Max und Fera

Max und Fera

Von der Unabdingbarkeit guter Schuhe: Barfuß durch die Apokalypse

Judith Flemming


EUR 19,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 272
ISBN: 978-3-99146-217-0
Erscheinungsdatum: 12.09.2023
Science-Fiction Roman über eine triste neue Welt, die sich nach einer Naturkatastrophe nur noch auf Europa beschränkt. Der Roman begleitet die beiden ungleichen Protagonisten auf ihrer Suche nach einer besseren Welt hinter der künstlichen Atmosphäre.
Kapitel 1
MAX

„Fuck“, stöhnte er, als er versuchte, sich hinunterzubeugen, um sich seine Skechers zusammenzubinden. Skechers mit Memory
Foam – Laufsohle mit orthopädischen Einlagen. Einst waren sie türkisblau mit mintgrünen Schnürsenkeln. „Total girly“, hatte Marilyn gesagt, als er mit ihnen angekommen war, „jetzt brauchst du nur noch die passenden Neon-Lycra-Leggings dazu und dann kannst du dich sofort in meiner Damen-Aerobicgruppe anmelden.“ Marilyn … „Fang jetzt bloß nicht an, dich wieder in irgendwelchen Tagträumen zu verlieren. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt“, ermahnte er sich selbst, „sieh lieber zu, dass du diese verdammten Schuhe zusammenbindest und weiterkommst!“
Langsam beugte er den Rücken, wartete auf den vertrauten Schmerz in der Lendengegend, biss die Zähne zusammen und versuchte, seine Füße zu erreichen. Ein schneidender Schmerz durchzuckte seine Hüfte und ließ ihn in der Bewegung innehalten. Nichts ging mehr. Er konnte sich weder aufrichten noch ganz hinunterbeugen. „Atme“, redete er sich in Gedanken gut zu, „spann deine Bauchmuskeln an. Nimm den Druck vom Rücken.“ Es funktionierte nicht immer, aber heute war das Schicksal ihm wohl milde gestimmt. „Okay dann machen wir das eben so“, sagte er laut und hievte sein rechtes Bein auf einen nahe gelegenen Baumstumpf. In diesem veränderten Winkel war es ihm endlich möglich, die Schnürsenkel zu erreichen und zusammenzubinden. Mintgrün waren sie schon lange nicht mehr, eher ein Camouflage-Schlammbraun – ein Wunder, dass sie überhaupt noch hielten, genauso wie die ganzen Schuhe, die von kleinen Löchern und Kratzern nur so übersät waren. Aber es waren die einzigen Schuhe, in denen er einigermaßen gut längere Strecken laufen konnte – und laufen musste er hier … laufen, laufen … und Ausschau halten nach allem, was eine Bedrohung für die westliche Union darstellen könnte, aber vor allem natürlich nach Spähern der „Macht des Ostens“.
Heute hatte er jedoch eine kleine Detour auf seiner Runde geplant. Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg durch das dichte Geäst. Obwohl es nicht winterkalt war, hatten die Bäume und Sträucher keinerlei Blätter. Die würden sie auch nicht mehr bekommen. Das Dome schaffte es nicht sehr gut, Jahreszeiten und die damit einhergehenden Temperaturveränderungen zu simulieren. Die Natur war in einem immerwährenden Frühlingszustand gefangen, ohne jedoch Pflanzen zum Erblühen zu bringen oder zum Wachstum anzuregen, was Caspar und sein Team von Pseudowissenschaftlern regelmäßig in den Wahnsinn trieb. Max hatte kein Verständnis für biologische Zusammenhänge. Er hatte sich nie für Naturwissenschaften oder gar Mathematik interessiert. Vor dem „Ewigen Sonnenuntergang“ jobbte er in einem glorifizierten Tante-Emma-Laden und studierte Musikwissenschaft und Literatur. Eine Fächerkombination, die ihm schon damals kaum Aussicht auf beruflichen Erfolg verlieh. In einer Welt, in der Musikinstrumente und Bücher Relikte aus fernen Zeiten waren, schon gar nicht. Was ihm zu seiner jetzigen Position verhalf, war vielmehr seine Zähigkeit und natürlich die Tatsache, dass er einer der wenigen „Alten“ war. Wenn man jemanden, der sich dem 40. Lebensjahr näherte, als alt bezeichnen konnte. Nun, nach heutigem Maßstab sicher. Alt waren all jene, welche die alte Welt noch kannten.
Ein Rascheln ließ Max aus seinen Gedanken aufschrecken. Behutsam scannte er mit den Augen seine Umgebung nach der Ursache des Geräuschs. Er konnte nichts erkennen, nur die vertrauten Baumskelette, die sich gespenstisch vom nachtschwarzen Himmel abhoben, sowie der ebenso vertraute dunkelbraune, matschige Boden unter seinen Füßen. Doch da ganz oben in einem der Baumwipfel sah er etwas. Es hatte Flügel und die Größe eines Eichhörnchens, obgleich es die natürlich nicht mehr gab, genauso wenig wie Vögel oder Fledermäuse. Doch ehe er genau ausmachen konnte, worum es sich handelte, war es auch schon wieder verschwunden. Er machte sich eine gedankliche Notiz, dem Colonel davon zu berichten. Vielleicht eine neue Erfindung der „Macht des Ostens“?
Unbeirrt bahnte er sich weiter seinen Weg, bis er schließlich die vertraute Blockhütte hinter einer kleinen Anhöhe erspähte. Leise klopfte er an die Tür. Niemand öffnete, doch Max wusste aus Erfahrung, dass die Tür nicht abgeschlossen sein würde. Der Doc hatte einen unbeirrten Glauben an das Gute im Menschen. Einen Glauben, den Max ganz und gar nicht teilte.
„Bist du wach, Anselm? Ich bin’s, Max, kann ich reinkommen?“ Es widerstrebte Max, trotz der verschlossenen Tür einfach so einzutreten. Es fiel ihm schwer, die anerzogenen Umgangsformen einer längst überholten Gesellschaftsform abzulegen.
Als er jedoch auch nach erneutem Rufen keine Antwort bekam, betrat er die kleine Hütte, die lediglich aus zwei Zimmern und einem großen Kamin bestand.
Besorgt sah er sich nach dem alten Anselm um. Wenn Max bereits als „alt“ galt, so musste man den Doc wohl als „antik“ bezeichnen. Sein echtes Alter kannte dieser vermutlich nicht einmal selbst mehr. Nicht weiter verwunderlich, wenn man bedachte, was er alles gesehen hatte. Der Mensch neigte dazu, Unwichtiges zu vergessen, und für Anselm war das Alter nur eine Zahl. In Anbetracht seiner schlohweißen, gewöhnlich in alle Richtungen abstehenden Haare und dem dazu passenden weißen Rauschebart ging Max allerdings davon aus, dass Anselm bereits viele Jahre in Rente gewesen wäre, wenn es so etwas noch gegeben hätte.
Obwohl er von allen nur „der Doc“ genannt wurde, hatte er keineswegs eine medizinische Ausbildung im eigentlichen Sinne absolviert. Nein, sein alter Beruf war etwas gewesen, was ihn in der heutigen Zeit zu etwas viel Wertvollerem machte – er war Apotheker gewesen. Vorausschauend, wie er gewesen war, hatte er bereits in den Jahren der Unruhe vor dem „Ewigen Sonnenuntergang“ angefangen, ein gut gefülltes Lager an privaten Medikamenten aufzubauen, das nun nahezu das gesamte zweite Zimmer seiner Blockhütte in Beschlag nahm. Sicher würde Max ihn dort finden.
Schnellen Schrittes ging er an dem leeren Bett und der Feuerstelle vorbei und trat in Anselms Medikamentenraum. Hier fand er den alten Mann tief über einen dampfenden Topf gebeugt. Sein Kopf war nahezu vollständig mit einem Handtuch bedeckt, was erklärte, warum der Alte ihn nicht gehört hatte. „Anselm, du solltest dich nicht bei unverschlossener Tür in eine derartig verletzliche Position begeben. Du könntest genauso gut ein Neonschild an deiner Tür mit den Worten ‚Raubt mich aus‘ anbringen!“
Der Doc hob langsam den Kopf und blickte Max aus tiefrotem Gesicht und mit verschleierten Augen an. „Ah, Max, mein Junge“, begrüßte der Alte ihn sichtlich erfreut, „was führt dich zu mir? Zwickt dein Rücken wieder, ja? Komm, komm, setz dich, ich bin gleich bei dir.“
Anselm deutete in die Ecke auf einen Schemel von fragwürdiger Stabilität. Während sich Max darauf zubewegte und abzuschätzen versuchte, ob er sich aus eigener Kraft von diesem wieder würde erheben können, fiel sein Blick auf eine Tube neben dem immer noch dampfenden Topf. „Anusol“ stand darauf. „Hämorrhoidensalbe? Really? Bist du sicher, dass du die Einnahmeanweisung richtig verstanden hast?“, lachte Max. „Meiner Meinung nach sollte man die nicht inhalieren …“
„Die Packungsbeilage habe ich in der Tat nicht gelesen, mein lieber Max, da sie auf Englisch geschrieben ist, und wie du weißt, bin ich des Englischen nur ansatzweise mächtig. Im Grunde bestehen aber alle Salben zu einem Großteil aus Glycerin, und das stellt zumindest bedingt eine Alternative zu herkömmlichen Zigaretten dar, die, wie du weißt, heutzutage noch schwieriger zu bekommen sind als dein heiß geliebtes Ibuprofen.“ Anselm setzte sich kurzerhand selbst auf den Schemel, wobei er jetzt wieder wesentlich frischer aussah und Max mit aufmerksamen Augen musterte.
Max mochte die Schlagfertigkeit des alten Mannes, konnte sich aber einen weiteren Seitenhieb nicht verkneifen. „Ein Doktor, der raucht … tz, tz, tz …“
„Ach Max, wie du ebenfalls weißt, bin ich mitnichten ein Doktor. Wir sind alle nur Menschen und müssen versuchen, diesem erbärmlichen Leben das eine oder andere Positive abzugewinnen.“
Max fiel es schwer, in seinem Dasein etwas Positives zu finden. „Und ja, ich bin wegen des Ibuprofen hier“, sagte er deshalb nur und ließ das vorangegangene Thema ruhen.
„Du weißt, ich mag dich, Jüngchen, du hast Charakter und Resilienz, das mag ich an Leuten, aber was du brauchst, ist nicht Ibuprofen. Du brauchst eine Alternative, eine Hoffnung, ein … eine … wie sagt ihr Angelsachsen immer … an escape … Ja, das ist es, was du brauchst.“
„Und was soll das bitte schön sein, Doc? Hast du eine Zeitmaschine erfunden, mit der ich mich 50 Jahre in die Vergangenheit katapultieren kann, damit ich mein Leben so leben kann, wie ich es geplant hatte?“
Anselm sah Max aus leuchtenden Augen an und versprühte dabei die Aura eines Sektenführers. „Nein, etwas viel Besseres, ich kann dir eine Zukunft schenken. Vor ein paar Wochen kam ein junges Ding von der nördlichen Grenze zu mir. Periodenbeschwerden, nichts Tragisches. Aber sie erzählte mir von ihrem Bruder, der für Colonel Burns an der Nordwestgrenze patrouilliert, und der soll gesehen haben, wie zwei Männer das Dome verlassen haben …“
„Aber das ist unmöglich, Doc, und selbst wenn, würden sie sofort sterben“, unterbrach Max ihn.
„Lass mich ausreden, Jungchen, hast du deine Manieren an der Tür stehen lassen?“, ereiferte Anselm sich. „Besagter Bruder hat besagte Männer zwei Tage später wieder quicklebendig beim Abendessen getroffen. Es ist also möglich, außerhalb des Dome zu überleben, und nicht nur das. Es gehen Gerüchte um, dass es dort eine ganz neue Zivilisation gibt. Oder vielleicht ist die alte gar nicht untergegangen. Weißt du, was das bedeutet? Ärzte, Medizin … man könnte deinen Rücken heilen. Denn dass das, was du hast, nur Verspannungen sind, glaubst du doch wohl selbst nicht. Du musst nur einen Weg finden, an die Nordwestgrenze zu gelangen.“
Max wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Er wusste, dass der Doc ein Sucker für solche Altweibermärchen war, immer der Optimist, der Träumer. „Wenn das alles so traumhaft einfach ist, warum bist du dann noch hier, Doc?“, fragte er deshalb nur.
„Aber Jungchen, ich habe doch alles hier, was ich brauche“, sagte Anselm und deutete auf sein Medikamentenarsenal. „Außerdem finde ich das, was mir wirklich fehlt, auch nicht in einer, sagen wir mal, ansprechenderen Zivilisation.“
Max wusste, worauf der Doc anspielte. Es war unübersehbar, seine Hütte war voll von vergilbten Fotos von seiner Frau Theodora. Max kannte mittlerweile Anselm und Theodoras gesamte Lebensgeschichte, inklusive ihres Todes vor fünf Jahren in ebendieser Hütte. Und genau da lag der Unterschied zwischen Max und Anselm. Er hatte ein Leben gehabt. Ein Leben mit seiner Frau, einen Beruf, eine Erfüllung. Und er konnte Abschied nehmen. Abschied von der Liebe seines Lebens. Max hatte nichts dergleichen gehabt. Sein Leben wurde ihm entrissen, bevor es richtig Gestalt angenommen hatte. Was blieb, waren Erinnerungen und Tagträume. Marilyn. Nicht einmal dem Doc hatte er von ihr erzählt. Er fragte sich, ob er sich besser fühlen würde, wenn er es täte. Nein. Nein, Marilyn war sein „escape“. Etwas, das er nicht teilen würde. Etwas, das ihn verletzlich erscheinen lassen würde. Und es war schon schlimm genug, dass der Doc das wahre Ausmaß seiner Rückenprobleme kannte.
„Na gut, Anselm, ich werde sehen, ob ich etwas in Erfahrung bringen kann“, schloss Max das Thema ab. Er wollte dem Alten nicht seinen Glauben an eine bessere Welt zerstören, hatte aber auch keine Lust, sich falschen Hoffnungen hinzugeben. „Und nun bitte, bitte, sieh zu, dass du mir das Ibuprofen gibst“, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.
Max hatte sich dazu entschlossen, den Rest der Nacht bei dem alten Apotheker zu verbringen. Einerseits, weil er ihn mochte und sicherstellen wollte, dass er keiner Gefahr von marodierenden „scumbags“ ausgesetzt war, andererseits auch deshalb, weil Anselm ein überaus bequemes Bett mit einer gut erhaltenen Matratze besaß, das er selbst kaum nutzte – „zu viele Erinnerungen, Jungchen …“, pflegte der Doc zu sagen –, das für Max’ Rücken aber eine wahre Wohltat war. Dies und die Wirkung des überdosierten Ibuprofen – „Nimm ruhig die doppelte Dosis, schließlich sind sie schon ein paar Jahre abgelaufen und wir wollen ja nicht, dass der Effekt geschmälert wird“, hatte ihn Anselm mit einem Zucken seiner Mundwinkel angewiesen – führten dazu, dass Max so tief schlief wie schon lange nicht mehr.

Er wusste, dass er träumte, denn Marilyn war bei ihm. Sie waren in ihrem Auto unterwegs. Sie hatte ihren Führerschein noch nicht sehr lange gehabt, was man an ihren waghalsigen Überholmanövern erkennen konnte. Im Radio lief eine Bluesband mit Folkrock-Elementen – eine ihrer Lieblingsbands. „And if you never let me go, I will never let you down“, sang sie laut und schief den Text mit. „Warum müssen wir uns immer diese irischen Deppen anhören, wenn wir irgendwohin fahren?“, kommentierte er mit gequältem Gesichtsausdruck, um sie zu ärgern. „Weil, mein Freund, diese Songs absolut pure Poesie sind … außerdem sind sie nicht irisch, das hab ich dir schon hundertmal gesagt“, antwortete sie mit Nachdruck und einem gespielt bösen Seitenblick. Ihr dunkles Haar fiel ihr dabei leicht ins Gesicht und die Sonne brach sich in ihren hellbraunen Augen, was sie auf äußerst verführerische Art funkeln ließ. Er liebte sie in diesem Moment und widersprach nicht, als sie das Radio noch lauter drehte. Auch jetzt hörte er den Song noch immer in seinem Kopf, obwohl er wusste, dass der Traum langsam verblich. Vage dachte er darüber nach, wie ironisch die Lyrics waren – denn sie hatte ihn gehen lassen und er hatte sie zurückgelassen –, als ein immer stärker werdender Windzug ihn schließlich gänzlich erwachen ließ.
Einen Moment um Orientierung ringend, sah er sich nach der Quelle des Luftzuges um und fand die Hüttentür offen stehen. Hatte der alte Idiot etwa seine Tür wieder nicht verriegelt? Max rollte sich über die Seite von der Matratze, war erfreut darüber, dass er sich einigermaßen bewegen konnte, und griff vergeblich nach seinen Skechers, die er an der Seite des Bettes abgestellt hatte.
Als Nächstes wurde sein Kopf abrupt zur Seite gerissen und ein allumfassender Schmerz schoss ihm durch den Kiefer. Darum ringend, das Bewusstsein nicht zu verlieren, spannte er jeden einzelnen Muskel seines Körpers an und atmete tief ein. Allmählich klärte sich seine Sicht und er erkannte zwei Männer vor ihm stehen, die provisorische Schlagstöcke in der Hand hielten – das erklärte den Schmerz in seinem Kiefer … Er hatte keine Zeit, die Situation tiefergehend zu erfassen, denn Gestalt Nummer eins holte gerade zu einem erneuten Schlag gegen ihn aus.
Am Rande nahm er wahr, wie der andere ins Hinterzimmer eilte und dabei seinem Kompagnon unverständliche Worte zurief.
Trotz seiner Bewegungseinschränkungen war Max kein schwacher Mann und er hatte gelernt, nie unbewaffnet auf seine Patrouillen zu gehen. Blitzschnell griff er in seine Jeanstasche und zog sein Klappmesser hervor. Er konnte gerade noch sehen, wie der Gesichtsausdruck seines Angreifers von Entschlossenheit zu Panik wechselte, als ihm der Schlagstock aus dem erhobenen Arm fiel und Max’ Messer ihn unter dem ungeschützten Rippenbogen traf. Max hatte keine Ahnung, ob er ein lebenswichtiges Organ getroffen hatte oder eine Arterie punktiert hatte, für ihn zählte nur, dass der Angreifer zu Boden fiel und nicht wieder aufstand.
Trotz der besorgniserregenden Geräusche aus dem Nebenzimmer nahm Max sich die Zeit, sich umständlich hinzuknien, um den Puls des Kerls zu fühlen. Nichts. Gut. Dabei fiel sein Blick auf das Gesicht des Mannes – nein, des Jungen, erkannte Max nun. Der Bursche war höchstens 16. „Fuck“, dachte Max, hatte aber keine Zeit für Reuegefühle, denn selbst wenn sein Kumpel ebenfalls ein Teenager war, würde Anselm sicherlich nicht allein mit ihm fertigwerden. Außerdem wollte er den Zweiten lebend, um herauszufinden, was es mit diesem Überfall auf sich hatte.
Bereits als er einen Schritt in das Zimmer gemacht hatte, erfasste er jedoch, dass dieses Unterfangen sinnlos war. Junge Nummer zwei – er sah sogar noch jünger aus als der Erste – lag regungslos auf dem Boden. Neben ihm der schwere Topf, den der Doc gestern für seine dubiosen Inhalationszwecke verwendet hatte.
Max drehte sich lächelnd – halb vor Erleichterung, halb im Angesicht der Absurdität dieser ganzen Situation – zu Anselm um. Das Lächeln im Gesicht gefror ihm jedoch innerhalb von Sekundenbruchteilen. Anselm lag ebenfalls auf dem Boden und hielt sich die Brust. Max konnte kein Blut oder andere oberflächliche Verletzungen erkennen. „Was, was ist es, Doc, was brauchst du, sag mir, was ich holen soll!“, schrie Max den Alten förmlich an. Dieser versuchte, seine Lippen zu bewegen, aber keine Worte verließen seinen Mund. Max sah, wie sein linker Arm völlig verkrampft abstand, während er den rechten weiterhin auf seine Brust drückte. „Herzinfarkt“, schoss es Max durch den Kopf. Verdammt, was tat man in so einem Fall? 999 wählen … Tja, diese Zeiten waren vorbei. Absolut hilflos kniete sich Max neben seinen Freund – denn das war er für ihn geworden, wurde Max nun klar, vermutlich sein einziger – und hielt ihm seine verkrampfte Hand. Es dauerte nicht lange, bis die Hand schlaff wurde und die wasserblauen Augen des Docs von panisch zu friedlich und schließlich zu leer übergingen.
Ausdruckslos verharrte Max einen Moment über dem leblosen Körper. Er hatte keine Tränen, die waren schon lange versiegt. Stattdessen verfiel er in einen Autopiloten. Er konnte sich nicht die Zeit nehmen, Gräber auszuheben, davon abgesehen gab es in Anselms Hütte sicherlich nicht die geeigneten Utensilien dafür. Er würde dem Colonel Bescheid geben und ihn bitten, ein paar Männer vorbeizuschicken, die sich dann um alles kümmern sollten. Allerdings wollte er vorher sicherstellen, dass er einen guten Ibuprofen-Vorrat abbekam, bevor die Medikamentenkammer geplündert wurde. Auf dem Weg zu den provisorischen Regalen des Docs fiel sein Blick auf eine Art Jutesack, den Angreifer Nummer zwei wohl fallen gelassen hatte – sie waren also in der Absicht hier gewesen, den Apotheker auszurauben, natürlich, was auch sonst? Max hob den Sack vom Boden auf, um hineinzusehen. Darin lagen seine Skechers. „Really, Jungs?“ Jedes Gefühl von Reue verließ Max’ Körper. „Einem armen, kranken Mann seine orthopädischen Schuhe klauen!“, murmelte er kopfschüttelnd zu sich selbst.
Zehn Minuten später hatte er alles an Medikamenten, was ihm sinnvoll erschien, eingesammelt und in den Jutesack gesteckt, seine Schuhe befanden sich wieder an seinen Füßen und er wollte sich gerade die Kapuze seines Softshellmantels über die kurz geschorenen Haare ziehen, um die Hütte zu verlassen, als sein Blick auf ein Buch in der hintersten Ecke eines der Regale fiel.
Bücher waren in dieser Zeit rar gesät, was sofort Max’ Neugierde erweckte. Er ergriff das Buch mit einer Hand, schlug es auf und stellte enttäuscht fest, dass es sich um eine Art Notizbuch des Alten handelte. Undeutliche Skizzen seiner Frau Theodora wechselten sich mit Gedichten und kryptischen Formeln ab. Er wollte das Journal schon weglegen, als eine Zeichnung ganz am Ende des Buches seine Aufmerksamkeit erregte. Es handelte sich um ein Tier, das in etwa die Größe eines Eichhörnchens hatte, aber durch seine Flügel eher an eine Fledermaus erinnerte. Ein Tier, ganz ähnlich dem, was er letzte Nacht auf dem Weg hierher gesehen hatte. Zu diesem Zeitpunkt hatte er ausgeschlossen, dass es sich wirklich um ein Tier gehandelt hatte, da Säugetiere und Vögel schon seit Jahren nicht mehr gesichtet worden waren. Er hatte eher an eine optische Täuschung oder gar an eine Drohne gedacht. Was aber, wenn es wirklich ein Tier war? Was, wenn der Doc es auch gesehen hatte, nah genug, um es zu zeichnen? Hieße das, es gab doch noch Säugetiere oder Vögel unter dem Dome? Flügel, es hatte Flügel – was, wenn es gar nicht hier lebte, sondern von AUßERHALB hereingekommen war? „… soll gesehen haben, wie zwei Männer das Dome verlassen haben …“, gingen Anselms Worte von letzter Nacht Max durch den Kopf. Er hatte diese Gedanken als Tratsch abgetan. Was aber, wenn es die Wahrheit war? Ein merkwürdiges Gefühl von Enge und Schwindel machte sich in Max’ Brust breit. War dies Adrenalin, das durch seinen Körper schoss, oder war es Hoffnung, die seine Seele durchflutete?
5 Sterne
Sehr zu empfehlen  - 16.12.2023
Candy

Tolles Buch, sehr kurzweilig und gut zu lesen, ohne lange Durststrecken. Sehr gut gelungenes Erstlingswerk

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