Märchenkomplott

Märchenkomplott

A. Cupidoxin


EUR 30,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 738
ISBN: 978-3-99146-207-1
Erscheinungsdatum: 03.10.2023

Leseprobe:

Politospektive


Der Stammesführer, groß und stark,
gebeut mit Gewalt und Habe
über die seinen, ohnmächtig und schwach;
es kommt einer mit größerer Gabe,
erschlägt ihn, seine Macht liegt brach.

Blaublut auf Thron regiert autark
zu Wasser, Luft und Land,
sein Volk ergeben, die Flotten befehlsbereit;
huldvoll ergreift er die beringte Hand:
Wer von beiden ist nun gescheit?

Der frei Gewählte dünkt sich weise,
des Volkswillens befehlender Stimme
gehören sein Herz und innige Treue;
listig weiß er zu lenken, dass niemand ergrimme
und seine Wiederwahl bereue.

Wohin geht die Reise?
Immer galt Hier und Jetzt als ewig und wahr,
steigt das Chaos, wird vielen angst und bange;
es scheint so notwendig wie klar,
dass der Kindmensch seine Reife erlange.




Bauernlegende


Es ging die Rede von einem ehrlichen Bauersmann, er habe die Sitten und Gebräuche seiner Familie bis in unsere Zeit in würdige Hände weitergegeben. Selbst wenn seine Urenkel heute ihr täglich Brot anderweitig verdienen, so pocht das Blut des Fleißes in ihren Adern; ihr Ahne war es, der die Grundlage einer langen, ehrbaren Familientradition schuf. Er hatte jedoch einen Nebenbuhler, der seinen Beruf mehr als Mittel zum Zweck sah, um sein Leben so unabhängig wie nur irgend möglich zu gestalten.
Jedes Mal, als der Tag der Steuerabgaben kam, ärgerte ihn die Tatsache, dass er als Leibeigener sein Leben fristen musste und der Fürst von seinen Erträgen einzog, was ihm seiner Meinung nach nicht zustand. Diesmal aber hatte er einen Plan, um sein Erwirtschaftetes zu behalten. Er paktierte mit einer hartgesottenen Räuberbande, die in der Nähe seines Grundstücks ihr Versteck hatte. Er sagte zu ihnen: »Wollt ihr nicht auch frei sein und endgültig die Furcht vor dem Galgen ablegen! Dann hört, was ich euch vorschlage: Morgen kommt der Fürst mit seinen Eintreibern, um mir wegzunehmen, wofür ich hart gearbeitet habe, und sie lassen mir so wenig, dass ich nicht begreifen kann, wie andere Bauern hierbei noch Sinn für Recht und Ehrfurcht bewahren können. Sie sind wahre Verbrecher! Wenn ihr mir helft, gegen sie vorzugehen, lasse ich euch die Hälfte meines Ertrags vom letzten Jahr; wenn ihr nicht verschwenderisch damit umgeht, reicht es für fast ein Jahr, ihr könntet leben wie der Fürst und hättet nie wieder etwas von seinen Schergen zu befürchten.« Die Räuber gingen auf das Angebot ein.
Als nun der Zug der Reiter und Wagen über das Feld herzog, lagen die Räuber im Wald auf der Lauer, der den Bauernhof umschloss.
Wie wilde Urmenschen fielen sie über die Gefolgschaft des Fürsten her, verschonten keine lebende Seele. Seine Furcht schlecht verbergend, wurde der Fürst dem rebellischen Bauern vorgeführt, während die Räuber den vereinbarten Lohn auf die Packtiere luden und davonritten. Voller Stolz sprach der Bauer zum gefesselten Fürsten: »Am Ende hat sich also doch herausgestellt, dass du besiegbar bist wie jeder einfache Lehnsträger.« Er überließ ihm seinen Hof, die Hilfsmittel, die Tiere, die Äcker und sagte, er könne ohne Weiteres sein Leben bestreiten, wenn er weise mit dem Gegebenen umginge. Er selbst bezog des Fürsten Schloss, erklärte der Dienerschaft, er habe dem Tyrannen den Garaus gemacht, und lebte fürderhin in Saus und Braus. Der Fürst aber verendete auf den Feldern nach weniger Zeit nahe eines Pflugschars; was denkt ihr: War es sein verletzter Stolz? Oder sein Unvermögen, den Anforderungen des rauen, ländlichen Lebens gerecht zu werden?
Die Machtverhältnisse hatten sich verschoben. Von nun an konnte ein Müllerssohn ausziehen, um König zu werden, es genügte, im Bunde der Untertanen den Edelleuten finstere Blicke zuzusenden, und sofort schlotterten ihre Knie. Stück für Stück wurde so die Leibeigenschaft abgeschafft; auch die Hochachtung vor dem Glauben geriet ins Wanken, als klar wurde, wie schamlos die ehemaligen Herrscher ihn angewandt hatten, um ihr Sklavenvolk in einem Leben ständiger Angst und Abhängigkeit zu halten. Von reichen bis heiligen Müßiggängern, hart arbeitenden Ehrlichen und denen, die von beidem die Schnauze voll hatten, handelte nun die Weltgeschichte, wobei die Letzteren den meisten Zuwachs bekamen.
Wie sich die verschiedene Wesenheit der beiden Bauern in ihren Familien fortsetzte, so auch ihre Rivalität in der veränderlichen Welt.
Ein Urenkel des Gehorsamen ist vom Mechaniker zum Parlamentarier geworden (also ein vom Volk wählbarer König, wie wir es heute noch kennen). Ein Erfolg freilich, dessen Grundlegung er dem Rivalen seines Ahnen hätte verdanken müssen.
Er verschrieb seine Seele dem messianischen Glauben, so wählten ihn auch solche, die dieser Tradition frönten. Aber die Regeln dieser neuen Welt behaupteten, jede Ansicht darüber, was man dürfe und nicht dürfe, hätte Lebensrecht, und so gab es solche, die, während nun der messianische Parlamentarier regierte, daran forschten, wie man von Erbkrankheiten befreite Kinder künstlich zur Welt bringen könnte. Der Urenkel des rebellischen Bauern wuchs in einer Umgebung auf, in welcher er den alten Glauben zu lernen gedrängt wurde und gleichzeitig davon hörte, wie die sogenannten Forscher zwar ebenfalls Schöpfer großen Wissens waren, aber von ihrem Stande und Mitspracherecht sich den gegenwärtig regierenden Ideen unterzuordnen hatten. Das erschien ihm unsinnig.
Da er ohne Arbeit war, ging er daran, Gleichgesinnte und Gleichbeschicksalte für einen Machtsturz zu gewinnen. Es war nicht schwer, die Verelendeten in den Straßen aufzufinden und zum Mitmachen zu überreden, denn da sie nichts mehr zu verlieren hatten, konnten sie lächelnd der Gefahr ins Antlitz blicken. Zuerst stieß der Arbeitslose auf den Schreiner, der an einem Metallstück werkelte. Er fragte ihn verwundert: »Was bastelst du an dem deinem Handwerk abgewandten Metallstück?« Der junge Schreiner sprach traurig: »Ach, jüngst noch verdiente ich mein täglich Brot als Aushilfe beim alten Tischler; als er mich nicht mehr brauchte, wurde ich von den Volksbildnern zu den Metallbauern geschickt, und jetzt soll ich lernen, was ich nicht will und kann.«
»Komm mit mir«, ermunterte ihn der Arbeitslose, »gemeinsam werden wir der Blindheit ihrer angeblichen Fürsorge trotzen.« Der Schreiner schloss sich ihm an. Bald darauf trafen sie auf den Fließbandarbeiter. Er saß im Dreck und pflegte eine Gruppe wunderschöner Topfpflanzen. Der Arbeitslose fragte ihn: »Wie schaffst du es, als maschinenähnlicher Arbeiter derart entzückende Blumen zu züchten?« Der Fließbandarbeiter erwiderte: »Die geistlose Arbeit drohte mich zu zermürben, also widmete ich meine Aufmerksamkeit den Urkräften unserer Naturverbundenheit.«
»Komm mit uns«, schlug ihm der Arbeitslose vor, »hier wirst du ja doch nicht glücklich. Es sollte jeder zu jeder Zeit tun können, was er will und kann, ohne in der Gosse zu enden.« Freudig schloss sich der Fließbandarbeiter den beiden an. Als Nächstes begegneten sie dem Maler und Verputzer. Still und betrübt saß er vor seiner Staffelei und zauberte mit all seinen Farben die schönsten Gestalten und Landschaften hin. Der Arbeitslose war baff, er erkundigte sich: »Wie kann jemand mit deinem Talent einem so gewöhnlichen Beruf nachgehen?« Verärgert antwortete der Maler: »Es sind Unterrichtsfächer, die mich nicht interessieren, in denen ich aber gut sein muss; es sind Berufe, die gerade mehr gefragt sind auf dem Markt als andere; es sind Ideen, für die sich niemand interessiert, weil der Wettbewerb der Unternehmen untereinander für meine malerischen Ausgeburten keinen Spielraum lässt.«
Der Arbeitslose schlug ihm tröstend vor: »Schließe dich uns an. Ich bin davon überzeugt, dass jede Idee das Recht hat, gehört zu werden.« Der Maler ließ sich nicht zweimal bitten.
Im verfallensten Viertel am Ende der Stadt wurden die vier Verbündeten Zeugen eines Gefängnisaufstandes. Im allgemeinen Tumult sahen sie einen Häftling, der im Begriff war, einem am Kragen gepackten Wärter eine Flasche auf dem Schädel zu zerschmettern. Mutig trat der Arbeitslose vor und fragte ihn: »Was macht dich so gewalttätig der Staatsgewalt gegenüber?« Selbstbewusst antwortete der Häftling: »Weil ich einst den Tod meines Meisters aus Überzeugung über seine Verlogenheit herbeiführte, sperrte man mich für acht Jahre ein. Obwohl ich schon damals wusste, was ich tat, glaubten sie, die Entbehrungen meiner Inhaftierung würden mich vom Gegenteil überzeugen. Sie wollten tatsächlich einen reifen Verstand zum unmündigen Kinde herabbefehlen!« Beeindruckt sprach der Arbeitslose: »Du schließt den Kreis unseres Bundes. Komm mit uns, und du wirst noch vieles antreffen, wo du deine Rache üben kannst.«
Da zogen sie zu fünft weiter. Bei der Bahnstation hielt ein lumpiger Bettler den Arbeitslosen um eine Spende an. Er lehnte barsch ab und entfernte sich rasch. Was er nicht ahnen konnte, war, dass der Bettler, empört über die unhöfliche Behandlung, dem Verweigerer den Tod wünschte. Und dabei handelte es sich um den Wunsch seines ehemaligen Freundes aus Schultagen. Seitdem fühlte er in seinem Bauch diese eigenartige Bewegung, als würde jemand in seinem Magen herumrühren.
Bevor unsere fünf Rebellen das Parlamentsgebäude erreichten, das auf dem Gipfel des großen Berges unter düsteren Wolken aufragte, führte sie ihr Weg durch den Panikwald. Dort erschraken sie über die Neugeborenen, die, sobald sie das Licht der Welt erblickten, ängstlich in die Gebärmutter zurückschlüpften. Die Mütter indes, in jeder Siedlung zu den Tugendhaftesten gehörend, ertrugen das neue Leben in ihrem Inneren nicht lange, und so überkamen sie mehr und mehr alle menschlichen Laster. Da warnte ein Geburtshelfer unsere fünf Reisenden nachdrücklich: »Flieht aus dieser Gegend! Niemand will Zeuge davon werden, wie unschuldige Mütter schuldigen Nachwuchs gebären, unter allen Anzeichen geheuchelter Freude! Daran ist nichts zu ehren! Oh, dies zeugungswillige Jahrhundert – es liebt den Augenblick und weigert sich, Verantwortung für die folgenden zu übernehmen. Ihr wisst, wem wir das zu verdanken haben …!?«
Unsere Freunde schritten schneller voran, um noch vor Nachteinbruch das Parlamentsgebäude zu erreichen, doch sie waren müde. Unter einem großen Baum richteten sie ihr Lager her und schliefen bis zum Morgengrauen. Als sie aufbrachen, beschäftigte den Maler der eigenartige Traum, der ihn vergangene Nacht befallen hatte. Als Geist schwebte er durch den Wald, wobei sein einziges Streben dem Horten irdischer Reichtümer galt, wie und wo er sie auch finden mochte. Er ließ sich dennoch nichts anmerken, als die mutige Rotte sich unaufhaltsam ihrem Zielort näherte. Da standen sie nun. Eine tiefe Schlucht trennte das schmucke Parlament von den fünf Rebellen, die es um jeden Preis besetzen wollten. Doch wie sollten sie hinüber? Da kam dem Arbeitslosen der Gedanke, mithilfe des Schreiners könnten sie das umliegende Gehölz zu einer sicheren Brücke zusammenzimmern. Und so geschah es. Nach langer, mühsamer Arbeit gelang es ihnen, den Abgrund zu überbrücken, und so konnten sie gefahrlos hinübergehen. Aber die nächste Schwierigkeit ließ nicht lange auf sich warten. Vor ihnen taten sich drei unwegsame Wegmäuler auf, überwuchert von allerlei Sträuchern und Schlingengewächsen. Nun lag es am Hobbygärtner, seine Mitstreiter gesund durch die schmalen Gänge zwischen den Steilwänden zu geleiten. Sie waren ihrem Ziel zum Greifen nahegekommen. Wie es der Zufall wollte, wurden gerade Restaurationsarbeiten in der Vorhalle des Parlaments verrichtet; das brachte den Maler auf die Idee, den vorständigen Maler zu überwältigen und sich in seinem Namen als neuer Meister unter die Arbeiter zu mischen. Seinen Freunden besorgte er entsprechende Kleidung, sodass sie niemand verdächtigte, wenn sie im Parlament ein- und ausgingen. Innerhalb kürzester Zeit gestaltete er die Vorhalle derart schick, dass alle, die das Gebäude betraten oder verließen, wie gebannt auf die Fresken blickten. Zur Belohnung wurden die Maler vom Parlamentsvorsitzenden persönlich zur Dankbezeigung in den runden Saal geladen; doch dazu hatte sich der Maler von seinen Gehilfen bereits verabschiedet und kam ausschließlich mit seinen vier Mitstreitern der Einladung nach. Das Gesicht des Vorsitzenden hättet ihr sehen sollen, als sich die fünf Recken ihrer farbverschmierten Kleidung entledigten und ihn wie eine Jagdbeute umringten. »Wir sind gekommen, um deine Herrschaft zu kippen«, sagte der Arbeitslose und trat vor. Es war, als wäre die Macht ihrer Ahnen in ihren Augen entflammt. »Pah!«, stieß der Vorsitzende verächtlich hervor. »Solange ich vom Volk gewählt bin, ist alles, was ich tue, richtig. Ihr könnt eure Beschwerden schriftlich an den Parlamentsrat schicken …« Noch bevor der Satz von seinen Lippen glitt, packte ihn der Häftling am Kragen, wuchtete ihn einige Male im Saal herum, ehe er ihn vornüber zwischen Rückenlehne und Flächenrand des nächstbesten Stuhls mit dem Knie niederdrückte. »Wisst ihr denn nicht, dass die Macht nicht auf, sondern hinter dem Thron sitzt?«, ächzte das hohe Parlamentsmitglied, und da kamen schon die Sicherheitskräfte hinzugeeilt und nahmen die fünf Rebellen getrennt voneinander in Gewahrsam. Bevor zwei bullige Kerle den Arbeitslosen abführten, ließ ihn sein Erzfeind zu sich entbieten. Er fragte ihn verbittert: »Du bist der Anführer dieser Bande. An ihren unterschiedlichen Bekleidungen erkannte ich ihre Eigenschaften. Grüne Latzhose (der Gärtner), die hellbraune Latzhose (der Schreiner), die weiße Hose (der Maler) und die Sträflingsuniform. Welches ist dein Beruf, dass er dich über sie erhebt?«
Aufrecht hob der Gefragte an: »Nie noch habe ich einen Beruf erlernt. Meine Kräfte liegen im Verborgenen, undenkbar, dass es jemandem gelingen sollte, sie nach geltenden Vorschriften formen zu können. Dass meine Begleiter auf mich hörten, mag daran gelegen haben, dass ich für sie das Endergebnis ihres Verdrusses darstelle, der jeden auf seine Weise ärgerte. Und zugleich beirrt mich kein gelerntes Handwerk und hält mich in Abhängigkeit; damit bin ich sowohl der Anfang jedes Volksaufstandes als auch sein Ende.«
»So mögest du an deinem Ende angelangt sein!« Der Parlamentsvorsitzende gab Zeichen, und der Arbeitslose wurde in seine Zelle geführt. Im Parlamentsgefängnis waren viele gerissene Regierungsmitglieder, die sich alle Mühe gaben, den Widerstand der fünf Rebellen zu brechen. Dies gelang ihnen auch. Allerdings nur beim Gärtner, dem Maler und dem Schreiner. Man versprach ihnen das Blaue vom Himmel, gab ihnen sichere Arbeitsplätze, der Maler wurde sogar als Parlamentsrestaurator mit Regierungsaufträgen betraut und verdiente übermäßig viel; so vergaßen sie bald schon, weshalb sie einst ausgezogen waren. Der Sträfling, zum zweiten Mal in Haft, war die Umgebung und den Druck gewohnt, nichts und niemand konnte seinen Willen brechen. »Dümmer zu gehen, als ich hereingekommen bin – das ist eure hässliche Absicht! Die Idee wird triumphieren!«, schrie er aus vollem Halse. Doch niemand hörte ihm zu. Er verbrachte den Rest seines Lebens hinter Gitter; äußerlich alt und runzlig, innerlich hart und willensstark.
Jahre vergingen. Indes hatte man den Arbeitslosen aus der Haft entlassen; das gemeine Volk schimpfte auf ihn, wo es ihn sah, dazu hatte die Regierung viel beigetragen, um die Leute vor ähnlichem Aufstandsgebaren abzuschrecken. Ohne Ziel und Hoffnung ging er in die Freiheit, die für ihn nicht wirklich Freiheit war. Sein Weg führte ihn abermals durch die Straßen seiner Heimat. Diesmal beschloss er, nichts Besseres anzustreben, als seine Armut mit jener anderer zu vermählen, helfend, wo er helfen konnte, und zwar ohne Rückvergütung zu fordern. »Wenn dieser Parlamentsabgeordnete die Urideen des Glaubens, den er zu verteidigen vorgibt, derart frech in arm und reich aufspaltet, dann fange ich’s lieber richtig an und bleibe ein richtiger Armer. Ich bin gespannt, wem von uns beiden der Himmel gehören wird. Oder ob ich dadurch einen neuen Himmel schaffe. Meine Ahnenfolge endet bei mir und sagt: Meine Tragödie macht Sinn! Die Idee wird triumphieren!«
Noch immer spürte er im Magen dieses eigenartige Umrühren, als er damals dem unerkannten Schulkameraden die Spende nicht vergönnt hatte.
Das Land war nach wie vor gebeutelt. Es gab verschiedene Menschensorten: Wer arbeitete und auch arbeiten wollte, war entweder glücklich oder von der Not gedrungen, in jedem Fall tat er seinen Mund nie auf – sie stellten die Mehrheit. Wer nicht arbeitete, konnte entweder keine finden, dann war er, fing man ihn rechtzeitig auf, für neue Ideen durchaus zu begeistern; oder aber er wollte nicht arbeiten, dann war er aus jenem Holz geschnitzt wie auch unser Held. Sie waren die Wenigsten.
Auf seinen Streifzügen lenkten ihn seine Schritte nach langem in den Panikwald. Noch immer gab es Neugeborene, die, sobald ihr Auge sich auftat, um die Grausamkeiten der Welt zu erspähen, furchtgeschüttelt in die Gebärmutter zurückkrochen. In dem alten, grauen Mann, der neben einer Wiege saß und sie betrübt hin- und herbewegte, glaubte der Arbeitslose den Geburtshelfer wiederzuerkennen, der ihn einst vor dem Fluch der Erbsünde gewarnt hatte. Als auch er sich auf den alten Durchgangsreisenden Stück für Stück rückbesann, hielt er mit dem Schaukeln inne und sprach: »Die Dinge sind noch schlimmer geworden, seit du das letzte Mal hier gewesen bist. Trotz der Fortschritte unserer Forscher heben wir fast so viele Gräber aus, wie wir Neugeborene erwarten. Es sind dies die Einzelheiten, über die uns das Parlament im Dunkeln lässt: Ist die Seele konstant? Stirbt man jung, ist und bleibt man jenseitig ebenfalls jung? Es ist nicht Aufgabe unserer Forscher, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, vielmehr, dass kein Anlass mehr besteht, sie zu stellen. Doch gerade das will das Parlament nicht. Sie wollen, dass wir krank auf die Welt kommen; sie wollen, dass wir unsere Kinder mit überholten Mustern erziehen; sie wollen, dass wir uns streiten und gegenseitig vernichten. Sieh’, wie alt ich schon bin, und trotzdem belasten mich mehr Fragen, als mich Antworten friedlich sterben ließen.«
Traurig setzte der Arbeitslose seinen Weg fort. Als er an eine Biegung kam, stürzte ein großer Baum fast lautlos auf ihn und beendete sein Leben. Seine letzten Gedanken kreisten um die Worte des Geburtshelfers. Er dachte, wie die Erbsünde in Zusammenhang mit der sogenannten Strafmündigkeit, die erst ab einem fortgeschrittenen Kindesalter in Kraft trat, die weltabgewandten Neugeborenen doch in den Himmel bringen müsse. Er war sich nämlich sicher: Der Jüngste Tag war nicht weit; wer aber am jüngsten Tag jung, also nicht strafmündig, verschied, musste als Übergänger zählen, während die Welt im Chaos der Neuordnung röchelte. Den Himmel also für die erbsündigen Kinder, die dort aufwachsen sollten; wie viel mochte das Blut ihrer Ahnen da mitbestimmen? Niemand weiß, ob er mit seiner Vermutung Recht hatte.

Politospektive


Der Stammesführer, groß und stark,
gebeut mit Gewalt und Habe
über die seinen, ohnmächtig und schwach;
es kommt einer mit größerer Gabe,
erschlägt ihn, seine Macht liegt brach.

Blaublut auf Thron regiert autark
zu Wasser, Luft und Land,
sein Volk ergeben, die Flotten befehlsbereit;
huldvoll ergreift er die beringte Hand:
Wer von beiden ist nun gescheit?

Der frei Gewählte dünkt sich weise,
des Volkswillens befehlender Stimme
gehören sein Herz und innige Treue;
listig weiß er zu lenken, dass niemand ergrimme
und seine Wiederwahl bereue.

Wohin geht die Reise?
Immer galt Hier und Jetzt als ewig und wahr,
steigt das Chaos, wird vielen angst und bange;
es scheint so notwendig wie klar,
dass der Kindmensch seine Reife erlange.




Bauernlegende


Es ging die Rede von einem ehrlichen Bauersmann, er habe die Sitten und Gebräuche seiner Familie bis in unsere Zeit in würdige Hände weitergegeben. Selbst wenn seine Urenkel heute ihr täglich Brot anderweitig verdienen, so pocht das Blut des Fleißes in ihren Adern; ihr Ahne war es, der die Grundlage einer langen, ehrbaren Familientradition schuf. Er hatte jedoch einen Nebenbuhler, der seinen Beruf mehr als Mittel zum Zweck sah, um sein Leben so unabhängig wie nur irgend möglich zu gestalten.
Jedes Mal, als der Tag der Steuerabgaben kam, ärgerte ihn die Tatsache, dass er als Leibeigener sein Leben fristen musste und der Fürst von seinen Erträgen einzog, was ihm seiner Meinung nach nicht zustand. Diesmal aber hatte er einen Plan, um sein Erwirtschaftetes zu behalten. Er paktierte mit einer hartgesottenen Räuberbande, die in der Nähe seines Grundstücks ihr Versteck hatte. Er sagte zu ihnen: »Wollt ihr nicht auch frei sein und endgültig die Furcht vor dem Galgen ablegen! Dann hört, was ich euch vorschlage: Morgen kommt der Fürst mit seinen Eintreibern, um mir wegzunehmen, wofür ich hart gearbeitet habe, und sie lassen mir so wenig, dass ich nicht begreifen kann, wie andere Bauern hierbei noch Sinn für Recht und Ehrfurcht bewahren können. Sie sind wahre Verbrecher! Wenn ihr mir helft, gegen sie vorzugehen, lasse ich euch die Hälfte meines Ertrags vom letzten Jahr; wenn ihr nicht verschwenderisch damit umgeht, reicht es für fast ein Jahr, ihr könntet leben wie der Fürst und hättet nie wieder etwas von seinen Schergen zu befürchten.« Die Räuber gingen auf das Angebot ein.
Als nun der Zug der Reiter und Wagen über das Feld herzog, lagen die Räuber im Wald auf der Lauer, der den Bauernhof umschloss.
Wie wilde Urmenschen fielen sie über die Gefolgschaft des Fürsten her, verschonten keine lebende Seele. Seine Furcht schlecht verbergend, wurde der Fürst dem rebellischen Bauern vorgeführt, während die Räuber den vereinbarten Lohn auf die Packtiere luden und davonritten. Voller Stolz sprach der Bauer zum gefesselten Fürsten: »Am Ende hat sich also doch herausgestellt, dass du besiegbar bist wie jeder einfache Lehnsträger.« Er überließ ihm seinen Hof, die Hilfsmittel, die Tiere, die Äcker und sagte, er könne ohne Weiteres sein Leben bestreiten, wenn er weise mit dem Gegebenen umginge. Er selbst bezog des Fürsten Schloss, erklärte der Dienerschaft, er habe dem Tyrannen den Garaus gemacht, und lebte fürderhin in Saus und Braus. Der Fürst aber verendete auf den Feldern nach weniger Zeit nahe eines Pflugschars; was denkt ihr: War es sein verletzter Stolz? Oder sein Unvermögen, den Anforderungen des rauen, ländlichen Lebens gerecht zu werden?
Die Machtverhältnisse hatten sich verschoben. Von nun an konnte ein Müllerssohn ausziehen, um König zu werden, es genügte, im Bunde der Untertanen den Edelleuten finstere Blicke zuzusenden, und sofort schlotterten ihre Knie. Stück für Stück wurde so die Leibeigenschaft abgeschafft; auch die Hochachtung vor dem Glauben geriet ins Wanken, als klar wurde, wie schamlos die ehemaligen Herrscher ihn angewandt hatten, um ihr Sklavenvolk in einem Leben ständiger Angst und Abhängigkeit zu halten. Von reichen bis heiligen Müßiggängern, hart arbeitenden Ehrlichen und denen, die von beidem die Schnauze voll hatten, handelte nun die Weltgeschichte, wobei die Letzteren den meisten Zuwachs bekamen.
Wie sich die verschiedene Wesenheit der beiden Bauern in ihren Familien fortsetzte, so auch ihre Rivalität in der veränderlichen Welt.
Ein Urenkel des Gehorsamen ist vom Mechaniker zum Parlamentarier geworden (also ein vom Volk wählbarer König, wie wir es heute noch kennen). Ein Erfolg freilich, dessen Grundlegung er dem Rivalen seines Ahnen hätte verdanken müssen.
Er verschrieb seine Seele dem messianischen Glauben, so wählten ihn auch solche, die dieser Tradition frönten. Aber die Regeln dieser neuen Welt behaupteten, jede Ansicht darüber, was man dürfe und nicht dürfe, hätte Lebensrecht, und so gab es solche, die, während nun der messianische Parlamentarier regierte, daran forschten, wie man von Erbkrankheiten befreite Kinder künstlich zur Welt bringen könnte. Der Urenkel des rebellischen Bauern wuchs in einer Umgebung auf, in welcher er den alten Glauben zu lernen gedrängt wurde und gleichzeitig davon hörte, wie die sogenannten Forscher zwar ebenfalls Schöpfer großen Wissens waren, aber von ihrem Stande und Mitspracherecht sich den gegenwärtig regierenden Ideen unterzuordnen hatten. Das erschien ihm unsinnig.
Da er ohne Arbeit war, ging er daran, Gleichgesinnte und Gleichbeschicksalte für einen Machtsturz zu gewinnen. Es war nicht schwer, die Verelendeten in den Straßen aufzufinden und zum Mitmachen zu überreden, denn da sie nichts mehr zu verlieren hatten, konnten sie lächelnd der Gefahr ins Antlitz blicken. Zuerst stieß der Arbeitslose auf den Schreiner, der an einem Metallstück werkelte. Er fragte ihn verwundert: »Was bastelst du an dem deinem Handwerk abgewandten Metallstück?« Der junge Schreiner sprach traurig: »Ach, jüngst noch verdiente ich mein täglich Brot als Aushilfe beim alten Tischler; als er mich nicht mehr brauchte, wurde ich von den Volksbildnern zu den Metallbauern geschickt, und jetzt soll ich lernen, was ich nicht will und kann.«
»Komm mit mir«, ermunterte ihn der Arbeitslose, »gemeinsam werden wir der Blindheit ihrer angeblichen Fürsorge trotzen.« Der Schreiner schloss sich ihm an. Bald darauf trafen sie auf den Fließbandarbeiter. Er saß im Dreck und pflegte eine Gruppe wunderschöner Topfpflanzen. Der Arbeitslose fragte ihn: »Wie schaffst du es, als maschinenähnlicher Arbeiter derart entzückende Blumen zu züchten?« Der Fließbandarbeiter erwiderte: »Die geistlose Arbeit drohte mich zu zermürben, also widmete ich meine Aufmerksamkeit den Urkräften unserer Naturverbundenheit.«
»Komm mit uns«, schlug ihm der Arbeitslose vor, »hier wirst du ja doch nicht glücklich. Es sollte jeder zu jeder Zeit tun können, was er will und kann, ohne in der Gosse zu enden.« Freudig schloss sich der Fließbandarbeiter den beiden an. Als Nächstes begegneten sie dem Maler und Verputzer. Still und betrübt saß er vor seiner Staffelei und zauberte mit all seinen Farben die schönsten Gestalten und Landschaften hin. Der Arbeitslose war baff, er erkundigte sich: »Wie kann jemand mit deinem Talent einem so gewöhnlichen Beruf nachgehen?« Verärgert antwortete der Maler: »Es sind Unterrichtsfächer, die mich nicht interessieren, in denen ich aber gut sein muss; es sind Berufe, die gerade mehr gefragt sind auf dem Markt als andere; es sind Ideen, für die sich niemand interessiert, weil der Wettbewerb der Unternehmen untereinander für meine malerischen Ausgeburten keinen Spielraum lässt.«
Der Arbeitslose schlug ihm tröstend vor: »Schließe dich uns an. Ich bin davon überzeugt, dass jede Idee das Recht hat, gehört zu werden.« Der Maler ließ sich nicht zweimal bitten.
Im verfallensten Viertel am Ende der Stadt wurden die vier Verbündeten Zeugen eines Gefängnisaufstandes. Im allgemeinen Tumult sahen sie einen Häftling, der im Begriff war, einem am Kragen gepackten Wärter eine Flasche auf dem Schädel zu zerschmettern. Mutig trat der Arbeitslose vor und fragte ihn: »Was macht dich so gewalttätig der Staatsgewalt gegenüber?« Selbstbewusst antwortete der Häftling: »Weil ich einst den Tod meines Meisters aus Überzeugung über seine Verlogenheit herbeiführte, sperrte man mich für acht Jahre ein. Obwohl ich schon damals wusste, was ich tat, glaubten sie, die Entbehrungen meiner Inhaftierung würden mich vom Gegenteil überzeugen. Sie wollten tatsächlich einen reifen Verstand zum unmündigen Kinde herabbefehlen!« Beeindruckt sprach der Arbeitslose: »Du schließt den Kreis unseres Bundes. Komm mit uns, und du wirst noch vieles antreffen, wo du deine Rache üben kannst.«
Da zogen sie zu fünft weiter. Bei der Bahnstation hielt ein lumpiger Bettler den Arbeitslosen um eine Spende an. Er lehnte barsch ab und entfernte sich rasch. Was er nicht ahnen konnte, war, dass der Bettler, empört über die unhöfliche Behandlung, dem Verweigerer den Tod wünschte. Und dabei handelte es sich um den Wunsch seines ehemaligen Freundes aus Schultagen. Seitdem fühlte er in seinem Bauch diese eigenartige Bewegung, als würde jemand in seinem Magen herumrühren.
Bevor unsere fünf Rebellen das Parlamentsgebäude erreichten, das auf dem Gipfel des großen Berges unter düsteren Wolken aufragte, führte sie ihr Weg durch den Panikwald. Dort erschraken sie über die Neugeborenen, die, sobald sie das Licht der Welt erblickten, ängstlich in die Gebärmutter zurückschlüpften. Die Mütter indes, in jeder Siedlung zu den Tugendhaftesten gehörend, ertrugen das neue Leben in ihrem Inneren nicht lange, und so überkamen sie mehr und mehr alle menschlichen Laster. Da warnte ein Geburtshelfer unsere fünf Reisenden nachdrücklich: »Flieht aus dieser Gegend! Niemand will Zeuge davon werden, wie unschuldige Mütter schuldigen Nachwuchs gebären, unter allen Anzeichen geheuchelter Freude! Daran ist nichts zu ehren! Oh, dies zeugungswillige Jahrhundert – es liebt den Augenblick und weigert sich, Verantwortung für die folgenden zu übernehmen. Ihr wisst, wem wir das zu verdanken haben …!?«
Unsere Freunde schritten schneller voran, um noch vor Nachteinbruch das Parlamentsgebäude zu erreichen, doch sie waren müde. Unter einem großen Baum richteten sie ihr Lager her und schliefen bis zum Morgengrauen. Als sie aufbrachen, beschäftigte den Maler der eigenartige Traum, der ihn vergangene Nacht befallen hatte. Als Geist schwebte er durch den Wald, wobei sein einziges Streben dem Horten irdischer Reichtümer galt, wie und wo er sie auch finden mochte. Er ließ sich dennoch nichts anmerken, als die mutige Rotte sich unaufhaltsam ihrem Zielort näherte. Da standen sie nun. Eine tiefe Schlucht trennte das schmucke Parlament von den fünf Rebellen, die es um jeden Preis besetzen wollten. Doch wie sollten sie hinüber? Da kam dem Arbeitslosen der Gedanke, mithilfe des Schreiners könnten sie das umliegende Gehölz zu einer sicheren Brücke zusammenzimmern. Und so geschah es. Nach langer, mühsamer Arbeit gelang es ihnen, den Abgrund zu überbrücken, und so konnten sie gefahrlos hinübergehen. Aber die nächste Schwierigkeit ließ nicht lange auf sich warten. Vor ihnen taten sich drei unwegsame Wegmäuler auf, überwuchert von allerlei Sträuchern und Schlingengewächsen. Nun lag es am Hobbygärtner, seine Mitstreiter gesund durch die schmalen Gänge zwischen den Steilwänden zu geleiten. Sie waren ihrem Ziel zum Greifen nahegekommen. Wie es der Zufall wollte, wurden gerade Restaurationsarbeiten in der Vorhalle des Parlaments verrichtet; das brachte den Maler auf die Idee, den vorständigen Maler zu überwältigen und sich in seinem Namen als neuer Meister unter die Arbeiter zu mischen. Seinen Freunden besorgte er entsprechende Kleidung, sodass sie niemand verdächtigte, wenn sie im Parlament ein- und ausgingen. Innerhalb kürzester Zeit gestaltete er die Vorhalle derart schick, dass alle, die das Gebäude betraten oder verließen, wie gebannt auf die Fresken blickten. Zur Belohnung wurden die Maler vom Parlamentsvorsitzenden persönlich zur Dankbezeigung in den runden Saal geladen; doch dazu hatte sich der Maler von seinen Gehilfen bereits verabschiedet und kam ausschließlich mit seinen vier Mitstreitern der Einladung nach. Das Gesicht des Vorsitzenden hättet ihr sehen sollen, als sich die fünf Recken ihrer farbverschmierten Kleidung entledigten und ihn wie eine Jagdbeute umringten. »Wir sind gekommen, um deine Herrschaft zu kippen«, sagte der Arbeitslose und trat vor. Es war, als wäre die Macht ihrer Ahnen in ihren Augen entflammt. »Pah!«, stieß der Vorsitzende verächtlich hervor. »Solange ich vom Volk gewählt bin, ist alles, was ich tue, richtig. Ihr könnt eure Beschwerden schriftlich an den Parlamentsrat schicken …« Noch bevor der Satz von seinen Lippen glitt, packte ihn der Häftling am Kragen, wuchtete ihn einige Male im Saal herum, ehe er ihn vornüber zwischen Rückenlehne und Flächenrand des nächstbesten Stuhls mit dem Knie niederdrückte. »Wisst ihr denn nicht, dass die Macht nicht auf, sondern hinter dem Thron sitzt?«, ächzte das hohe Parlamentsmitglied, und da kamen schon die Sicherheitskräfte hinzugeeilt und nahmen die fünf Rebellen getrennt voneinander in Gewahrsam. Bevor zwei bullige Kerle den Arbeitslosen abführten, ließ ihn sein Erzfeind zu sich entbieten. Er fragte ihn verbittert: »Du bist der Anführer dieser Bande. An ihren unterschiedlichen Bekleidungen erkannte ich ihre Eigenschaften. Grüne Latzhose (der Gärtner), die hellbraune Latzhose (der Schreiner), die weiße Hose (der Maler) und die Sträflingsuniform. Welches ist dein Beruf, dass er dich über sie erhebt?«
Aufrecht hob der Gefragte an: »Nie noch habe ich einen Beruf erlernt. Meine Kräfte liegen im Verborgenen, undenkbar, dass es jemandem gelingen sollte, sie nach geltenden Vorschriften formen zu können. Dass meine Begleiter auf mich hörten, mag daran gelegen haben, dass ich für sie das Endergebnis ihres Verdrusses darstelle, der jeden auf seine Weise ärgerte. Und zugleich beirrt mich kein gelerntes Handwerk und hält mich in Abhängigkeit; damit bin ich sowohl der Anfang jedes Volksaufstandes als auch sein Ende.«
»So mögest du an deinem Ende angelangt sein!« Der Parlamentsvorsitzende gab Zeichen, und der Arbeitslose wurde in seine Zelle geführt. Im Parlamentsgefängnis waren viele gerissene Regierungsmitglieder, die sich alle Mühe gaben, den Widerstand der fünf Rebellen zu brechen. Dies gelang ihnen auch. Allerdings nur beim Gärtner, dem Maler und dem Schreiner. Man versprach ihnen das Blaue vom Himmel, gab ihnen sichere Arbeitsplätze, der Maler wurde sogar als Parlamentsrestaurator mit Regierungsaufträgen betraut und verdiente übermäßig viel; so vergaßen sie bald schon, weshalb sie einst ausgezogen waren. Der Sträfling, zum zweiten Mal in Haft, war die Umgebung und den Druck gewohnt, nichts und niemand konnte seinen Willen brechen. »Dümmer zu gehen, als ich hereingekommen bin – das ist eure hässliche Absicht! Die Idee wird triumphieren!«, schrie er aus vollem Halse. Doch niemand hörte ihm zu. Er verbrachte den Rest seines Lebens hinter Gitter; äußerlich alt und runzlig, innerlich hart und willensstark.
Jahre vergingen. Indes hatte man den Arbeitslosen aus der Haft entlassen; das gemeine Volk schimpfte auf ihn, wo es ihn sah, dazu hatte die Regierung viel beigetragen, um die Leute vor ähnlichem Aufstandsgebaren abzuschrecken. Ohne Ziel und Hoffnung ging er in die Freiheit, die für ihn nicht wirklich Freiheit war. Sein Weg führte ihn abermals durch die Straßen seiner Heimat. Diesmal beschloss er, nichts Besseres anzustreben, als seine Armut mit jener anderer zu vermählen, helfend, wo er helfen konnte, und zwar ohne Rückvergütung zu fordern. »Wenn dieser Parlamentsabgeordnete die Urideen des Glaubens, den er zu verteidigen vorgibt, derart frech in arm und reich aufspaltet, dann fange ich’s lieber richtig an und bleibe ein richtiger Armer. Ich bin gespannt, wem von uns beiden der Himmel gehören wird. Oder ob ich dadurch einen neuen Himmel schaffe. Meine Ahnenfolge endet bei mir und sagt: Meine Tragödie macht Sinn! Die Idee wird triumphieren!«
Noch immer spürte er im Magen dieses eigenartige Umrühren, als er damals dem unerkannten Schulkameraden die Spende nicht vergönnt hatte.
Das Land war nach wie vor gebeutelt. Es gab verschiedene Menschensorten: Wer arbeitete und auch arbeiten wollte, war entweder glücklich oder von der Not gedrungen, in jedem Fall tat er seinen Mund nie auf – sie stellten die Mehrheit. Wer nicht arbeitete, konnte entweder keine finden, dann war er, fing man ihn rechtzeitig auf, für neue Ideen durchaus zu begeistern; oder aber er wollte nicht arbeiten, dann war er aus jenem Holz geschnitzt wie auch unser Held. Sie waren die Wenigsten.
Auf seinen Streifzügen lenkten ihn seine Schritte nach langem in den Panikwald. Noch immer gab es Neugeborene, die, sobald ihr Auge sich auftat, um die Grausamkeiten der Welt zu erspähen, furchtgeschüttelt in die Gebärmutter zurückkrochen. In dem alten, grauen Mann, der neben einer Wiege saß und sie betrübt hin- und herbewegte, glaubte der Arbeitslose den Geburtshelfer wiederzuerkennen, der ihn einst vor dem Fluch der Erbsünde gewarnt hatte. Als auch er sich auf den alten Durchgangsreisenden Stück für Stück rückbesann, hielt er mit dem Schaukeln inne und sprach: »Die Dinge sind noch schlimmer geworden, seit du das letzte Mal hier gewesen bist. Trotz der Fortschritte unserer Forscher heben wir fast so viele Gräber aus, wie wir Neugeborene erwarten. Es sind dies die Einzelheiten, über die uns das Parlament im Dunkeln lässt: Ist die Seele konstant? Stirbt man jung, ist und bleibt man jenseitig ebenfalls jung? Es ist nicht Aufgabe unserer Forscher, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen, vielmehr, dass kein Anlass mehr besteht, sie zu stellen. Doch gerade das will das Parlament nicht. Sie wollen, dass wir krank auf die Welt kommen; sie wollen, dass wir unsere Kinder mit überholten Mustern erziehen; sie wollen, dass wir uns streiten und gegenseitig vernichten. Sieh’, wie alt ich schon bin, und trotzdem belasten mich mehr Fragen, als mich Antworten friedlich sterben ließen.«
Traurig setzte der Arbeitslose seinen Weg fort. Als er an eine Biegung kam, stürzte ein großer Baum fast lautlos auf ihn und beendete sein Leben. Seine letzten Gedanken kreisten um die Worte des Geburtshelfers. Er dachte, wie die Erbsünde in Zusammenhang mit der sogenannten Strafmündigkeit, die erst ab einem fortgeschrittenen Kindesalter in Kraft trat, die weltabgewandten Neugeborenen doch in den Himmel bringen müsse. Er war sich nämlich sicher: Der Jüngste Tag war nicht weit; wer aber am jüngsten Tag jung, also nicht strafmündig, verschied, musste als Übergänger zählen, während die Welt im Chaos der Neuordnung röchelte. Den Himmel also für die erbsündigen Kinder, die dort aufwachsen sollten; wie viel mochte das Blut ihrer Ahnen da mitbestimmen? Niemand weiß, ob er mit seiner Vermutung Recht hatte.

Das könnte ihnen auch gefallen :

Märchenkomplott

Jan Sinning

Die Verleugnung

Buchbewertung:
*Pflichtfelder