Kinaya

Kinaya

Melodie der Elemente

Anja Rautnig


EUR 18,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 400
ISBN: 978-3-99048-020-5
Erscheinungsdatum: 14.09.2015
Ein Krieg aus Verzweiflung ist brutal, einer aus Rache vernichtend. Nur Johannes kann die eiserne Faust von Zwinkels Armee aufhalten. Durch Musik.
Prolog

Kennt ihr diese Träume, die nach dem Aufwachen noch klar und deutlich in euren Gedanken festhängen? Wo ihr euch noch an die Farbe der Ohrringe der Kellnerin erinnert könnt, an die Beschaffenheit der rauen Wand, die ihr kurz gestreift habt, an die Intensität und Wärme der Sonne, an jedes Wort, das ihr gehört oder gesagt habt? Solche Träume, wo ihr kurz im Bett überlegt, ob ihr nach dem Aufwachen wirklich in die Realität gelangt seid, oder ob ihr die Realität dann findet, wenn ihr die Augen wieder schließt und zurück in die Kissen sinkt. Weil der Traum so echt war. So unglaublich real.
Unabhängig davon, wie bizarr die Dinge sind, die wir in unseren Träumen sehen – in dem Moment, da wir sie vor unserem inneren Auge auf eine imaginäre Leinwand projizieren, stellen sie für uns eine Form der Wirklichkeit dar. Aber unbewusst. Denn meistens wachen wir auf, ohne zu wissen, welche Erlebnisse uns im Traum widerfahren sind. Nur manchmal wachen wir mit diesem sonderbaren Gefühl im Bauch und kristallklaren Gedanken im Kopf auf. Weil der Traum etwas in uns berührt hat. Und dann stellt sich vermutlich jeder von uns die Frage, ob es Träume gibt, die uns etwas sagen wollen.

Johannes hatte einen solchen Traum. Ein Traum, der anders war als die anderen. Und er sollte alles verändern.


Der erste Traum

Johannes’ Augen glommen düster im Licht der Straßenlaternen, als er den Vorhang des Fensters etwas beiseiteschob. Er zählte. Fünf Personentransporter, militärische Großfahrzeuge, rollten auf ihren magnetgedämpften Reifen nahezu lautlos an seinem Haus vorbei. Der junge Mann ließ den Vorhang wieder fallen und zog sich vom Fenster zurück.
Sie werden bald hier sein. Johannes’ Magen krampfte sich vor Furcht zusammen. Er wusste, dass er und seine Familie nicht bleiben konnten. Die Soldaten würden jedes einzelne Haus durchsuchen, jeden finden, und wen sie doch nicht fanden, den würden sie sterben lassen.
Das zumindest hatte Johannes geträumt.
Er war mitten in der Nacht aufgewacht, mit diesen kristallklaren Bildern im Kopf. Sein Land überfallen von ausländischen Soldaten. Seine Freunde betäubt und verschleppt. Seine Familie fort und er selbst – tot. Normalerweise hätte er einen solchen Traum achselzuckend als Albtraum abgetan. Träume waren nichts weiter als verzerrte Ideen, die das Unterbewusstsein schickt, um Tageserlebnisse zu verarbeiten. So hatte er das von Psychologieprofessoren gelernt. Träume spiegeln vergangene Ängste, Zweifel oder auch Freuden wieder. Sie sind lediglich die unterbewusste Reinigungsmaschine unserer Psyche. Aber vor allem sind Träume eines: ein Produkt der eigenen Fantasie und somit wertlose und haltlose Information. Auch das hatte Johannes so gelernt.
Aber in dem Moment, da er die Augen geöffnet hatte, wusste er, dass dieser Traum anders war, als alle anderen. Ein unglaublich intensives Gefühl von Gefahr ging von dem Traum aus, so real, dass Johannes die aufsteigende Angst in jeder Faser seines Körpers spüren konnte, als er schon längst wach auf der Bettkante saß. Das war etwa fünf Minuten her.
Nun wusste er, dass an dem Traum etwas dran sein musste. Die Wahrheit war gerade unter seinem Fenster vorbeigefahren. Das bedrückende Gefühl der Angst, mit dem er aufgewacht war, verstärkte sich, als er erneut den Blick auf das Fenster richtete. Wie war das möglich? Woher kamen die Soldaten? Und vor allem: Was wollten sie? Johannes verstand nicht, was um ihn herum gerade geschah. Alles, was er hatte, war dieser Traum, ein Konvoi fremdländischer Militärfahrzeuge direkt unter seinem Fenster und das Gefühl, dass beides unwillkürlich zusammenhing.
Johannes eilte zum Zimmer seiner Mutter. Bevor er ihren Schlafbereich betrat, verharrte er kurz in dem kleinen Vorzimmer, das sie als Ankleideraum benutzte. Seine Mutter war bei der Müllverarbeitung tätig, zuständig für die Reinigung der immensen Verbrennungskessel. Intuitiv öffnete er die Lade der Kommode und zog einen der Ganzkörper-Schutzanzüge heraus. Die Soldaten in seinem Traum, die seine Mutter und Schwester aus der Wohnung getragen hatten, waren mit Schutzanzügen ausgestattet gewesen. Warum? War die Droge, die sie betäuben sollte, ansteckend? Johannes beschloss, kein Risiko einzugehen und schlüpfte in den engen Overall. Der Stoff passte sich seiner Körperform geschmeidig an und schloss automatisch die Lücke am Rücken, durch welche Johannes in das Kleidungsstück hineingelangt war. Auch die Handschuhe und die Gesichtsmaske, die Johannes zusätzlich anlegte, verschmolzen von selbst mit der restlichen Kleidung. Dieses Verschlusssystem war eigens für Hygienearbeiten entwickelt worden und gewährleistete absoluten Keim- und Partikelschutz. Um ein Kleidungsstück wieder auszuziehen, musste nur an der richtigen Stelle zweimal kurz der Stoff angezogen werden und die Verbindung löste sich vollautomatisch.
Derart geschützt wagte sich Johannes weiter und öffnete die Verbindungstür zum Schlafzimmer. Die in Decken gehüllte Gestalt im Bett atmete tief und langsam im Rhythmus eines erholsamen Schlafes. Es war ein friedlicher Anblick. Johannes betrachtete seine Mutter mit einer Mischung aus Dankbarkeit und aufrichtiger Zuneigung. Seit sein Vater gestorben war, musste sie zusätzlich zu ihrer Arbeit als Verwaltungsassistentin auch Nachtschichten im Müllsektor auf sich nehmen, um die Familie durchzubringen.
Johannes ging um das Bett herum und schüttelte seine Mutter sanft an der Schulter. Er rief ihren Namen. Lisa. Immer wieder, immer lauter. Sie reagierte nicht. Johannes schüttelte sie kräftiger. Tätschelte ihre Wangen. Kniff sie in den Arm. Rief schon so laut, dass er Mühe hatte, ihr nicht direkt ins Gesicht zu schreien. Keine Antwort. Sie wachte nicht auf.
Johannes war schockiert und verunsichert. Es ist alles wahr. Die Soldaten, die Betäubung, alles wie in meinem Traum! Dabei war es doch nur ein Traum. Was soll das? Johannes’ Gedanken fuhren Karussell. Er verließ seine Mutter und hastete ins Kinderzimmer.
Meggie war ein sehr sensibles Kind. Die Dreijährige konnte es in ihrem Zimmer hören, wenn Johannes mit dem Stift auf die Tischplatte tippte, während er, den Gang runter, in der Küche saß und über seinen Mechatronik-Aufgaben brütete. Es war ihr geheimes Signal, zu ihm zu stürmen und ihn mit großen Kulleraugen zum Spielen zu überreden. Sie wusste, dass er am ehesten mit ihr spielen würde, wenn sie ihn vom Lernen ablenkte. Kluges Mädchen.
Heute jedoch schienen ihre sonst so sensiblen Ohren nicht zu funktionieren. Allein das leichte Quietschen der Tür hätte sie wecken sollen. Tat es aber nicht. Als auch Meggie all seinen Weckversuchen trotzte, brach eine Welle der Ohnmacht über Johannes zusammen. Er nahm sein Mobiltelefon zur Hand und versuchte Sebastian anzurufen. Kein Lebenszeichen von seinem besten Freund. Dann wählte er die Nummer seiner Tante, rief wahllos irgendwelche Schulkollegen an. Mehr als ein monotones Tuten kam nicht vom anderen Ende der Leitung. Kein Einziger hatte abgehoben.
Was sollte er tun? Da waren Soldaten in Ahigi unterwegs, die vermutlich die ganze Stadt mit einer mysteriösen Schlafdroge betäubt hatten, die seine Freunde und Familie in ihren schallgedämpften Transportern fortbringen wollten. Wohin? Wofür? Und wieso hatte Johannes von all dem geträumt? Während es tatsächlich passierte?
Johannes umfasste mit beiden Händen den obersten Balken des Gitterbetts und stützte sich darauf. Er fühlte sich schwach. In der Hoffnung, seine Gedanken damit zu beruhigen, schloss Johannes die Augen und lauschte dem sanften Ein- und Ausatmen seiner kleinen Schwester. Die Gleichmäßigkeit ihres Atems half ihm, seinen inneren Aufruhr unter Kontrolle zu bringen.
Kurz fasste er im Geiste seine Lage zusammen: Seine Mutter und Schwester ließen sich nicht aus dem Schlaf holen und Johannes hatte davon geträumt, dass seine Familie verschleppt werden würde. Also musste er sie in Sicherheit bringen. Bevor er irgendetwas anderes tat. Bevor er sich die große Frage stellen konnte, warum all das geschah und warum er diesen warnenden Traum gehabt hatte.
Johannes dachte schnell nach. Ein sicheres Versteck würde er innerhalb der Stadt nicht finden. Wenn die Eindringlinge die Stadtwache überwältigten, würden sie sämtliche Türcodierungen an sich bringen. Das wiederum würde ihnen Zutritt zu allen öffentlichen und einigen privaten Gebäuden verschaffen. Selbst das Schloss einer privaten Wohnung, wie der von Johannes’ Familie, konnte mit einem speziellen Universalsender geöffnet werden, den die Hausverwaltung verwahrte. Johannes vermutete, dass die Stadtwache oder das Militär ebenfalls über einen Universalschlüssel verfügten, der ihnen in Notfällen Tür und Tor öffnete. Hatten die fremden Soldaten einen solchen Schlüssel in ihrer Gewalt, würde sie die Hochsicherungsstahltür ihrer Wohnung nicht aufhalten. Es half nichts: Sie mussten fliehen! Es war ihre einzige Chance.
Johannes kannte einen Ort, an dem die Soldaten sie nicht über Wärmebildkameras und Bewegungssatelliten aufspüren könnten, wie hier. Ahigi war leicht zu überwachen. Breite, regelmäßige Straßen verbanden ein Netzwerk aus Hochhäusern, die alle gleich aussahen, die auch alle gleich funktionierten. Es gab im ganzen Land nur eine Firma, die mit dem Bau von Häusern ihr Geld verdiente und diese baute immer im gleichen Stil. Spart Zeit, spart Geld. Doch diese Monotonie kam Johannes nun vor wie eine einzige Falle. Die Soldaten mussten nur an den zentralen Punkten Wachen oder Kameras installieren und sie würden jedes Haus perfekt observieren können. Wenn sie den Plan eines einzigen Hauses kannten, hatten sie die ganze Stadt praktisch schon in ihrer Hand.
Deshalb musste Johannes’ Fluchtweg aus dem Stadtgebiet herausführen. Vor seinem inneren Auge formte sich ein Plan. Straße 18, welche zwei Blocks weiter Straße 5, die fensterseitig seines Hauses verlief, kreuzte, führte zum Krallberg. An der Stelle, wo die Straße in einen unbefestigten Forstweg mündete, hatte man einen Wachposten aufgestellt, den sogenannten Waldwart. Er protokollierte akribisch, wer wann und warum Zugang zum Wald erhielt. Aus Sicherheitsgründen durften Unbefugte ohne eigens dafür konzipierten Bescheid den Wald nicht betreten. Daher lag der Forstweg normalerweise hinter einer verschlossenen Schranke verborgen. Wenn Johannes allerdings richtig vermutete, dann schlief auch der Wachmann seinen mysteriös tiefen Schlaf und würde ihn nicht daran hindern können, mit seiner Familie im Wald zu verschwinden. Johannes überlegte kurz, ob ihm nicht eine bessere Alternative einfiel, als in den von Pflanzen und Tieren bevölkerten Krallwald einzudringen. Er sah aber keine andere Möglichkeit. Der Wald war seiner Meinung nach der einzige Ort, an dem die Soldaten keine Menschen vermuten würden. Auch wenn das für Johannes bedeutete, sich mit diesen unkontrollierten, gefährlichen Lebewesen auseinandersetzen zu müssen, die sie erwarten würden.
Als er noch ein Kind gewesen war, hatte er einmal eine lasche Stelle im Schutzzaun entdeckt, ganz in der Nähe vom Häuschen des Wachmanns, aber eben doch weit genug entfernt, um unbemerkt hindurchschlüpfen zu können. Der Wald hatte ihn fasziniert. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie weich sich das Gras angefühlt hatte und wie verschiedenartig die Pflanzen gerochen hatten. Es war eine ihm absolut neue, unbekannte, spannende Welt gewesen. Wie er sich dann aber ein paar Schritte weiter vorangetastet hatte, hatte ihn der Wald plötzlich angegriffen. Ohne dass Johannes wusste, wie ihm geschah, hatte eine Gruppe hüfthoher Stauden mit eigenartig haarigen Blättern seine Arme und Beine verätzt. Während er dem brennenden Schmerz unter lautem Schreien zu entgehen versuchte und vor den aggressiven Pflanzen zurückgestolpert war, kam der Waldwart alarmiert angerannt. Die Erinnerung an das heftige Brennen und die Standpauke des Wachmanns hatten Johannes’ Verlangen, den Wald weiter zu erkunden, sofort im Keim erstickt. Alles, was er heute an Vegetation und Tieren am Krallberg kannte, hatte er, wie alle anderen, aus faden Lehrbüchern gelernt und zum Großteil in den großen, grauen Abstellraum namens „VERGESSEN“ in seinem Gehirn verbannt. Er wusste nur noch, dass die Waldlebewesen nicht kontrollierbar waren. Nicht einschätzbar. Potenziell gefährlich. Es war also ein riskantes Versteck. Aber immer noch besser, als tatenlos darauf zu warten, verschleppt zu werden. Johannes konnte nicht erklären, warum er so überzeugt davon war, dass sein Traum wahr werden würde, wenn er nichts unternahm. Er war sich sicher, dass die Soldaten kommen und die Häuser durchsuchen würden. Und seine Familie mitnehmen würden. Und ihn töten.
Noch immer hielt Johannes das Gitterbett seiner Schwester fest umklammert. Dann ließ er den Balken abrupt los und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.
Wenn ich Mutter und Meggie wegbringen will, brauche ich ein Fahrzeug. Ein Auto … Wir haben kein Auto. Selbst wenn, ich kann ohnehin nicht Auto fahren. Und wenn ich eine nach der anderen trage? So weit ist der Waldzugang nicht weg. Aber Johannes widerstrebte der Gedanke, eine von beiden unbeaufsichtigt zurückzulassen. Schließlich wusste er nicht, wann die Soldaten kommen würden.
Denk nach, Johannes! Ein Transportmittel für zwei Personen, nichts Auffälliges, nichts Lautes. Etwas, das du besitzt. Moment. Keiner ist wach. Ich könnte auch irgendetwas von irgendjemandem ausborgen.
In diesem Augenblick schoss Johannes die Lösung durch den Kopf. Der Einkaufswagen!
Vor zwei Tagen war einer der geräumigen Einkaufswagen vom Baumarkt kaputt gegangen. Das Anzeigefeld, auf welchem der Einkäufer normalerweise den Gesamtbetrag aller sich im Wagen befindlichen Artikel ablesen konnte, hatte den Geist aufgegeben. Johannes hatte zufällig mitbekommen, wie sich die junge Dame, die den Wagen verwenden wollte, bei einem der Baumarktmitarbeiter darüber beschwert hatte, wie furchtbar inkompetent er doch wäre, weil er den Wagen nicht sofort aussortiert habe. Was der Mitarbeiter, peinlich berührt, natürlich sofort nachgeholt hatte. Und da die Müllabfuhr erst morgen gekommen wäre, musste der Einkaufswagen noch im Abfalldepot stehen.
Johannes verlor keine Zeit. Der Baumarkt befand sich genau zwischen seinem und dem Nachbarwohngebäude, keine fünf Minuten zu Fuß. Ein glücklicher Zufall. Johannes betätigte den Türknauf, um die Wohnung zu verlassen, dann hielt er mitten in der Bewegung inne. So konnte er seine Familie nicht zurücklassen. Auch wenn er nur wenige Minuten fort sein würde. Johannes lief zurück in das Zimmer seiner Mutter. Eine Hand unter ihren Oberkörper, die andere unter die Kniebeuge, hob er sie an und sah sich eilig um. Die Soldaten würden nicht damit rechnen, dass sich jemand versteckte. Schließlich schliefen alle. Warum schlafe ich eigentlich nicht?, fragte sich Johannes unvermittelt, kam aber auf keine Antwort. Er brachte seine Mutter in das kleine Vorzimmer und setzte sie behutsam auf dem Boden ab. Während er sie mit einer Hand stützte, sodass ihr Kopf nicht auf den Boden aufschlagen konnte, öffnete er mit der anderen den Kleiderschrank. Dann hob er Lisa wieder auf und setzte sie mit dem Rücken zur Wand auf den Kastenboden. Johannes schloss die Tür des Kastens vorsichtig. Solange die Soldaten keine Wärmebildkameras einsetzten, war Lisa hier vorerst sicher. Rasch schüttelte Johannes die Decke auf, damit das Bett unbenutzt aussah. Anschließend verfrachtete er Meggie in ein ähnlich unkomfortables Versteck, nämlich in die Kommode unter ihren ehemaligen Wickeltisch, und räumte die Spielsachen halbwegs zur Seite. Erst nachdem er auch die Decken seines eigenen Bettes so arrangiert hatte, als hätte in dieser Nacht keiner darin gelegen, wagte Johannes die Wohnung zu verlassen. Die Soldaten sollten glauben, dass die Familie verreist sei. Dann würden sie vielleicht gar nicht weitersuchen.
Der Lift schien eine Ewigkeit nach unten zu brauchen. Fünf Sekunden pro Stockwerk. Macht 40 Sekunden für acht Stockwerke. 40 lange Sekunden, in denen Johannes sich ausmalte, wie ihn die Mündung eines Gewehrlaufs begrüßen würde, wenn die Lifttüren im Erdgeschoss sich öffneten. Das unscheinbare „Dong“, das ihm signalisierte, in der gewünschten Etage angekommen zu sein, klang viel zu laut für Johannes’ Ohren. Jetzt erst fiel ihm die gespenstische Stille auf. Ich muss weiter. Johannes hastete den Gang entlang in Richtung Eingang. Die verglasten Türen gaben den Blick auf die Straße frei. Niemand zu sehen. Bevor Johannes den Schritt ins Freie wagte, holte er tief Luft und stieß sie gepresst heraus. Er würde keine Deckung haben, bis er hinter den Baumarkt gelangte. Dann schlüpfte er durch die Tür und sprintete den Gehweg entlang. Er sah sich flüchtig um, spitzte die Ohren, verlangsamte aber seinen Lauf nicht, bis er die Rückwand des Baumarkts erreicht hatte. Angestrengt lauschte Johannes in die Stille. Alles ruhig. Langsam tastete er sich an der Wand entlang. Er erreichte die Hausecke und spähte auf die Straße. Dann wagte er sich weiter. Keine zwei Meter von der Hausecke entfernt stieß er auf die Zufahrt der Müllwagen. Eine Schranke versperrte ihm den Weg, flankiert von mehreren Überwachungskameras und einem kleinen Schalterhäuschen. In dem kaum einen Quadratmeter großen Häuschen saß niemand. Nicht verwunderlich. Johannes schlüpfte unter der Schranke hindurch und überflog mit den Augen die Ansammlung an ausrangierten Geräten. Er brauchte einen Moment, um den Wagen ausfindig zu machen. Neben einer Duschanne, deren Verkleidung eigenartige gelbe Flecken aufwies, und mit etwas gefüllt war, das wie Glühbirnen aussah, fiel der Einkaufswagen nicht sonderlich auf. Obwohl das Wegwerfen von nicht makellosen Gegenständen eine alltägliche Praxis war, missfiel Johannes der Anblick einer Duschanne am Schrottplatz, die lediglich aufgrund äußerlicher Fehler hier deponiert war. Der Preis dieser multifunktionalen Wanne, die liegend als Badewanne und senkrecht stehend als Dusche verwendet werden konnte, war so hoch, dass seine Mutter ein halbes Jahr arbeiten müsste, um sie sich leisten zu können.
Mit einem resignierten Kopfschütteln wandte sich Johannes von der Duschanne ab, räumte den Einkaufswagen so lautlos wie möglich frei und schob ihn auf die Schranke zu.

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