Kanon der Konflikte

Kanon der Konflikte

Moritz Elzenheimer


EUR 22,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 446
ISBN: 978-3-99146-221-7
Erscheinungsdatum: 21.12.2023

Leseprobe:

Kapitel 1

Jeder andere hätte die Geräuschkulisse am Ufer der Krei wohl als idyllisch empfunden. Das Wasser war ruhig und gab ein leises Plätschern von sich, ein paar Vögel zwitscherten ihre Melodien und die Zikaden im Gras zirpten ihren Rhythmus. Doch Armas nahm das gar nicht wahr.
Ruhig hob er die Impulsarmbrust an sein Kinn und visierte den Kopf der Forelle an, die ihm am nächsten war. Er atmete aus und betätigte den Abzug. Der an einem Seil befestigte Bolzen schoss blitzschnell aus dem Magnetlauf. Mühelos bohrte sich die mit Widerhaken besetzte Spitze durch den Kopf. Armas lächelte zufrieden. Durch einen Knopfdruck holte die Winde den Fisch wieder ein und Armas verstaute ihn in seinem Rucksack. Einer von vier Fischen. Es waren genug für einen Tag.

Der lange Weg nach Hause machte ihm kaum etwas aus. Er war zwar nicht besonders stark, aber dafür sehr ausdauernd. Ein dünner und durchschnittlich großer Junge mit heller Haut und einem bartlosen, diamantförmigen Gesicht. Seine dunkelbraunen Haare lagen ihm wirr im Gesicht und verdeckten teilweise die mandelbraunen Augen. Mit seinen zwanzig Jahren war er kaum erwachsen. Und dennoch gehörte er zu den jüngsten in seinem Dorf.
Tarnio war nicht weit von der Krei entfernt. Ein unbefestigter Schotterpfad folgte dem Fluss nach oben ins Dorf. Der Weg führte an stillgelegten Windmühlen vorbei, die darauf warteten, zu zerfallen und wieder in das Erdreich zurückzukehren. Zwar waren sie alle noch voll funktionstüchtig, aber die meisten waren von Schlingpflanzen überwuchert, die an den steinernen Mauern emporklommen.
Abgesehen von ein paar Wanderern und Händlern gab es niemanden, der auf diesem Weg nach Tarnio wollte. Denn jenseits davon gab es nur ewige Tundra und kleine Waldabschnitte, die von den Tieren erst wieder entdeckt werden mussten. Und Tarnio selbst war es nicht wert, sich so weit von der Hauptstadt zu entfernen.
Der Weg führte Armas vorbei an einem großen Hügel, der die Sicht auf die gigantische Filteranlage freigab, die über der Krei thronte. Ein riesiges Gebäude, dessen Qualm spuckende Schornsteine zweihundert Meter in den Himmel ragten. Die hohen Mauern aus schwarzem Metall und Stein wurden an mehreren Stellen durch Zahnräder, Kolben und andere Maschinerien unterbrochen, die seitlich aus dem Inneren ragten. Die Anordnung wirkte wahllos, jedoch lag ihr ein raffiniertes System zugrunde, das sich dem Verstand eines Durchschnittsbürgers entzog. Doch so schön die Anlage aus einer technischen Perspektive war, so hässlich war sie aus einer ästhetischen. Inmitten der grünen Wiesen, des wolkenbedeckten Himmels und der schönen Berglandschaft in der Ferne wirkte sie wie ein Tumor, der sich aus der Erde erhob.
Schattenspucker, wie die Anlage von den Einwohnern Tarnios hämisch genannt wurde, hatte keinen offiziellen Namen. Vielleicht hatte sie bei den Ingenieuren in Walkolap einen, doch wenn dem so war, dann kannte ihn ansonsten niemand. Vor etwa zwei Jahren wurde sie erbaut und schon damals beobachteten die Einwohner Tarnios die Arbeiten argwöhnisch. Niemand hatte sie nach ihrer Meinung gefragt, denn niemand musste sie nach ihrer Meinung fragen. Der Befehl kam aus Walkolap und wenn ein Befehl aus der Hauptstadt kam, war die Sache damit beschlossen. Monatelang kamen Luftschiffe mit Materialien, Arbeitern und Werkzeugen, die das ruhige Tal in Aufruhr versetzten.
Einige Bewohner wollten sich diese Bevormundung nicht bieten lassen. Es kam zu Demonstrationen und in vereinzelten Fällen zu Gewalt. Doch nur wenige wagten es, die Fäuste zu heben. Die Arbeiter wurden von Soldaten der Republik begleitet, die die Baustelle Tag und Nacht patrouillierten. Kaum jemand in Tarnio hatte die Erfahrung oder den Mut, es mit ihnen aufzunehmen. Und diejenigen, die es taten, wurden schnell verhaftet und man hatte sie seitdem nie wieder gesehen.
Und dann, mit einem Mal, war alles still. Keine Arbeiter waren zu sehen, keine Hämmer und Sägen zu hören. Sie waren alle verschwunden. Einzig und allein die Filteranlage blieb zurück und schleuderte dunklen Qualm in die Luft. Das war alles, was die Dorfbewohner über den Schattenspucker wussten. Niemand war jemals im Inneren gewesen oder hatte ein Wort mit der Belegschaft gewechselt.
Warum dieses Ungetüm überhaupt gebaut worden war, war ebenso rätselhaft wie sein Innenleben. Die Menschen hier in der Gegend lebten schon seit Jahren an der Krei. Sie benutzten das Wasser zum Trinken, Waschen und Kochen und nie war jemandem etwas Ungewöhnliches daran aufgefallen. Es schmeckte sowohl oberhalb als auch unterhalb der Anlagegenau gleich. Und obwohl sich zahlreiche Gerüchte um den Schattenspucker rankten, wurde die Neugierde der Menschen von ihrem Unmut überschattet. Sie waren schlichtweg zu stolz, jemanden zu fragen, was es mit diesem Koloss auf sich hatte. Der Gedanke, dass die Anlage komplett nutzlos war und die umliegende Luft ohne Grund verpestete, gefiel ihnen und nährte ihre Abscheu. Und daran wollten sie auch nichts ändern.
Armas würdigte den Schattenspucker keines Blickes, während er sich den äußeren Häusern seines Dorfes näherte. Tarnio lag unbedeutend und unscheinbar am Fuße der Anlage, nur ein paar Meter von den schwarzen Granitwänden entfernt. Es dämmerte bereits, als er die ersten Fachwerkhäuser erreichte und die Wolken blockierten die restlichen Sonnenstrahlen. Armas sah verwundert nach oben. Einen so wolkenbehangenen Himmel hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Wenn sich wirklich mal eine Wolke über Tarnio bildete, löste sie sich meist schnell wieder auf und Armas war sich sicher, dass es diesmal nicht anders sein würde. Er senkte den Blick und schritt an den vielen vernagelten Häusern vorbei, die schon seit geraumer Zeit leer standen. Erst, als er den Marktplatz erreichte, sah er wieder auf. Er ging zum Stand des Fleischers, so wie er es immer tat. Der Stand war ebenso verlassen wie der Rest des Platzes und wenn Armas ehrlich war, war es ihm auch lieber so. Er legte die Fische in das Salzfass, das hinter dem Tresen stand und nahm sich fünf Kupfermünzen aus der Kasse.
Sein Haus war nicht weit von hier entfernt. Ein einfaches, zweistöckiges Fachwerkhaus mit einem leicht schief sitzenden Dach. Als er es erreichte, öffnete er die Tür und trat seufzend ein. Er hängte die Impulsarmbrust an einen Wandhaken und warf seine Jacke und den Rucksack achtlos zu Boden. Onkel Uril saß, wie fast jeden Abend, in seinem großen Sessel nahe des Kamins.
Uril war ein großer, aber vor allem breiter Mann. Die wenigen Haare auf seinem Kopf waren säuberlich nach hinten gekämmt und sein breites Gesicht war von einer langen, aber oberflächlichen Narbe gezeichnet. Er trug eine weite Wollhose mit Hosenträgern, die über einem grauen Hemd lagen, das schon mehrmals geflickt wurde. Doch irgendwann hatte er es aufgegeben, die Löcher zu stopfen, und so paarten sich unpassend gefärbte Flicken mit fransigen Löchern.
Er rührte sich nicht, als Armas die Tür hinter sich schloss. Seine Augen waren geschlossen. Armas warf einige Holzscheite in das schon fast erloschene Feuer und fachte es erneut an. Als er sich umdrehte, sah er, dass Uril wach war. Er konzentrierte sich auf seine Lippen.
»Wie lange bist du schon wieder da?« Urils Augen blickten ihn müde an.
»Erst seit einer Minute.«
»Wie viele hast du erwischt?«
»Zwölf Forellen. Ich hab sie bereits beim Fleischer abgeliefert.«
»Nur zwölf? Du wirst langsam nachlässig. Ich hab früher mindestens sechzehn pro Tour gefangen.«
Ein fast unmerkliches Grinsen huschte über Urils Gesicht. Jedem anderen wäre das vermutlich entgangen, aber Armas achtete genau auf das Gesicht seines Gegenübers.
»Und jetzt sitzt du den ganzen Tag in deinem Sessel und schläfst.«
Uril verzog das Gesicht. »Der Sessel ist auch verdammt bequem. Aber auch der bequemste Sessel hält mich nicht davon ab, gleich aufzustehen und dir eins überzubraten, wenn du nicht dein freches Mundwerk hältst!« Er räusperte sich, setzte sich auf und nahm einen Schluck aus dem Glas, das neben ihm auf dem Tisch stand.
»Ich bin es doch, der uns versorgt und täglich Geld nach Hause bringt. Und mal ganz nebenbei: Meine Angelkünste haben sich seit dem letzten Jahr verdoppelt!«
»Zwei mal null ist immer noch null«, sagte Uril mit einem scherzenden Unterton in der Stimme. Nicht, dass Armas das hätte hören können, doch er sah es seinem Onkel deutlich an.
Armas zuckte mit den Schultern, nahm sich etwas Brot und Käse vom Tisch und ließ sich seufzend in den gegenüberliegenden Sessel fallen. Das Feuer hatte inzwischen wieder an Stärke gewonnen und tauchte den Raum in ein gemütliches Licht.
»Irgendwas Neues?«, fragte Armas schmatzend, während er sein Brot aß.
»Aus Walkolap kommt die Nachricht, dass die terinischen Truppen einen großen Sieg an der Ostfront erzielt haben. Das war ein entscheidender Durchbruch!«
Armas atmete resigniert aus. »Das behaupten die doch schon seit Jahren, Uril. Fast jeden Monat dieselbe Leier: Entscheidender Sieg! Bald ist es soweit! Wir haben es fast geschafft! Bla, bla, bla.«
»Diesmal bin ich mir sicher! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Föderation kapituliert. Was sollen sie denn anderes machen? Ihre Ressourcen sind erschöpft. Die halten nicht mehr lange durch.«
»Die Republik hält auch nicht mehr lange durch.«
Uril verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das behauptest du schon seit Jahren. Fast jeden Monat dieselbe Leier: Das stehen wir nicht mehr lange durch! Der Abgrund ist nahe! Bla, bla, bla!«
Armas lachte kurz auf und seine düstere Miene glättete sich wieder etwas.
»Mal ganz davon abgesehen geht es uns doch gar nicht schlecht«, setzte Uril nach. »Was die in der Hauptstadt treiben, ist mir völlig egal! Für Tarnio interessiert sich niemand und das ist auch gut so. Welcher hirnverbrannte General würde denn auf die Idee kommen, uns anzugreifen? Wenn Walkolap in Flammen aufgeht und die ach so mächtige terinische Republik fällt, wird Tarnio immer noch stehen!«
Armas sah ihn mit einem gütigen Lächeln an und erhob sich aus dem Sessel. »Genug davon. Ich gehe jetzt schlafen. Und im Gegensatz zu dir hab ich mir das auch redlich verdient.«
Er wandte sich ab und sah noch aus dem Augenwinkel, wie Uril wütend einen Konter formulieren wollte, doch er beachtete seine Lippen nicht weiter.
Sein Onkel hasste es, wenn Armas ihm schnippische Sprüche an den Kopf warf, nur um anschließend seinen Lippen keine Beachtung mehr zu schenken. Und er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Uril hinter seinem Rücken pikiert die Nase rümpfte.
Als er die schmale Treppe hinaufstieg, blieb er nochmals stehen. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Armas. Schlaf dich aus. Ich gehe morgen früh Wasser holen.«

Die Scheinwerfer wurden gedämpft, bis nur noch ein einzelner Lichtstrahl von oben herab auf Armas leuchtete. Die Halle war komplett ausverkauft. Jeder, egal ob arm oder reich, wollte ihn sehen und seiner Stimme lauschen. Der Krieg war nebensächlich. Menschen aus der Republik und der Föderation saßen Seite an Seite in ihren Sitzen und starrten voller Begeisterung auf die Bühne. Das erste Mal seit Jahren, dass sie sich nicht gegenseitig umbringen wollten.
Armas beobachtete die Lippen der Leute, die leise tuschelten. Er hob beide Arme zu einer anmutigen Pose und sofort war es im Saal komplett still. Das Orchester setzte zum finalen Crescendo an. Armas Gesang gewann an Intensität. Wie ein Windstoß fegte seine Stimme über das Publikum hinweg, dem voller Ehrfurcht der Atem stockte. Er drehte sich zu dem Orchester um.
Der Trommler hinter ihm begleitete ihn mit sachten Schlägen auf seiner Pauke. Zuerst spielte er einen unbekannten, aber stimmigen Rhythmus. Doch nach einer Weile wurde aus dem einladenden, dezent gehaltenen Rhythmus ein militärischer Marsch. Mit jeder Sekunde wurden die Schläge intensiver und Armas war sich sicher, dass sein Gesang mit diesem Geräuschpegel nicht mithalten konnte. Nervös bedeutete er dem Trommler mit einer Geste, leiser zu spielen. Doch dieser beachtete ihn nicht. Mit starrem Blick schlug er auf seine Trommel und holte mit jedem Schlag weiter aus. Armas drehte den Kopf und sah in die Zuschauerreihen.
Die Menschen, die vorher so friedlich nebeneinandergesessen hatten, fielen auf einmal übereinander her. Mit allem, was sie hatten, versuchten sie, sich gegenseitig umzubringen. Einige schlugen mit bloßen Fäusten zu, andere hatten Messer und einige wenige schossen sogar mit Impulsgewehren aufeinander, deren Magnetläufe todbringende Kugeln in die Massen spuckten. In wenigen Sekunden waren die Ränge mit Leichen gepflastert.
Armas konnte nicht fassen, was er da sah. War es der Paukenspieler, der die Menschen zu diesen Untaten trieb? Er drehte sich zu ihm um.
Dort saß er. Mit ausdrucksloser Miene hämmerte er auf seine Trommel. Ihm selbst schien dieser Zauber nichts auszumachen. Doch der Rest des Orchesters verfiel genau wie die Zuschauer in eine blinde Raserei.
Armas beschloss, dem ein Ende zu machen. Er rannte auf den Trommler zu, bereit, ihm die Schlägel abzunehmen. Doch die Bühne schien auf einmal unendlich lang. Je weiter er rannte, desto weiter entfernte sich der Trommler.
Und dann, mit einem Mal, hielt der Trommler mitten in der Bewegung inne. Erschrocken blieb Armas stehen und sah, wie er den Schlägel langsam über seinen Kopf hob. Armas wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Der Trommler, ausdruckslos wie zuvor, wartete einen Moment. Dann ließ er den Schlägel fallen.
Die Druckwelle katapultierte Armas aus seinem Bett. Unsanft landete er auf den harten Holzdielen. Es dauerte eine Weile, bis er zu Sinnen kam. Für einen kurzen Moment dachte er an den merkwürdigen Traum zurück. Doch ein dumpfes Geräusch unterbrach seine Gedanken abrupt. Nicht mal eine Sekunde später wurde das Haus heftig durchgeschüttelt und Armas klammerte sich an den Bettpfosten neben ihm. Erst, als das Beben nachließ, ließ er den Bettpfosten los. Verwirrt sah er sich um.
Er war alleine im Zimmer. Seine Bücher waren aus dem Regal gefallen. Das Sachbuch über die Ausbreitung von Schall war direkt vor ihm gelandet. Wieder hörte er das dumpfe Pochen.
Moment mal. Er hörte etwas? Armas lauschte angestrengt, um auszuschließen, dass der Ton nur seiner Fantasie entsprungen war. Doch tatsächlich, das Pochen war echt. Er konnte es kaum glauben. Seit er vierzehn Jahre alt war, war er fast komplett taub. Abgesehen von besonders tiefen und lauten Geräuschen konnte er praktisch nichts hören. Wie konnte es also sein, dass er nun dieses Pochen wahrnahm? Wenn selbst er es hören konnte, wie laut war es dann erst für jemanden, der keinen Hörschaden hatte?
Armas stand ächzend auf und trat an das Dachfenster vor dem Bett. Er erreichte die Scheibe und sah für einen kurzen Moment den leicht bläulichen Nachthimmel. Seine Aufmerksamkeit wurde aber sogleich wieder von etwas anderem in Anspruch genommen. Ein entferntes Aufleuchten, das sich rasch näherte.
Eine gewaltige Druckwelle erfasste Armas und schleuderte ihn in die andere Ecke des Raumes. Hart stieß er sich den Kopf an der Wand und kam auf dem Fußboden zum Liegen. Benommen und unter Scherben und Schutt begraben lag er auf dem Boden. Hustend und röchelnd räumte er die Steinbrocken und Glasscherben von seiner Brust. Sein Kopf dröhnte und der Versuch, aufzustehen, wurde mit einer intensiven Schwindelattacke bestraft.
Was war das denn?, fragte er sich und starrte an seine Zimmerwand.
Nur, dass da keine Wand war. Da, wo eben noch sein Bett gestanden hatte, klaffte ein riesiges Loch in der Wand. Das Dach, das nun eine tragende Wand verloren hatte, neigte sich bedrohlich nach unten. Ungläubig rieb sich Armas die Augen, um sicherzustellen, dass er nicht noch immer träumte. Das konnte nicht sein. Es konnte einfach nicht sein. Er musste immer noch träumen.
Armas, von Adrenalin und Angst getrieben, sprang auf und versuchte, die Tür seines Zimmers zu öffnen. Mit einem Ruck zog er an der Klinke, doch bemerkte, dass er die komplette Wand mit sich zog. Das Dach folgte. Armas wurde klar, würde er die Tür öffnen, würde das Dach über ihm einbrechen und ihn begraben. Er ließ die Türklinke los und ging im Schneckentempo von ihr weg, ohne sich umzudrehen. Er bildete sich ein, das Knacken des Holzbodens zu hören, doch ihm war klar, dass ihm sein Verstand einen Streich spielte. Doch der Anblick der brüchigen Wände verdeutlichte ihm die Gefahr nur zu gut. Es war mehr als wahrscheinlich, dass das Haus früher oder später in sich zusammenbrechen würde.
Armas drehte sich um und trat langsam an den Spalt, der in seine Zimmerwand gerissen worden war. Mit einem Fuß belastete er vorsichtig die Holzdiele vor sich. Er wagte noch einen Schritt nach vorne und sah hinab. Die Außenwand der unteren Etage war ebenfalls niedergerissen und ein etwa vier Meter breiter Krater tat sich vor dem Haus auf.
»Uril?!«, schrie er hinab. »Hörst du mich?«
Er wusste, dass er Urils Antwort nicht hören könnte, doch er betete inständig, dass sein Onkel einfach aus der Hauswand kommen und ihm zuwinken würde. Doch unten rührte sich niemand. Wäre Uril dort unten begraben und würde um Hilfe schreien, er hätte es nicht hören können.
Stattdessen hörte Armas immer noch das dumpfe Pochen, mal lauter, mal leiser, doch er sah sich nicht um. Seine Aufmerksamkeit musste diesem Sprung gelten, den er zu wagen gedachte. Es war seine einzige Chance, aus dem Haus zu kommen. Würde er nicht richtig landen, wäre ihm ein gebrochener Knöchel sicher. Dass er keine Schuhe anhatte, machte die Sache nicht gerade leichter. Doch wenn er es schaffte, in den Krater zu springen und sich von der schrägen Kraterwand abzurollen, könnte er den Aufprall genug abfedern, um ernstere Verletzungen zu vermeiden.
Armas atmete tief ein und stieß sich von der Kante ab. Für eine Sekunde war er in der Luft, kam mit beiden Füßen auf und rollte sich nach vorne ab. Von dem Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht, kam er bäuchlings auf der Erde zum Liegen. Er schnaubte heftig und stand wieder auf. Die Kopfschmerzen hielten sich hartnäckig, doch bis auf ein paar Schrammen war ihm sonst nichts passiert. Er klopfte sich den Dreck von seinem Nachthemd und kletterte aus dem Krater. Als er endlich aufstand und sich umsah, erblickte er das Chaos, das sich vor seinen Augen entfaltete.
Die Bewohner Tarnios rannten durcheinander, die Münder zu stummen Schreien aufgerissen. Die meisten hatten noch ihre Nachthemden an. Einige waren sogar nackt. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und aus ihren Gesichtern konnte Armas lesen, dass sie genauso wenig wussten, was gerade geschah, wie er selbst. Sie rannten umher, doch wussten nicht, wohin, versteckten sich oder suchten ihre Verwandten. Das Nachbarhaus war als solches nicht mehr zu erkennen. Es war nur noch ein Trümmerhaufen. Kein Qualm war zu sehen, kein Feuer. Einfach nur Trümmer. Er sah Devmin, seinen Nachbarn, der mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht unter einem Holzbalken hervorkroch. Das Gesicht blutüberströmt, eine klaffende Wunde an seiner Stirn. Niemand bemerkte ihn.
Plötzlich überkam es Armas wie ein Blitz. Uril! Er drehte sich um und blickte in das Loch in der Hauswand, aus dem er gerade gesprungen war. Man konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Armas rannte zur Vorderseite des Hauses. Die Frontseite war noch einigermaßen intakt und er konnte die Tür ohne Probleme öffnen. Er trat ein und sah sich um.
Die linke Seite des Erdgeschosses mitsamt dem Bücherregal war weg. Uril lag nahe des Lochs auf dem Boden. Nur sein linker Arm war zu sehen. Der Rest war unter Holz und Steinen begraben. Er rührte sich nicht. Armas zögerte nicht lange. Ungeschickt stieg er über mehrere Trümmerstücke, bis er Uril erreichte.
»Uril! Bist du verletzt?!«, schrie er.
Keine Regung. Armas versuchte, den Schutt von seinem Onkel zu heben. Die kleinen Steine und Holzstücke waren schnell zur Seite geräumt, doch ein großer Holzbalken machte einen schwereren Eindruck. Armas stemmte sich mit dem Rücken gegen das Holz. Er drückte mit aller Kraft, doch der Balken blieb unbeeindruckt an Ort und Stelle liegen. Armas drückte noch fester, drückte, bis sein Kopf rot wurde und seine Hände schmerzten, doch es half nichts. Nach ein paar Minuten sackte er schwer atmend in sich zusammen.

Kapitel 1

Jeder andere hätte die Geräuschkulisse am Ufer der Krei wohl als idyllisch empfunden. Das Wasser war ruhig und gab ein leises Plätschern von sich, ein paar Vögel zwitscherten ihre Melodien und die Zikaden im Gras zirpten ihren Rhythmus. Doch Armas nahm das gar nicht wahr.
Ruhig hob er die Impulsarmbrust an sein Kinn und visierte den Kopf der Forelle an, die ihm am nächsten war. Er atmete aus und betätigte den Abzug. Der an einem Seil befestigte Bolzen schoss blitzschnell aus dem Magnetlauf. Mühelos bohrte sich die mit Widerhaken besetzte Spitze durch den Kopf. Armas lächelte zufrieden. Durch einen Knopfdruck holte die Winde den Fisch wieder ein und Armas verstaute ihn in seinem Rucksack. Einer von vier Fischen. Es waren genug für einen Tag.

Der lange Weg nach Hause machte ihm kaum etwas aus. Er war zwar nicht besonders stark, aber dafür sehr ausdauernd. Ein dünner und durchschnittlich großer Junge mit heller Haut und einem bartlosen, diamantförmigen Gesicht. Seine dunkelbraunen Haare lagen ihm wirr im Gesicht und verdeckten teilweise die mandelbraunen Augen. Mit seinen zwanzig Jahren war er kaum erwachsen. Und dennoch gehörte er zu den jüngsten in seinem Dorf.
Tarnio war nicht weit von der Krei entfernt. Ein unbefestigter Schotterpfad folgte dem Fluss nach oben ins Dorf. Der Weg führte an stillgelegten Windmühlen vorbei, die darauf warteten, zu zerfallen und wieder in das Erdreich zurückzukehren. Zwar waren sie alle noch voll funktionstüchtig, aber die meisten waren von Schlingpflanzen überwuchert, die an den steinernen Mauern emporklommen.
Abgesehen von ein paar Wanderern und Händlern gab es niemanden, der auf diesem Weg nach Tarnio wollte. Denn jenseits davon gab es nur ewige Tundra und kleine Waldabschnitte, die von den Tieren erst wieder entdeckt werden mussten. Und Tarnio selbst war es nicht wert, sich so weit von der Hauptstadt zu entfernen.
Der Weg führte Armas vorbei an einem großen Hügel, der die Sicht auf die gigantische Filteranlage freigab, die über der Krei thronte. Ein riesiges Gebäude, dessen Qualm spuckende Schornsteine zweihundert Meter in den Himmel ragten. Die hohen Mauern aus schwarzem Metall und Stein wurden an mehreren Stellen durch Zahnräder, Kolben und andere Maschinerien unterbrochen, die seitlich aus dem Inneren ragten. Die Anordnung wirkte wahllos, jedoch lag ihr ein raffiniertes System zugrunde, das sich dem Verstand eines Durchschnittsbürgers entzog. Doch so schön die Anlage aus einer technischen Perspektive war, so hässlich war sie aus einer ästhetischen. Inmitten der grünen Wiesen, des wolkenbedeckten Himmels und der schönen Berglandschaft in der Ferne wirkte sie wie ein Tumor, der sich aus der Erde erhob.
Schattenspucker, wie die Anlage von den Einwohnern Tarnios hämisch genannt wurde, hatte keinen offiziellen Namen. Vielleicht hatte sie bei den Ingenieuren in Walkolap einen, doch wenn dem so war, dann kannte ihn ansonsten niemand. Vor etwa zwei Jahren wurde sie erbaut und schon damals beobachteten die Einwohner Tarnios die Arbeiten argwöhnisch. Niemand hatte sie nach ihrer Meinung gefragt, denn niemand musste sie nach ihrer Meinung fragen. Der Befehl kam aus Walkolap und wenn ein Befehl aus der Hauptstadt kam, war die Sache damit beschlossen. Monatelang kamen Luftschiffe mit Materialien, Arbeitern und Werkzeugen, die das ruhige Tal in Aufruhr versetzten.
Einige Bewohner wollten sich diese Bevormundung nicht bieten lassen. Es kam zu Demonstrationen und in vereinzelten Fällen zu Gewalt. Doch nur wenige wagten es, die Fäuste zu heben. Die Arbeiter wurden von Soldaten der Republik begleitet, die die Baustelle Tag und Nacht patrouillierten. Kaum jemand in Tarnio hatte die Erfahrung oder den Mut, es mit ihnen aufzunehmen. Und diejenigen, die es taten, wurden schnell verhaftet und man hatte sie seitdem nie wieder gesehen.
Und dann, mit einem Mal, war alles still. Keine Arbeiter waren zu sehen, keine Hämmer und Sägen zu hören. Sie waren alle verschwunden. Einzig und allein die Filteranlage blieb zurück und schleuderte dunklen Qualm in die Luft. Das war alles, was die Dorfbewohner über den Schattenspucker wussten. Niemand war jemals im Inneren gewesen oder hatte ein Wort mit der Belegschaft gewechselt.
Warum dieses Ungetüm überhaupt gebaut worden war, war ebenso rätselhaft wie sein Innenleben. Die Menschen hier in der Gegend lebten schon seit Jahren an der Krei. Sie benutzten das Wasser zum Trinken, Waschen und Kochen und nie war jemandem etwas Ungewöhnliches daran aufgefallen. Es schmeckte sowohl oberhalb als auch unterhalb der Anlagegenau gleich. Und obwohl sich zahlreiche Gerüchte um den Schattenspucker rankten, wurde die Neugierde der Menschen von ihrem Unmut überschattet. Sie waren schlichtweg zu stolz, jemanden zu fragen, was es mit diesem Koloss auf sich hatte. Der Gedanke, dass die Anlage komplett nutzlos war und die umliegende Luft ohne Grund verpestete, gefiel ihnen und nährte ihre Abscheu. Und daran wollten sie auch nichts ändern.
Armas würdigte den Schattenspucker keines Blickes, während er sich den äußeren Häusern seines Dorfes näherte. Tarnio lag unbedeutend und unscheinbar am Fuße der Anlage, nur ein paar Meter von den schwarzen Granitwänden entfernt. Es dämmerte bereits, als er die ersten Fachwerkhäuser erreichte und die Wolken blockierten die restlichen Sonnenstrahlen. Armas sah verwundert nach oben. Einen so wolkenbehangenen Himmel hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Wenn sich wirklich mal eine Wolke über Tarnio bildete, löste sie sich meist schnell wieder auf und Armas war sich sicher, dass es diesmal nicht anders sein würde. Er senkte den Blick und schritt an den vielen vernagelten Häusern vorbei, die schon seit geraumer Zeit leer standen. Erst, als er den Marktplatz erreichte, sah er wieder auf. Er ging zum Stand des Fleischers, so wie er es immer tat. Der Stand war ebenso verlassen wie der Rest des Platzes und wenn Armas ehrlich war, war es ihm auch lieber so. Er legte die Fische in das Salzfass, das hinter dem Tresen stand und nahm sich fünf Kupfermünzen aus der Kasse.
Sein Haus war nicht weit von hier entfernt. Ein einfaches, zweistöckiges Fachwerkhaus mit einem leicht schief sitzenden Dach. Als er es erreichte, öffnete er die Tür und trat seufzend ein. Er hängte die Impulsarmbrust an einen Wandhaken und warf seine Jacke und den Rucksack achtlos zu Boden. Onkel Uril saß, wie fast jeden Abend, in seinem großen Sessel nahe des Kamins.
Uril war ein großer, aber vor allem breiter Mann. Die wenigen Haare auf seinem Kopf waren säuberlich nach hinten gekämmt und sein breites Gesicht war von einer langen, aber oberflächlichen Narbe gezeichnet. Er trug eine weite Wollhose mit Hosenträgern, die über einem grauen Hemd lagen, das schon mehrmals geflickt wurde. Doch irgendwann hatte er es aufgegeben, die Löcher zu stopfen, und so paarten sich unpassend gefärbte Flicken mit fransigen Löchern.
Er rührte sich nicht, als Armas die Tür hinter sich schloss. Seine Augen waren geschlossen. Armas warf einige Holzscheite in das schon fast erloschene Feuer und fachte es erneut an. Als er sich umdrehte, sah er, dass Uril wach war. Er konzentrierte sich auf seine Lippen.
»Wie lange bist du schon wieder da?« Urils Augen blickten ihn müde an.
»Erst seit einer Minute.«
»Wie viele hast du erwischt?«
»Zwölf Forellen. Ich hab sie bereits beim Fleischer abgeliefert.«
»Nur zwölf? Du wirst langsam nachlässig. Ich hab früher mindestens sechzehn pro Tour gefangen.«
Ein fast unmerkliches Grinsen huschte über Urils Gesicht. Jedem anderen wäre das vermutlich entgangen, aber Armas achtete genau auf das Gesicht seines Gegenübers.
»Und jetzt sitzt du den ganzen Tag in deinem Sessel und schläfst.«
Uril verzog das Gesicht. »Der Sessel ist auch verdammt bequem. Aber auch der bequemste Sessel hält mich nicht davon ab, gleich aufzustehen und dir eins überzubraten, wenn du nicht dein freches Mundwerk hältst!« Er räusperte sich, setzte sich auf und nahm einen Schluck aus dem Glas, das neben ihm auf dem Tisch stand.
»Ich bin es doch, der uns versorgt und täglich Geld nach Hause bringt. Und mal ganz nebenbei: Meine Angelkünste haben sich seit dem letzten Jahr verdoppelt!«
»Zwei mal null ist immer noch null«, sagte Uril mit einem scherzenden Unterton in der Stimme. Nicht, dass Armas das hätte hören können, doch er sah es seinem Onkel deutlich an.
Armas zuckte mit den Schultern, nahm sich etwas Brot und Käse vom Tisch und ließ sich seufzend in den gegenüberliegenden Sessel fallen. Das Feuer hatte inzwischen wieder an Stärke gewonnen und tauchte den Raum in ein gemütliches Licht.
»Irgendwas Neues?«, fragte Armas schmatzend, während er sein Brot aß.
»Aus Walkolap kommt die Nachricht, dass die terinischen Truppen einen großen Sieg an der Ostfront erzielt haben. Das war ein entscheidender Durchbruch!«
Armas atmete resigniert aus. »Das behaupten die doch schon seit Jahren, Uril. Fast jeden Monat dieselbe Leier: Entscheidender Sieg! Bald ist es soweit! Wir haben es fast geschafft! Bla, bla, bla.«
»Diesmal bin ich mir sicher! Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Föderation kapituliert. Was sollen sie denn anderes machen? Ihre Ressourcen sind erschöpft. Die halten nicht mehr lange durch.«
»Die Republik hält auch nicht mehr lange durch.«
Uril verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Das behauptest du schon seit Jahren. Fast jeden Monat dieselbe Leier: Das stehen wir nicht mehr lange durch! Der Abgrund ist nahe! Bla, bla, bla!«
Armas lachte kurz auf und seine düstere Miene glättete sich wieder etwas.
»Mal ganz davon abgesehen geht es uns doch gar nicht schlecht«, setzte Uril nach. »Was die in der Hauptstadt treiben, ist mir völlig egal! Für Tarnio interessiert sich niemand und das ist auch gut so. Welcher hirnverbrannte General würde denn auf die Idee kommen, uns anzugreifen? Wenn Walkolap in Flammen aufgeht und die ach so mächtige terinische Republik fällt, wird Tarnio immer noch stehen!«
Armas sah ihn mit einem gütigen Lächeln an und erhob sich aus dem Sessel. »Genug davon. Ich gehe jetzt schlafen. Und im Gegensatz zu dir hab ich mir das auch redlich verdient.«
Er wandte sich ab und sah noch aus dem Augenwinkel, wie Uril wütend einen Konter formulieren wollte, doch er beachtete seine Lippen nicht weiter.
Sein Onkel hasste es, wenn Armas ihm schnippische Sprüche an den Kopf warf, nur um anschließend seinen Lippen keine Beachtung mehr zu schenken. Und er konnte sich nur zu gut vorstellen, wie Uril hinter seinem Rücken pikiert die Nase rümpfte.
Als er die schmale Treppe hinaufstieg, blieb er nochmals stehen. »Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Armas. Schlaf dich aus. Ich gehe morgen früh Wasser holen.«

Die Scheinwerfer wurden gedämpft, bis nur noch ein einzelner Lichtstrahl von oben herab auf Armas leuchtete. Die Halle war komplett ausverkauft. Jeder, egal ob arm oder reich, wollte ihn sehen und seiner Stimme lauschen. Der Krieg war nebensächlich. Menschen aus der Republik und der Föderation saßen Seite an Seite in ihren Sitzen und starrten voller Begeisterung auf die Bühne. Das erste Mal seit Jahren, dass sie sich nicht gegenseitig umbringen wollten.
Armas beobachtete die Lippen der Leute, die leise tuschelten. Er hob beide Arme zu einer anmutigen Pose und sofort war es im Saal komplett still. Das Orchester setzte zum finalen Crescendo an. Armas Gesang gewann an Intensität. Wie ein Windstoß fegte seine Stimme über das Publikum hinweg, dem voller Ehrfurcht der Atem stockte. Er drehte sich zu dem Orchester um.
Der Trommler hinter ihm begleitete ihn mit sachten Schlägen auf seiner Pauke. Zuerst spielte er einen unbekannten, aber stimmigen Rhythmus. Doch nach einer Weile wurde aus dem einladenden, dezent gehaltenen Rhythmus ein militärischer Marsch. Mit jeder Sekunde wurden die Schläge intensiver und Armas war sich sicher, dass sein Gesang mit diesem Geräuschpegel nicht mithalten konnte. Nervös bedeutete er dem Trommler mit einer Geste, leiser zu spielen. Doch dieser beachtete ihn nicht. Mit starrem Blick schlug er auf seine Trommel und holte mit jedem Schlag weiter aus. Armas drehte den Kopf und sah in die Zuschauerreihen.
Die Menschen, die vorher so friedlich nebeneinandergesessen hatten, fielen auf einmal übereinander her. Mit allem, was sie hatten, versuchten sie, sich gegenseitig umzubringen. Einige schlugen mit bloßen Fäusten zu, andere hatten Messer und einige wenige schossen sogar mit Impulsgewehren aufeinander, deren Magnetläufe todbringende Kugeln in die Massen spuckten. In wenigen Sekunden waren die Ränge mit Leichen gepflastert.
Armas konnte nicht fassen, was er da sah. War es der Paukenspieler, der die Menschen zu diesen Untaten trieb? Er drehte sich zu ihm um.
Dort saß er. Mit ausdrucksloser Miene hämmerte er auf seine Trommel. Ihm selbst schien dieser Zauber nichts auszumachen. Doch der Rest des Orchesters verfiel genau wie die Zuschauer in eine blinde Raserei.
Armas beschloss, dem ein Ende zu machen. Er rannte auf den Trommler zu, bereit, ihm die Schlägel abzunehmen. Doch die Bühne schien auf einmal unendlich lang. Je weiter er rannte, desto weiter entfernte sich der Trommler.
Und dann, mit einem Mal, hielt der Trommler mitten in der Bewegung inne. Erschrocken blieb Armas stehen und sah, wie er den Schlägel langsam über seinen Kopf hob. Armas wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Der Trommler, ausdruckslos wie zuvor, wartete einen Moment. Dann ließ er den Schlägel fallen.
Die Druckwelle katapultierte Armas aus seinem Bett. Unsanft landete er auf den harten Holzdielen. Es dauerte eine Weile, bis er zu Sinnen kam. Für einen kurzen Moment dachte er an den merkwürdigen Traum zurück. Doch ein dumpfes Geräusch unterbrach seine Gedanken abrupt. Nicht mal eine Sekunde später wurde das Haus heftig durchgeschüttelt und Armas klammerte sich an den Bettpfosten neben ihm. Erst, als das Beben nachließ, ließ er den Bettpfosten los. Verwirrt sah er sich um.
Er war alleine im Zimmer. Seine Bücher waren aus dem Regal gefallen. Das Sachbuch über die Ausbreitung von Schall war direkt vor ihm gelandet. Wieder hörte er das dumpfe Pochen.
Moment mal. Er hörte etwas? Armas lauschte angestrengt, um auszuschließen, dass der Ton nur seiner Fantasie entsprungen war. Doch tatsächlich, das Pochen war echt. Er konnte es kaum glauben. Seit er vierzehn Jahre alt war, war er fast komplett taub. Abgesehen von besonders tiefen und lauten Geräuschen konnte er praktisch nichts hören. Wie konnte es also sein, dass er nun dieses Pochen wahrnahm? Wenn selbst er es hören konnte, wie laut war es dann erst für jemanden, der keinen Hörschaden hatte?
Armas stand ächzend auf und trat an das Dachfenster vor dem Bett. Er erreichte die Scheibe und sah für einen kurzen Moment den leicht bläulichen Nachthimmel. Seine Aufmerksamkeit wurde aber sogleich wieder von etwas anderem in Anspruch genommen. Ein entferntes Aufleuchten, das sich rasch näherte.
Eine gewaltige Druckwelle erfasste Armas und schleuderte ihn in die andere Ecke des Raumes. Hart stieß er sich den Kopf an der Wand und kam auf dem Fußboden zum Liegen. Benommen und unter Scherben und Schutt begraben lag er auf dem Boden. Hustend und röchelnd räumte er die Steinbrocken und Glasscherben von seiner Brust. Sein Kopf dröhnte und der Versuch, aufzustehen, wurde mit einer intensiven Schwindelattacke bestraft.
Was war das denn?, fragte er sich und starrte an seine Zimmerwand.
Nur, dass da keine Wand war. Da, wo eben noch sein Bett gestanden hatte, klaffte ein riesiges Loch in der Wand. Das Dach, das nun eine tragende Wand verloren hatte, neigte sich bedrohlich nach unten. Ungläubig rieb sich Armas die Augen, um sicherzustellen, dass er nicht noch immer träumte. Das konnte nicht sein. Es konnte einfach nicht sein. Er musste immer noch träumen.
Armas, von Adrenalin und Angst getrieben, sprang auf und versuchte, die Tür seines Zimmers zu öffnen. Mit einem Ruck zog er an der Klinke, doch bemerkte, dass er die komplette Wand mit sich zog. Das Dach folgte. Armas wurde klar, würde er die Tür öffnen, würde das Dach über ihm einbrechen und ihn begraben. Er ließ die Türklinke los und ging im Schneckentempo von ihr weg, ohne sich umzudrehen. Er bildete sich ein, das Knacken des Holzbodens zu hören, doch ihm war klar, dass ihm sein Verstand einen Streich spielte. Doch der Anblick der brüchigen Wände verdeutlichte ihm die Gefahr nur zu gut. Es war mehr als wahrscheinlich, dass das Haus früher oder später in sich zusammenbrechen würde.
Armas drehte sich um und trat langsam an den Spalt, der in seine Zimmerwand gerissen worden war. Mit einem Fuß belastete er vorsichtig die Holzdiele vor sich. Er wagte noch einen Schritt nach vorne und sah hinab. Die Außenwand der unteren Etage war ebenfalls niedergerissen und ein etwa vier Meter breiter Krater tat sich vor dem Haus auf.
»Uril?!«, schrie er hinab. »Hörst du mich?«
Er wusste, dass er Urils Antwort nicht hören könnte, doch er betete inständig, dass sein Onkel einfach aus der Hauswand kommen und ihm zuwinken würde. Doch unten rührte sich niemand. Wäre Uril dort unten begraben und würde um Hilfe schreien, er hätte es nicht hören können.
Stattdessen hörte Armas immer noch das dumpfe Pochen, mal lauter, mal leiser, doch er sah sich nicht um. Seine Aufmerksamkeit musste diesem Sprung gelten, den er zu wagen gedachte. Es war seine einzige Chance, aus dem Haus zu kommen. Würde er nicht richtig landen, wäre ihm ein gebrochener Knöchel sicher. Dass er keine Schuhe anhatte, machte die Sache nicht gerade leichter. Doch wenn er es schaffte, in den Krater zu springen und sich von der schrägen Kraterwand abzurollen, könnte er den Aufprall genug abfedern, um ernstere Verletzungen zu vermeiden.
Armas atmete tief ein und stieß sich von der Kante ab. Für eine Sekunde war er in der Luft, kam mit beiden Füßen auf und rollte sich nach vorne ab. Von dem Schwung aus dem Gleichgewicht gebracht, kam er bäuchlings auf der Erde zum Liegen. Er schnaubte heftig und stand wieder auf. Die Kopfschmerzen hielten sich hartnäckig, doch bis auf ein paar Schrammen war ihm sonst nichts passiert. Er klopfte sich den Dreck von seinem Nachthemd und kletterte aus dem Krater. Als er endlich aufstand und sich umsah, erblickte er das Chaos, das sich vor seinen Augen entfaltete.
Die Bewohner Tarnios rannten durcheinander, die Münder zu stummen Schreien aufgerissen. Die meisten hatten noch ihre Nachthemden an. Einige waren sogar nackt. Jeder war mit sich selbst beschäftigt und aus ihren Gesichtern konnte Armas lesen, dass sie genauso wenig wussten, was gerade geschah, wie er selbst. Sie rannten umher, doch wussten nicht, wohin, versteckten sich oder suchten ihre Verwandten. Das Nachbarhaus war als solches nicht mehr zu erkennen. Es war nur noch ein Trümmerhaufen. Kein Qualm war zu sehen, kein Feuer. Einfach nur Trümmer. Er sah Devmin, seinen Nachbarn, der mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht unter einem Holzbalken hervorkroch. Das Gesicht blutüberströmt, eine klaffende Wunde an seiner Stirn. Niemand bemerkte ihn.
Plötzlich überkam es Armas wie ein Blitz. Uril! Er drehte sich um und blickte in das Loch in der Hauswand, aus dem er gerade gesprungen war. Man konnte in der Dunkelheit nichts erkennen. Armas rannte zur Vorderseite des Hauses. Die Frontseite war noch einigermaßen intakt und er konnte die Tür ohne Probleme öffnen. Er trat ein und sah sich um.
Die linke Seite des Erdgeschosses mitsamt dem Bücherregal war weg. Uril lag nahe des Lochs auf dem Boden. Nur sein linker Arm war zu sehen. Der Rest war unter Holz und Steinen begraben. Er rührte sich nicht. Armas zögerte nicht lange. Ungeschickt stieg er über mehrere Trümmerstücke, bis er Uril erreichte.
»Uril! Bist du verletzt?!«, schrie er.
Keine Regung. Armas versuchte, den Schutt von seinem Onkel zu heben. Die kleinen Steine und Holzstücke waren schnell zur Seite geräumt, doch ein großer Holzbalken machte einen schwereren Eindruck. Armas stemmte sich mit dem Rücken gegen das Holz. Er drückte mit aller Kraft, doch der Balken blieb unbeeindruckt an Ort und Stelle liegen. Armas drückte noch fester, drückte, bis sein Kopf rot wurde und seine Hände schmerzten, doch es half nichts. Nach ein paar Minuten sackte er schwer atmend in sich zusammen.

4 Sterne
Gedankenfeden - 22.01.2024
hammer

ich bin kein Leser in dem sinne wie mancher in der woche ein Buch liestaber das buch hat mich nicht mehr los gelassenund ich habe es an einem stück gelesen

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