen. Und trotzdem tut es das nicht. Wie ein Spastiker auf einem Drahtseil“, fluchte sie, rutschte seitlich mit den Füßen und fiel hart auf ihre Hüfte. In ihrer Hosentasche hörte sie wenigstens eine der gesammelten Muscheln zerbersten. „Und was für ein Schiss. Meine Frutti di Mare sind auch tutti kaputti“, fluchte sie unbeherrscht, kam wieder auf die Beine, rieb sich mit den schmerzenden Händen die Hüfte und lief tapfer weiter.
Ein Abend war angebrochen und für Brian eine kaum noch denkbare Zeitspanne vergangen. Alles an und auf dieser Insel war anders, als sie es wünschend geahnt hatte. Diese Insel war nicht der Vorposten einer Zivilisation. Sie war kein Funkfeuer schließlichen Menschwerdens. Da gab es nichts verbindlich Bekanntes zu einer ihr gewordenen Welt, sondern nur den Wechsel für sie wahllos gewordener Tage eines Nordens, der sich aus der Zeit gestohlen zu haben schien. Ein Norden, der sich aus jederzeit herausnahm. Und ein Norden, der in keiner Zeit war, konnte auch kein Norden mehr sein. Und das Meer schien keinen Gezeitenhub zu kennen. Der Mond als ein verlässlicher Gefährte ihres Lebens hatte hier als Trabant vollkommen versagt, indem er jeden Abend zunehmend im Westen seinen Gang begann, dann in den Norden stieg, zum Vollmond wurde und des Morgens abnehmend im Osten verschwand, bevor die immer wiederkehrende Sonne verlässlich aufging. Jeden Tag wiederkehrend. Als Erdenmond hatte er für Brian also kläglich versagt, wie sie einmal den Dohlen gegenüber feststellte und den enttäuschend absurden Gedanken den Vögeln ausführte. Und so faszinierend das Schauspiel auch sein mochte, falls man es nur einmal erleben würde, so gewöhnlich und falsch war es für Brian geworden, da der Gang dieser Himmelskörper einfach nicht aufhören wollte, nur Schauspiel zu sein. Sosehr sich die Nächte ähnelten, falls sie sich nicht vollkommen glichen, entsprachen sich auch die Tage in ihrer Einsiedelei auf Merlins Insel, angeblich irgendwo vor Norwegen. Einer Insel keines möglichen Meeres. Einer Insel, die in einer versehentlichen Drift von der Erde verschwunden zu sein schien.
Die Sonne spendete das Licht. Das schien ihr unstrittig. Zuweilen meinte sie, dass es wenigstens der Wahrscheinlichkeit entsprechend eine Sonne sein müsse, von der man das, was gespendet wurde, Licht nennen könne. Manchmal aber war sie sich auch nicht sicher, dass es die Sonne sei, durch die ein Tag seinen Namen gegen die Nacht abgrenzte. Und die Dohlen konnten ihr keinen Aufschluss darüber geben, ob es nun tatsächlich Sonnenlicht oder irgendwie anders gespendetes Tageslicht sei, denn auch sie konnten sich viel des Geschehens auf der Insel nicht erklären. Wollten sie anfangs noch nach Antworten suchen, indem sie an die Küste Norwegens zurückgeflogen waren, um sich einer möglichen Wirklichkeit zu vergewissern, gaben sie ihre zwecklosen Flüge bald auf, da sie stets an einer kaum merklich und doch veränderten Küste ankamen, die den Dohlen mit keiner Klärung aufwartete. Sie konnten nicht sagen, ob sich die Küste wegen der vergangenen Zeit verändert hatte oder ob es sich um eine wahrhaft andere Küste handelte. Was jedenfalls als Aufschluss gedacht war, verwirrte sie nur umso mehr. Und die Geschichte einer schweigenden Küstenlinie, die sie nicht mehr zu kennen schienen, hatte Brian ihnen nicht glauben wollen. Von daher sind die Erkundungsflüge eingestellt worden. Man sprach ganz einfach nicht mehr über die Zeit einer Welt – einer vielleicht entrückten Umwelt parallel der noch gut erinnerten Heimat. Wenigstens die Anderswelt, von der farbenreiche Geschichten plastischer Schönheit und betörender Fantasie erzählt worden waren, diese Anderswelt war ihnen nicht begegnet. Sie war ihnen verschlossen geblieben, falls es sie geben sollte. Und ob sie, falls vorhanden, auf Dauer lebbar wäre, sei dahingestellt, dachte Brian. Muscheln, Krebse und Seetang sammelnd und essend. Irgendetwas schien in der Welt geschehen zu sein, was sich keiner der drei Gefährten erklären konnte. Sie fühlte sich wie in einem gläsernen Sarkophag mumifiziert, wie es Daoine einmal nicht trefflicher hätte beschreiben können.
Sich an den Sternen orientieren zu wollen, hatten sie bereits aufgegeben. Sich überhaupt an irgendeinem räumlichen Grat in ein Verhältnis zu ihrer Zeit zu setzen schien gänzlich unmöglich. Und eine Zeit an und für sich zu bestimmen war ihnen so unwichtig geworden, wie es zwecklos gewesen wäre, ihren Lebensraum einem Ort zuordnen zu wollen.

Brians Hüfte schmerzte noch, als sie über den steilen Anstieg auf das Felsplateau die Kuppe der kargen Insel erreichte. Vor dem Höhleneingang, der ihr wenigstens Herberge geboten hatte, brannte noch ein Feuer, das sie jetzt bereits sehen konnten.
„Wird sich Daoine etwas beruhigt haben? Ich meine, ihr kennt euch besser“, fragte Brian, die sich fast sicher schien, dass die beiden Vögel keinesfalls Wesen ihrer Fantasie sein konnten, sondern wahrhaftige Vögel waren, mit denen sie aus einem ihr unbekannten Grund sprechen und Gedanken austauschen konnte.
„Würde es für dich einen Unterschied machen?“, erkundigte sich Sidhe erstaunt darüber, dass Brian tatsächlich besorgt über eine Verstimmung von Daoine sein konnte. Was für einen Sinn sollte sonst ihre Frage gehabt haben, falls nicht die Sorge um eine bestimmte Harmonie in ihrem Zusammenleben im Vordergrund stehen würde?
„Nein. Du hast recht. Obwohl mir das dauernde Lamentieren nicht gefällt. Und ich will von diesem ganzen esoterischen Gesabber nichts mehr hören. Metaphysik …, die ließe ich mir noch gefallen. Darin steckt Philosophie und Melodie. Aber Esoterik …?! Und schlimm genug, dass ich schon mit Dohlen spreche“, sagte sie vorgeblich barsch und warf einen verstohlenen Blick auf Sidhe.
„Stimmt wohl. Was aber würdest du hier tun, falls du nicht mit Dohlen reden würdest?“, fragte Sidhe klug weiter.
„Dann wäre ich wohl erst gar nicht hierhergekommen, nicht wahr! Denn es bedurfte zuerst schnatternder Dohlen, die mir ein Ziel meiner Reise einreden mussten. Und hier sind wir nun.“
„Hmmm. Dann hättest du etwas verpasst, meinst du nicht auch, Patty?“
„Ach wirklich? So etwas wie Muschelbrei in meiner Hosentasche, einen entrücktenVerstand, Unsicherheit über eine unwahre Welt und …“
„Und uns!“, fügte Sidhe auf dem Weg zum Höhleneingang hinzu, bevor Brian das zu sagen vergessen hätte.
„Und euch“, bestätigte Brian, als sie auf dem Plateau angekommen waren. „Und was davon wäre das Schlimmste gewesen, das ich hätte versäumen können?“, überlegte sie, ohne den Gedanken ernsthaft zu verfolgen, als sie bereits Daoine auf dem Felsen über dem Höhleneingang hocken sahen und ihm schon von Weitem zurief: „Daoine, was immer du dir auch hast einfallen lassen können: Wir sind mit dem Thema für heute durch“, was die Dohle über die Entfernung hörte, daraufhin den Kopf in Brians Richtung drehte, den Blick aus der sonnigen Abenddämmerung wendete und sich zu den beiden herannahenden Freunden aufschwang.
„Sowohl … als auch, Patty. Für heute dann. Und ich bin nicht nachtragend“, meinte sie noch aus der Luft herab, als sie über den beiden anderen kreiste.
„Einverstanden“, sagte Brian, rieb sich die wund aufgerissenen Hände vorsichtig und hinkte immer noch leicht wegen der Schmerzen in der Hüfte. „Zum Glück ist nicht mehr passiert. Was würde ich nur machen, hätte ich mir meine Knochen gebrochen? So einen erstklassigen Spiralbruch? Oder den Schenkelhals …?“
„Hast du dich verletzt?“, fragte Daoine besorgt, und Sidhe erzählte, dass Brian zwischen den Felsen des Inselsockels am Meer ausgerutscht sei und hart auf die Hüfte gefallen sei, was ihr die Schmerzen zu bereiten schien.
„Passiert eben in diesem Leben … als Mensch. In meinem nächsten Leben – dann als Muschel – lasse ich mich von einer ausgehungerten Furie von Steinen absammeln, um in ihrer Hosentasche püriert und zermatscht zu werden“, meinte Brian schmunzelnd.
„Das Thema ist für heute erledigt, hattest du gesagt“, erinnerte Daoine Brian.
„Und du sagtest: sowohl … als auch.“
„Ja. Das sagte ich. Und?“
„Dann war das eben nur das sowohl. Und das als auch lassen wir dann. Oder wir heben es uns auf. Vielleicht für morgen? Oder für ein Morgen, das so sein wird wie ein Gestern und Vorgestern, und sein könnte, wie ein Übermorgen. Immerfort die Zeit einer gleichen Gestalt …“, sagte Brian, während sie vor der Höhle an dem knisternden Feuer angekommen waren.
„Ein Königreich für ein Stück Seife“, meinte sie und fühlte sich von Schmutz und Salzwasser fast schon verkrustet. Sie stank, roch es aber nicht mehr. „Eine Frau in den besten Jahren. Und schaut euch mich an, was ich bin. Und wie ich hier jenseits allen Verstandes lebe … und verkomme“, lachte sie bitter. „Die Haut ist strapazierfähiger geworden … wenn nicht ledern …“, sagte Brian und griff in die Hosentasche nach den geernteten Muscheln. „Ekelig und Ekelglibber. Schleim und ’ne einzige Schweinerei. Wo ist denn nur der Kochtopf?“, fragte sie die Dohlen, die sie beobachteten. „Sagt schon: Wo ist der Topf für unser Zauberelixier, zu dem bloß noch die Kröten und Schlangengift fehlen?“, fragte sie erneut. „Wie hat das Merlin bloß gemacht? Hatte er eine andere Technik der Nahrungsmittelbeschaffung? Was hatte er sich zu essen besorgt? Oder hatte er einfach einen ganz anderen Speiseplan? Woher hatte er die Früchte, denn am Apfelbaum … da rührt sich nichts. Kein Blatt und keine Blüte. Wohl Knospen …, die aber offenbar in den nächsten fünftausend Jahren oder so nicht aufgehen werden“, meinte sie und entdeckte dann den Kochtopf allein, den wohl auch Merlin schon in ein Feuer gestellt hatte. Wozu sonst wäre er auf der Insel gewesen, dachte sie nach. „Ein guter Abend wird das schon nicht mehr werden können. Oder anders ausgedrückt: Es kann eigentlich nicht noch schlechter werden. Und von daher wird es besser als gedacht. Oder aber … wir hören einfach einmal auf zu empfinden und zu denken. Und dann ist alles urplötzlich wieder gut. Hmmm …, Mist, wo nur sind wir hingeraten?“, faselte sie vor sich her, warf die zwei Hände voller Muscheln klappernd in den Topf und stellte ihn in die Glut der tiefen Flammen. „Wieder und wieder Camping …, und dabei ist Camping eigentlich zum Kotzen.“
„Wie kommst du mit dem Schwimmen voran, Patty?“, fragte Daoine, um Brian aus ihren übellaunigen Gedanken zu ziehen, die sie zur Genüge kannten.
„Na …, wie läuft es denn bei dir mit dem Telefonieren?“, fragte sie zynisch zurück. „’tschuldigung. Das habe ich nicht so gemeint. Es ist alles komisch. Ich glaube, solange mir keine Kiemen und Schwimmhäute wachsen, werde ich euch nicht mehr los“, ergänzte sie spaßhaft, während die Dohlen über den Gedanken staunten. „Nein. Auch das war nicht so gemeint. Also, ich scheine mit der Temperatur des Wassers klarzukommen. Es müsste kalt sein, doch ich empfinde es nicht. Auch mit den Wellen verstehe ich umzugehen. Aber meine Kraft und meine Kondition lassen noch nicht allzu viel zu“, sagte sie, während sie den heißen Topf in der Glut schüttelte, schnell die Hände zurückzog und die Muscheln blechern in dem Metallgefäß klapperten.
Brian hatte vor einiger Zeit angefangen, sich an das für sie unheimliche Meer zu gewöhnen, und war von ihren anfänglichen Waschversuchen langsam zum Baden und schließlich zum Schwimmen übergegangen. Sie hatte Gefallen an dem Salzwasser gefunden, das ihr zuvor großen Respekt und intuitive Ängste eingeflößt hatte. Eine schwer begreifliche Angst, die ihr allgegenwärtig schien, bis sie Brian zu irrational wurde und sie sich innerlich dagegen wehrte. Dann hatte sie begonnen, sich zu überwinden. Zur Überraschung der Dohlen war sie eines Tages schreiend in das eisige Wasser hineingelaufen. Und ihre Stimme hatte ihr offenbar Mut gemacht. Dann war sie eingetaucht, atmete tief und war im Ozean für Momente verschwunden. Als sie kurz darauf schwerer atmend wieder auftauchte, war sie von einer veränderten, geheimnisvollen Frische gezeichnet, von der sie seitdem ergriffen war; sie wollte sie weder wieder loslassen noch auf sie verzichten.

In dem glühend heißen Topf Merlins waren die Muscheln gegart. Vorsichtig, mit raschen Bewegungen nahm Brian den Topf aus der Glut, sah das magere Resultat eines kaum nennenswerten Gerichtes als Ausbeute ihrer Jagd, schnalzte einmal verächtlich mit ihrer Zunge und machte sich dann mit einem scharfkantigen Stein als Werkzeug daran, die harten Schalentiere aufzubrechen.
„Heiß, heiß, heiß … und noch mal heiß. Verflixt …!“, rief sie und ließ die Tiere wie glühende Kohlen wieder in den Topf fallen. „Was für eine Esskultur! Wie bin ich doch heruntergekommen. Was für armselige Gewohnheiten …“, meinte sie, als die Dohlen sich ansahen, auf ihre Weise schmunzelten und davonhüpfen wollten. „Nein, nein. Ihr bleibt. Ihr sollt sehen, was aus mir geworden ist. Sahelanthropus tschadensis … dem würde ich vielleicht gerade noch Eindruck machen können“, rief sie energisch und pustete sich kalte Luft an die verbrannten Finger, als die Sonne unterging und der allabendliche Wind sanft über die Insel strich, während er unterhalb des Plateaus unter dem ewig über der See liegenden Nebel an den Klippen zu stürmen begann. „Dass ich mir meine Finger verkokeln kann, scheint das einzige Indiz einer wahrscheinlichen Körperlichkeit zu sein. Weder die Temperatur stimmt hier. Noch stimmt das Wetter. Und Wetter ist es schon gar nicht mehr zu nennen, was wir hier erleben. Ist alles ein bisschen Beinn a Ghlo und wie im Märchenland …“, meinte sie.

Prolog des Erzählers

Als Patty Brian nach für sie zwanzig verlorenen Jahren wieder im Vereinigten Königreich ankam, erfuhr sie, dass Maynard Ganapathy und Leslie Tralee vor bereits langer Zeit gestorben waren. Ihre noch lebende, vermeintliche Freundin hatte sich unrechtmäßig während Brians Abwesenheit ihr ererbtes Vermögen angeeignet – und sie hatte nicht mehr, als sich als Mensch auf einer unbeschreiblich fantastischen Reise wachsen zu sehen. Einen Menschen, der nun offenbar vor den Scherben seines einstigen Lebens stand, das nicht mehr war.
Die einzigen Freunde, die Patty Brian geblieben schienen, waren zwei vielleicht absurd imaginäre Dohlen, die sie auf einer Insel vor Norwegen zurückgelassen hatte, von der sie selbst aufgebrochen war, um die Wirklichkeit einer diktierenden Zeit in Britannien zu begreifen, die ihr die Dohlen – falls nötig – später zu erklären gedachten.
Enttäuscht einerseits über das menschliche Versagen anderer und den trügerischen Charakter aller Zeit, andererseits aber kräftiger denn jemals zuvor, als Patty Brian noch unter den Menschen lebte, verlässt sie die britische Insel wieder, um das unbegreifliche Mysterium der verlorenen Zeit in duldsamer Einsamkeit mit den ihr ergebenen Dohlen zu verstehen.

Nachdem sie sich von dem scheinbar letzten Schatz Merlins getrennt hatte, der ihr anvertraut worden war, ein in Leder geschlagenes Buch, das sie auf magische Weise durch ihr Leben geführt hatte, machte sie sich auf den Weg zurück zu ihren Vögeln – den letzten, vertrauten Begleitern ihrer selbst, die vielleicht wertvolle Antworten schuldig geblieben waren, so unwahrscheinlich diese auch oft in ihren Ohren geklungen hatten.
Von einem Martin Doheny zu einem Flughafen gebracht, verabschiedete sie sich von ihm, stellvertretend für die Menschheit, lachend auf seine Frage, wohin sie gehen werde, mit den Worten, dass sie auf einem langen, steinigen Weg zu den Sternen sei. Damals ahnte sie noch nicht, welch dramatisches Recht sie besitzen sollte.

Von Schottland flog sie nach Norwegen, organisierte ihre Passage zu Merlins Insel, auf der sie von den Dohlen erwartet wurde, und nahm sich scheinbar aus einer Zeitgeschichte heraus, die ihr Leben für sie zu schreiben müde geworden war.
Gemeinsam mit den Dohlen Daoine und Sidhe in ihrem gewählten Exil, offenbar der vielsinnigen Welt fremd geworden, fern ihrer zweifelhaften Ereignisse, dauerte Brian an. Sie war unbemerkt. Unscheinbar. Und heimlich mit ihren beflügelten Geistern. Still … als Frau. Bescheiden und demütig … als Mensch. Allgegenwärtig … als Wesen in ihrer Einsamkeit. Und sie wuchs in streitender Gewissheit, etwas sei anders mit ihr als mit anderen Menschen.

Auf dieser Insel des Nordmeeres, gebettet in ihre wattigen Nebelbänke, vermochte Zeit nur noch verwunschen zu sein und Brian ein gewinnendes Dasein zu fristen, dessen Summen sie als Mensch kaum ertragen könnte.
Und hungrig sah man sie zwischen glitschigen Felsen rutschend nach Muscheln und Tang suchen, bevor sich ihr jene Welt zeigen mochte, die Brians wahrscheinlich wirkliches Wesen offenbaren würde.



I

„Das kann man sehen, wie man will. Tatsache ist, ich weiß weder, was mir geschieht, noch habe ich die mindeste Ahnung, wie es geschieht. Und darin Erfüllung oder gar Weisheit erkennen zu wollen ist für mich durchaus gewagt. Muscheln, Seepocken, Krabben und Tang … nur das scheint mir heute noch sicher zu sein“, meinte Brian zu Sidhe, ihrer sie begleitenden Dohle, die erheblich beholfener als Brian über die glitschigen Steine am Meeressaum der Insel hüpfte. „Und alles andere ist unsicher. Höhere Bestimmung und so ein Mist … und selbst wenn ich an die Muscheln denke, so weiß ich noch nicht einmal, ob die nicht vielleicht radioaktiv belastet sind“, sprach sie und kratzte mit ihren bereits wunden Fingern eine weitere Muschel aus einer nassen, salzigen Steinspalte, die sie sich dann in ihre Jackentasche zu den vorher gefundenen steckte.
Das Meer lief mit langen, flachen Wellen gegen den alten Felsen von Merlins Insel, die für Brian einen vulkanischen Ursprung zu besitzen schien.
„Dafür hältst du dich aber immer noch gut“, lobte Sidhe Brian laut und sehr bewusst.
„Und du auch. Denn welche sprechende Dohle kann schon so geschickt über die verflixt glitschigen Steine stolzieren und gleichzeitig über die Zeit philosophieren?“, erwiderte Brian sarkastisch. „Dazu gehört einiges Talent, finde ich.“
„Was bleibt uns übrig, frage ich mich?“
„Na, dann frage einmal mich, und ich kann dir einiges sagen … Warum nur werden wir hier irgendwie festgehalten? Was hält uns bloß hier, Sidhe? Und worauf warten wir? Manchmal weiß ich, dass das Schwappen der Meereswellen hier als eine Warnung zu verstehen ist, nur hier auf diesem Felsen bleiben zu sollen“, meinte Brian und wusste kaum noch, ob es eine ihr bekannte Welt hinter diesem Ozean gab. „Du könntest ja fliegen. Aber ich …, ich sitze hier irgendwie fest und harre aus, weil sich eine Wölfin mein Schicksal so gedacht hat. Denn dass das Merlins Absicht gewesen sein könnte, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen“, bemerkte sie, steckte sich die noch geschlossenen Muscheln in die Tasche und meinte, man sollte wieder auf das Plateau zu der Höhle zurückkehren, da sie genügend Meerestiere für eine Mahlzeit gefunden hätte. „Und hoffentlich fängt Daoine nicht wieder mit dem Blödsinn von Reinkarnation an“, lachte sie etwas bitter. „Sieh mich an. Die Fingernägel eingerissen. Stumpf. Zerbrochen. Meine Finger kaputt und die Haut zerschunden“, meinte sie und betrachtete ihre strapazierten Hände. „Ganz zu schweigen einmal davon, dass dieser Felsen sicher für eine Maniküre völlig ungeeignet ist und sie sicher niemandem empfehlen wollte“, ergänzte sie, als Sidhe über Brians unmutigen Kommentar schmunzeln musste. „Mit deinen Flügeln bist du mir wirklich keine sonderliche Hilfe beim Umdrehen der Steine“, sagte sie und hatte sich bereits zum Gehen gedreht, um über die glitschigen Steine zurückzurutschen. „Vielleicht kommt wenigstens einmal ein neuer Haarschnitt in Betracht. Mal sehen, ob wir das nicht irgendwie hinkriegen. Durch und wegen euch bin ich hier. Also tut auch etwas für mich“, stöhnte sie mehr vor sich hin, als dass sie mit Sidhe sprach. „Es ist an euch, euren Protagonisten in der wohl traurig-komischsten Geschichte dieser Welt zu amüsieren und bei Laune zu halten.“
„Patty. Es ist deine Geschichte. Und wir sind in ihr nur die Statisten. Ob du es wahrhaben willst oder nicht. Wir sind nebensächlich“, erwiderte Sidhe und erinnerte Brian an Dinge, von denen sie gegenwärtig nichts wissen wollte.
„Ach ja?! Du meinst, da war noch etwas?!“, lachte sie wieder innerlich angespannt und rutschte seitlich auf einem der runden Steine aus. „Mist. Ich bekomme einfach kein Gleichgewicht in meinen Körper. Das sollte mir doch nach all der Zeit und der Übung besser gelingen. Und trotzdem tut es das nicht. Wie ein Spastiker auf einem Drahtseil“, fluchte sie, rutschte seitlich mit den Füßen und fiel hart auf ihre Hüfte. In ihrer Hosentasche hörte sie wenigstens eine der gesammelten Muscheln zerbersten. „Und was für ein Schiss. Meine Frutti di Mare sind auch tutti kaputti“, fluchte sie unbeherrscht, kam wieder auf die Beine, rieb sich mit den schmerzenden Händen die Hüfte und lief tapfer weiter.
Ein Abend war angebrochen und für Brian eine kaum noch denkbare Zeitspanne vergangen. Alles an und auf dieser Insel war anders, als sie es wünschend geahnt hatte. Diese Insel war nicht der Vorposten einer Zivilisation. Sie war kein Funkfeuer schließlichen Menschwerdens. Da gab es nichts verbindlich Bekanntes zu einer ihr gewordenen Welt, sondern nur den Wechsel für sie wahllos gewordener Tage eines Nordens, der sich aus der Zeit gestohlen zu haben schien. Ein Norden, der sich aus jederzeit herausnahm. Und ein Norden, der in keiner Zeit war, konnte auch kein Norden mehr sein. Und das Meer schien keinen Gezeitenhub zu kennen. Der Mond als ein verlässlicher Gefährte ihres Lebens hatte hier als Trabant vollkommen versagt, indem er jeden Abend zunehmend im Westen seinen Gang begann, dann in den Norden stieg, zum Vollmond wurde und des Morgens abnehmend im Osten verschwand, bevor die immer wiederkehrende Sonne verlässlich aufging. Jeden Tag wiederkehrend. Als Erdenmond hatte er für Brian also kläglich versagt, wie sie einmal den Dohlen gegenüber feststellte und den enttäuschend absurden Gedanken den Vögeln ausführte. Und so faszinierend das Schauspiel auch sein mochte, falls man es nur einmal erleben würde, so gewöhnlich und falsch war es für Brian geworden, da der Gang dieser Himmelskörper einfach nicht aufhören wollte, nur Schauspiel zu sein. Sosehr sich die Nächte ähnelten, falls sie sich nicht vollkommen glichen, entsprachen sich auch die Tage in ihrer Einsiedelei auf Merlins Insel, angeblich irgendwo vor Norwegen. Einer Insel keines möglichen Meeres. Einer Insel, die in einer versehentlichen Drift von der Erde verschwunden zu sein schien.
Die Sonne spendete das Licht. Das schien ihr unstrittig. Zuweilen meinte sie, dass es wenigstens der Wahrscheinlichkeit entsprechend eine Sonne sein müsse, von der man das, was gespendet wurde, Licht nennen könne. Manchmal aber war sie sich auch nicht sicher, dass es die Sonne sei, durch die ein Tag seinen Namen gegen die Nacht abgrenzte. Und die Dohlen konnten ihr keinen Aufschluss darüber geben, ob es nun tatsächlich Sonnenlicht oder irgendwie anders gespendetes Tageslicht sei, denn auch sie konnten sich viel des Geschehens auf der Insel nicht erklären. Wollten sie anfangs noch nach Antworten suchen, indem sie an die Küste Norwegens zurückgeflogen waren, um sich einer möglichen Wirklichkeit zu vergewissern, gaben sie ihre zwecklosen Flüge bald auf, da sie stets an einer kaum merklich und doch veränderten Küste ankamen, die den Dohlen mit keiner Klärung aufwartete. Sie konnten nicht sagen, ob sich die Küste wegen der vergangenen Zeit verändert hatte oder ob es sich um eine wahrhaft andere Küste handelte. Was jedenfalls als Aufschluss gedacht war, verwirrte sie nur umso mehr. Und die Geschichte einer schweigenden Küstenlinie, die sie nicht mehr zu kennen schienen, hatte Brian ihnen nicht glauben wollen. Von daher sind die Erkundungsflüge eingestellt worden. Man sprach ganz einfach nicht mehr über die Zeit einer Welt – einer vielleicht entrückten Umwelt parallel der noch gut erinnerten Heimat. Wenigstens die Anderswelt, von der farbenreiche Geschichten plastischer Schönheit und betörender Fantasie erzählt worden waren, diese Anderswelt war ihnen nicht begegnet. Sie war ihnen verschlossen geblieben, falls es sie geben sollte. Und ob sie, falls vorhanden, auf Dauer lebbar wäre, sei dahingestellt, dachte Brian. Muscheln, Krebse und Seetang sammelnd und essend. Irgendetwas schien in der Welt geschehen zu sein, was sich keiner der drei Gefährten erklären konnte. Sie fühlte sich wie in einem gläsernen Sarkophag mumifiziert, wie es Daoine einmal nicht trefflicher hätte beschreiben können.
Sich an den Sternen orientieren zu wollen, hatten sie bereits aufgegeben. Sich überhaupt an irgendeinem räumlichen Grat in ein Verhältnis zu ihrer Zeit zu setzen schien gänzlich unmöglich. Und eine Zeit an und für sich zu bestimmen war ihnen so unwichtig geworden, wie es zwecklos gewesen wäre, ihren Lebensraum einem Ort zuordnen zu wollen.

Brians Hüfte schmerzte noch, als sie über den steilen Anstieg auf das Felsplateau die Kuppe der kargen Insel erreichte. Vor dem Höhleneingang, der ihr wenigstens Herberge geboten hatte, brannte noch ein Feuer, das sie jetzt bereits sehen konnten.
„Wird sich Daoine etwas beruhigt haben? Ich meine, ihr kennt euch besser“, fragte Brian, die sich fast sicher schien, dass die beiden Vögel keinesfalls Wesen ihrer Fantasie sein konnten, sondern wahrhaftige Vögel waren, mit denen sie aus einem ihr unbekannten Grund sprechen und Gedanken austauschen konnte.
„Würde es für dich einen Unterschied machen?“, erkundigte sich Sidhe erstaunt darüber, dass Brian tatsächlich besorgt über eine Verstimmung von Daoine sein konnte. Was für einen Sinn sollte sonst ihre Frage gehabt haben, falls nicht die Sorge um eine bestimmte Harmonie in ihrem Zusammenleben im Vordergrund stehen würde?
„Nein. Du hast recht. Obwohl mir das dauernde Lamentieren nicht gefällt. Und ich will von diesem ganzen esoterischen Gesabber nichts mehr hören. Metaphysik …, die ließe ich mir noch gefallen. Darin steckt Philosophie und Melodie. Aber Esoterik …?! Und schlimm genug, dass ich schon mit Dohlen spreche“, sagte sie vorgeblich barsch und warf einen verstohlenen Blick auf Sidhe.
„Stimmt wohl. Was aber würdest du hier tun, falls du nicht mit Dohlen reden würdest?“, fragte Sidhe klug weiter.
„Dann wäre ich wohl erst gar nicht hierhergekommen, nicht wahr! Denn es bedurfte zuerst schnatternder Dohlen, die mir ein Ziel meiner Reise einreden mussten. Und hier sind wir nun.“
„Hmmm. Dann hättest du etwas verpasst, meinst du nicht auch, Patty?“
„Ach wirklich? So etwas wie Muschelbrei in meiner Hosentasche, einen entrücktenVerstand, Unsicherheit über eine unwahre Welt und …“
„Und uns!“, fügte Sidhe auf dem Weg zum Höhleneingang hinzu, bevor Brian das zu sagen vergessen hätte.
„Und euch“, bestätigte Brian, als sie auf dem Plateau angekommen waren. „Und was davon wäre das Schlimmste gewesen, das ich hätte versäumen können?“, überlegte sie, ohne den Gedanken ernsthaft zu verfolgen, als sie bereits Daoine auf dem Felsen über dem Höhleneingang hocken sahen und ihm schon von Weitem zurief: „Daoine, was immer du dir auch hast einfallen lassen können: Wir sind mit dem Thema für heute durch“, was die Dohle über die Entfernung hörte, daraufhin den Kopf in Brians Richtung drehte, den Blick aus der sonnigen Abenddämmerung wendete und sich zu den beiden herannahenden Freunden aufschwang.
„Sowohl … als auch, Patty. Für heute dann. Und ich bin nicht nachtragend“, meinte sie noch aus der Luft herab, als sie über den beiden anderen kreiste.
„Einverstanden“, sagte Brian, rieb sich die wund aufgerissenen Hände vorsichtig und hinkte immer noch leicht wegen der Schmerzen in der Hüfte. „Zum Glück ist nicht mehr passiert. Was würde ich nur machen, hätte ich mir meine Knochen gebrochen? So einen erstklassigen Spiralbruch? Oder den Schenkelhals …?“
„Hast du dich verletzt?“, fragte Daoine besorgt, und Sidhe erzählte, dass Brian zwischen den Felsen des Inselsockels am Meer ausgerutscht sei und hart auf die Hüfte gefallen sei, was ihr die Schmerzen zu bereiten schien.
„Passiert eben in diesem Leben … als Mensch. In meinem nächsten Leben – dann als Muschel – lasse ich mich von einer ausgehungerten Furie von Steinen absammeln, um in ihrer Hosentasche püriert und zermatscht zu werden“, meinte Brian schmunzelnd.
„Das Thema ist für heute erledigt, hattest du gesagt“, erinnerte Daoine Brian.
„Und du sagtest: sowohl … als auch.“
„Ja. Das sagte ich. Und?“
„Dann war das eben nur das sowohl. Und das als auch lassen wir dann. Oder wir heben es uns auf. Vielleicht für morgen? Oder für ein Morgen, das so sein wird wie ein Gestern und Vorgestern, und sein könnte, wie ein Übermorgen. Immerfort die Zeit einer gleichen Gestalt …“, sagte Brian, während sie vor der Höhle an dem knisternden Feuer angekommen waren.
„Ein Königreich für ein Stück Seife“, meinte sie und fühlte sich von Schmutz und Salzwasser fast schon verkrustet. Sie stank, roch es aber nicht mehr. „Eine Frau in den besten Jahren. Und schaut euch mich an, was ich bin. Und wie ich hier jenseits allen Verstandes lebe … und verkomme“, lachte sie bitter. „Die Haut ist strapazierfähiger geworden … wenn nicht ledern …“, sagte Brian und griff in die Hosentasche nach den geernteten Muscheln. „Ekelig und Ekelglibber. Schleim und ’ne einzige Schweinerei. Wo ist denn nur der Kochtopf?“, fragte sie die Dohlen, die sie beobachteten. „Sagt schon: Wo ist der Topf für unser Zauberelixier, zu dem bloß noch die Kröten und Schlangengift fehlen?“, fragte sie erneut. „Wie hat das Merlin bloß gemacht? Hatte er eine andere Technik der Nahrungsmittelbeschaffung? Was hatte er sich zu essen besorgt? Oder hatte er einfach einen ganz anderen Speiseplan? Woher hatte er die Früchte, denn am Apfelbaum … da rührt sich nichts. Kein Blatt und keine Blüte. Wohl Knospen …, die aber offenbar in den nächsten fünftausend Jahren oder so nicht aufgehen werden“, meinte sie und entdeckte dann den Kochtopf allein, den wohl auch Merlin schon in ein Feuer gestellt hatte. Wozu sonst wäre er auf der Insel gewesen, dachte sie nach. „Ein guter Abend wird das schon nicht mehr werden können. Oder anders ausgedrückt: Es kann eigentlich nicht noch schlechter werden. Und von daher wird es besser als gedacht. Oder aber … wir hören einfach einmal auf zu empfinden und zu denken. Und dann ist alles urplötzlich wieder gut. Hmmm …, Mist, wo nur sind wir hingeraten?“, faselte sie vor sich her, warf die zwei Hände voller Muscheln klappernd in den Topf und stellte ihn in die Glut der tiefen Flammen. „Wieder und wieder Camping …, und dabei ist Camping eigentlich zum Kotzen.“
„Wie kommst du mit dem Schwimmen voran, Patty?“, fragte Daoine, um Brian aus ihren übellaunigen Gedanken zu ziehen, die sie zur Genüge kannten.
„Na …, wie läuft es denn bei dir mit dem Telefonieren?“, fragte sie zynisch zurück. „’tschuldigung. Das habe ich nicht so gemeint. Es ist alles komisch. Ich glaube, solange mir keine Kiemen und Schwimmhäute wachsen, werde ich euch nicht mehr los“, ergänzte sie spaßhaft, während die Dohlen über den Gedanken staunten. „Nein. Auch das war nicht so gemeint. Also, ich scheine mit der Temperatur des Wassers klarzukommen. Es müsste kalt sein, doch ich empfinde es nicht. Auch mit den Wellen verstehe ich umzugehen. Aber meine Kraft und meine Kondition lassen noch nicht allzu viel zu“, sagte sie, während sie den heißen Topf in der Glut schüttelte, schnell die Hände zurückzog und die Muscheln blechern in dem Metallgefäß klapperten.
Brian hatte vor einiger Zeit angefangen, sich an das für sie unheimliche Meer zu gewöhnen, und war von ihren anfänglichen Waschversuchen langsam zum Baden und schließlich zum Schwimmen übergegangen. Sie hatte Gefallen an dem Salzwasser gefunden, das ihr zuvor großen Respekt und intuitive Ängste eingeflößt hatte. Eine schwer begreifliche Angst, die ihr allgegenwärtig schien, bis sie Brian zu irrational wurde und sie sich innerlich dagegen wehrte. Dann hatte sie begonnen, sich zu überwinden. Zur Überraschung der Dohlen war sie eines Tages schreiend in das eisige Wasser hineingelaufen. Und ihre Stimme hatte ihr offenbar Mut gemacht. Dann war sie eingetaucht, atmete tief und war im Ozean für Momente verschwunden. Als sie kurz darauf schwerer atmend wieder auftauchte, war sie von einer veränderten, geheimnisvollen Frische gezeichnet, von der sie seitdem ergriffen war; sie wollte sie weder wieder loslassen noch auf sie verzichten.

In dem glühend heißen Topf Merlins waren die Muscheln gegart. Vorsichtig, mit raschen Bewegungen nahm Brian den Topf aus der Glut, sah das magere Resultat eines kaum nennenswerten Gerichtes als Ausbeute ihrer Jagd, schnalzte einmal verächtlich mit ihrer Zunge und machte sich dann mit einem scharfkantigen Stein als Werkzeug daran, die harten Schalentiere aufzubrechen.
„Heiß, heiß, heiß … und noch mal heiß. Verflixt …!“, rief sie und ließ die Tiere wie glühende Kohlen wieder in den Topf fallen. „Was für eine Esskultur! Wie bin ich doch heruntergekommen. Was für armselige Gewohnheiten …“, meinte sie, als die Dohlen sich ansahen, auf ihre Weise schmunzelten und davonhüpfen wollten. „Nein, nein. Ihr bleibt. Ihr sollt sehen, was aus mir geworden ist. Sahelanthropus tschadensis … dem würde ich vielleicht gerade noch Eindruck machen können“, rief sie energisch und pustete sich kalte Luft an die verbrannten Finger, als die Sonne unterging und der allabendliche Wind sanft über die Insel strich, während er unterhalb des Plateaus unter dem ewig über der See liegenden Nebel an den Klippen zu stürmen begann. „Dass ich mir meine Finger verkokeln kann, scheint das einzige Indiz einer wahrscheinlichen Körperlichkeit zu sein. Weder die Temperatur stimmt hier. Noch stimmt das Wetter. Und Wetter ist es schon gar nicht mehr zu nennen, was wir hier erleben. Ist alles ein bisschen Beinn a Ghlo und wie im Märchenland …“, meinte sie.

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Moritz Elzenheimer

Kanon der Konflikte

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