Erzählungen eines Vampirs

Erzählungen eines Vampirs

Zukunftsvisionen


EUR 16,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 254
ISBN: 978-3-99048-133-2
Erscheinungsdatum: 20.07.2015
Die Geschichte rund um die Vampire von Aran und ihre mehr oder weniger menschlichen Gefährtinnen geht in die finale Runde:Auf Schloss Primrose ist der „kalte Krieg“ ausgebrochen. Lilly ist wegen dem herzhaften Biss in Adrians Hals zur Vampirin mutiert und keiner weiß, wie das passieren konnte.
Dublin, Ende des 19. Jahrhunderts

Gedankenverloren wanderte Emma Monroe durch die Straßen Dublins, begleitet von einem einzigartigen Hochgefühl.
Sie hatte es geschafft!
In einer Zeit, wo Frauen an der Hochschule wie Unkraut bekämpft wurden, in einer Branche, die von Männern dominiert wurde, hatte sie sich durchgesetzt. Doch nicht nur das, sie war mittlerweile tatsächlich die gefragteste Tierärztin auf der ganzen Insel!
Und natürlich wusste Emma nur zu gut, welchem besonderen Umstand sie diesen Erfolg zu verdanken hatte.
Begonnen hatte alles vor etwa zehn Jahren, als sie sich beim alten Doc O’Malley als ‚Haushälterin‘ hatte anstellen lassen. Der Doc lebte gut zwei Wagenstunden außerhalb von Dublin und war der ansässige Tierarzt. Er war ein herzensguter Mensch und mit Sicherheit auch ein guter Veterinär, zumindest bevor er sich mit dem Whisky verbündete.
Scheinbar im rechten Moment trat Emma in sein Leben.
O’Malley konnte den Tod seiner Frau und seiner beiden Söhne nicht verkraften und hätte sich wohl zu Tode gesoffen, hätte Emma nicht angeboten, ihn zu unterstützen. Da der Doc ja von irgendwas leben musste und offensichtlich Hilfe gebrauchen konnte, stellte er Emma ein. Und es sollte nicht zu seinem Nachteil sein.
Die junge Miss Emma hatte ein angeborenes Talent im Umgang mit Tieren. Eine einzige Berührung von ihr, ein einziges geflüstertes Wort von Emma reichte aus, um die noch so widerspenstige Kreatur zu zähmen. Nun, der alte O’Malley war vielleicht versoffen, doch er war keineswegs dumm. Selbst im Nebel des Alkohols erkannte er das Potenzial seiner Angestellten. Zudem wuchs ihm die Kleine ans Herz, ja, sie wurde zu einer Art Tochterersatz für ihn.
Immer häufiger nahm er Emma mit zu seinen Patienten, wobei er feststellen musste, dass die Kleine auch einen angeborenen Instinkt bezüglich der Behandlung der Tiere hatte. Bald ließ er Emma alleine schalten und walten und begleitete sie nur noch pro forma. Bis sie ihn eines Tages so sturzbetrunken im Pub antraf, dass sie nicht anders konnte, als alleine zu einem Notfall zu eilen. Von da an musste sie gänzlich auf die Anwesenheit des Docs verzichten.
Emma erfand Ausflüchte, Entschuldigungen, Erklärungen, um den Doc, und nicht zuletzt auch sich selbst, zu schützen. Doch die Bauern wurden bald skeptisch. Außerdem kannte jedermann den alten O’Malley, und auch seine intensive Beziehung zum Whisky.
Und Emma war eben nur eine Frau.
Ein paar Mal ließen sich die Bauern auf ihre Hilfe ein, doch sie vertrauten ihr nicht wirklich. Selbstverständlich bemerkten sie, dass die kleine Miss Emma bei ihrem Vieh wahre Wunder wirken konnte. Ja, natürlich dankten sie ihr die Bemühungen auch, aber stets durch zusammengepresste Zähne. Die starrköpfigen Bauern wollten eine Frau als Veterinär einfach nicht tolerieren. Sie konnten es auf Dauer nicht akzeptieren, von einem Weib beratschlagt, ja sogar belehrt zu werden. Lieber noch ließen sie den ewig besoffenen Doc an ihren Einnahmequellen herumpfuschen, als einer Frau eine gerechte Chance zu geben.
Selbst als der Doc sich, in einem seiner klaren Momente, auf Emmas Seite stellte, und versuchte allen anderen ihre offensichtlichen Qualitäten vor Augen zu führen, wollten die Bauern nichts davon hören. Sie rechtfertigten sich damit, dass Emma nun mal keinerlei amtliche Ausbildung und somit auch gar kein Anrecht auf die Ausübung des Berufes habe. Doc O’Malley kostete dieses Argument nur ein verächtliches Lachen. Am nächsten Tag war er von der Bildfläche verschwunden. Mit ihm sein ganzes Hab und Gut. Und Emma. Ein halbes Jahr später war Doc O’Malley trocken und schuftete besessener als je zuvor in seinem Leben.
Zur gleichen Zeit wurde eine Miss Monroe an der Hochschule für Veterinärmedizin angenommen.
Lautes Geschrei riss Emma aus ihren Gedanken. Als sie aufsah, konnte sie gerade noch erkennen, wie ein Pferd vor einem unsichtbaren Hindernis scheute. Sein uniformierter Reiter wurde abgeworfen im gleichen Moment, als der Pitbull vom Metzger auf die Straße stürmte und unter die Hufe des Pferdes kam. Ehe Emma über die Straße eilen konnte, wurde sie von jemandem zur Seite gezerrt. „Miss, Sie sollten lieber aufpassen …“
„Ich bin Tierärztin!“, unterbrach Emma den Constable. „Ich weiß schon, was ich tue!“ Sie riss sich von dem verdatterten Wachmann los und stürmte auf die beiden Tiere zu. Der Pitbull lag regungslos am Boden, doch er atmete noch. Emma schnappte sich die Zügel des wild um sich tretenden Pferdes, um es unter Kontrolle zu bringen. „Schsch, meine Süße, alles wird gut, ich bin ja hier“, flüsterte sie, für menschliche Ohren kaum hörbar. Augenblicklich hörte die Stute auf zu bocken. Behutsam strich Emma dem Tier über den Kopf und konzentrierte sich auf ihre Arbeit.
Da plötzlich spürte sie seine Anwesenheit in der neugierigen Versammlung um sie herum.
Natürlich war es nicht das erste Mal, dass sie einem von ihnen begegnete. Doch bisher konnte sie selbst unentdeckt bleiben. Keiner hatte ihre Tarnung durchschaut. Noch nie.
Doch dieser hier ließ sich nicht täuschen.
Emma spürte seinen bohrenden Blick im Rücken und wusste, dass er ihr Geheimnis erkannt hatte. Sie konnte nicht anders, sie musste sich umdrehen und der Gefahr ins Auge sehen. Und da stand er, auf der anderen Seite der Straße, und blickte ihr geradewegs in die Augen. Einen Atemzug lang starrten sie einander an. Und genau in diesem winzigen Augenblick hatte Emma plötzlich das Gefühl, dass er nicht nur ihr Geheimnis durchschaut hatte, sondern auch ihr Dilemma. Er sah sie an, als würde er tatsächlich verstehen. Fast unmerklich nickte der Fremde ihr zu und im nächsten Moment war er auch schon in der Menge verschwunden.
Sie wandte sich wieder um und versuchte sich erneut auf die Arbeit zu konzentrieren. Emma, Emma, du musst besser aufpassen!, schalt sie sich in Gedanken selbst. Noch viel, viel besser!
„Sorge dich nicht, Emma, so wie du uns hilfst, werden wir auch dir helfen!“, hörte sie die Stimme in ihrem Kopf sprechen. „Dein Geheimnis ist sicher bei uns!“
Emma lächelte die Stute kaum merklich an und drückte dankbar ihren Kopf an die Blesse des Tieres.
„Kümmere dich nur zuerst um den Köter. Ich fürchte, ich hab den armen Tropf am Schädel getroffen!“ Die Stute schnaubte kurz und stupste Emma sanft mit dem Kopf an. „Ich werde mich auch nicht mehr von der Stelle rühren!“
„Ich danke dir, meine Süße“, flüsterte Emma dem Pferd ins Ohr und widmete ihre Aufmerksamkeit dem Hund.




Kapitel 1

Auf Schloss Primrose herrschte Ratlosigkeit. Zwei Wochen waren vergangen und noch immer tappten Adrian, Lilly und Gabriel im Dunkeln. Wenn auch das halbe Rätsel im Prinzip schon gelöst war. Denn eines war dem Dreiergespann bereits nach kürzester Zeit schmerzlich bewusst geworden. Nach diesem herzhaften Biss in Adrians Hals blieb nur noch eine logische Schlussfolgerung übrig.
Lilly war ohne jegliche Vorwarnung zum Vampir mutiert!
Ja, das stand mittlerweile außer Frage. Bestätigt wurde diese Theorie durch die Eigenschaften, die sie die letzten beiden Wochen zur Schau gestellt hatte. Diese waren allesamt definitiv nicht menschlicher Natur. Tagtäglich hatte Gabriel dieses Gefühl von Déjà-vu. Nun, es waren natürlich nicht genau die gleichen Vorfälle. Doch alles in allem hatte er den Eindruck, das alles schon einmal gesehen zu haben. Und zwar bei Betty.
Wenigstens hatten sie, dank Gabriel, diesmal gleich die richtigen Schlüsse gezogen. Wenngleich Gabriel die Tatsache, dass Betty ebenso die Symptome einer Umwandlung gezeigt hatte, nicht wirklich über die Lippen brachte. Als Schlaumeier allseits bekannt, konnte er dieses Wissen zum Glück für sich behalten. Denn nicht nur hatte Dario ihn um Diskretion gebeten, er wollte auch vermeiden, dass Lilly sich falschen Hoffnungen hingab. Immerhin war ja noch nicht bestätigt, dass Betty tatsächlich konvertiert wurde. Wie denn auch, wo sie doch weder gebissen wurde, noch gebissen hatte. Aber andererseits, … nun ja, das eben war auch das Problem, das sie gegenwärtig zu lösen hatten. Denn die wichtigste Frage wollte sich trotz aller Bemühungen nicht klären lassen.
Warum!
Warum überhaupt war Lilly zu einem ihrer Rasse mutiert? Wie um alles in der Welt konnte es nur so weit kommen? Diese eine Frage stellten die drei sich unaufhörlich. Doch keinem wollte eine passende Antwort einfallen. Wie sie es auch drehten und wendeten, es ergab einfach keinen Sinn.
Ein Mensch musste zuerst von einem Vampir gebissen werden, ehe er die Umwandlung durch einen Biss seinerseits, vorzugsweise bei dem Vampir, der die Kontaminierung vorgenommen hatte, zur Vollendung brachte. So und nicht anders lautete die Überlieferung. Aber eben genau dieses Ereignis hatte nie stattgefunden, ergo konnte Lilly eigentlich gar nicht umgewandelt sein, was sie aber ohne Zweifel war!
Ganz egal, in welchem Licht sie die Angelegenheit auch betrachteten, die sprichwörtliche Katze biss sich unaufhörlich in den eigenen Schwanz!

Wie an jedem der letzten vierzehn Tage, so hatten die drei sich auch an diesem Tag getroffen. Sie hatten sich in der Bibliothek eingefunden, um einen weiteren Tag sozusagen zu vergeuden, indem sie das Unmögliche möglich machen wollten: der Ursache allen Übels auf den Grund zu gehen.
Gabriel stand an einem der großen Fenster, mit Blick auf den See und starrte in die beginnende Abenddämmerung. So hatte es zumindest den Anschein. Doch in Wahrheit betrachtete er Lilly und Adrian. Die Reflexion des Fensterglases zeigte ein deutliches Abbild der beiden.
Lilly lag auf der Récamiere vor einem der kleineren Seitenfenster und starrte gedankenverloren an die Decke. Ein wenig weiter zu ihrer Rechten saß Adrian in dem Fauteuil, seinen nachdenklichen Blick fest auf Lilly geheftet. Ein Stückchen hinter ihm loderte ein schwaches Feuer im Kamin, freilich nur um Lillys Sehnsucht nach Vertrautem nachzukommen. Die einzige andere Lichtquelle im Raum war eine uralte Stehlampe, die etwas im Hintergrund zwischen Lilly und Adrian ihr mattes Licht von sich gab. Auch sie war nur eingeschaltet, um Lillys Wohlbefinden zu schmeicheln. Als Vampir war sie nun ja nicht mehr angewiesen auf derartige Hilfsmittel.
Weder Adrian noch Lilly machten ihre Gedanken einem anderen im Raum zugänglich. Ganz wie auch Gabriel selbst. Irgendwie schien es angebrachter, die eigenen Gedanken auch für sich zu behalten. Oder vielleicht hatten sie sich auch nur schon einmal zu oft über dieses Dilemma ausgetauscht, und das nicht nur mental – was übrigens seit der Umwandlung auch zwischen Lilly und Gabriel möglich war. Gabriel lächelte im Stillen über das, was ihm das Fensterglas offenbarte, was aber niemand offen zugeben würde: Im Prinzip beobachtete jeder jeden.
Denn die Zimmerdecke, welche Lilly so inbrünstig anstarrte, war mit einer Unzahl von kleinen Spiegelscherben übersät, eine von Lillys neuesten Errungenschaften in Sachen Wohnraumgestaltung. Angeblich sollte sich das Feuer des Kamins darin widerspiegeln, als würde der Himmel voller Sterne leuchten. Zugegeben, in gewisser Weise sah es tatsächlich so aus.
Oder hatte Lilly vielleicht doch ganz andere Motive gehabt?
Gabriel schüttelte kaum merklich den Kopf. Im Grunde genommen konnten ihm ihre Beweggründe doch völlig egal sein. Aber in letzter Zeit wurde hierorts einfach alles infrage gestellt. Egal wie alltäglich und sonst normal etwas war, bestimmt wurde es neuerdings von irgendeinem der drei sofort skeptisch hinterfragt. So war es auch bald Routine geworden, ihr eigenes Verhalten gegenseitig in Zweifel zu ziehen. Bald benahmen sie sich wie drei völlig paranoide Spione, die sich gegenseitig der Doppelspionage beschuldigten.
Nur würde das natürlich niemand zugeben, nicht offen!
Dabei war ihr Verhalten doch nur allzu natürlich, angesichts dieser seltsamen Umstände. Ja, irgendwie mussten sie sich doch ablenken, von ihrer misslichen Lage. Schließlich konnten sie nicht rund um die Uhr aneinanderkleben und philosophieren. Die Nerven aller Beteiligten lagen ohnehin schon blank. Da mussten sie sich wenigstens ab und an ein wenig Abstand gönnen. Und in diesen Pausen musste man sich eben beschäftigen – um auf andere Gedanken zu kommen. Und da hatte halt jeder so seine eigene Methode.
An Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Zumindest die ersten Tage. Auch wagte es niemand, sich zu lange oder zu weit vom Schloss zu entfernen. Adrian hatte Angst um Lilly, diese sah sich selbst bloß als Gefahr für alles und jeden, und Gabriel befand, sie seien in diesem Zustand schlicht zu verwundbar. So entstand diese Keiner-traut-keinem-Situation.
Aber sich selbst traute auch keiner über den Weg!
Wohl aus reinster Verzweiflung entwickelten sie schließlich diese täglichen Treffen. Den Rest des Tages versuchten sie dann sich so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Was wiederum gar nicht so einfach war. Denn, trotz seiner gut zwanzig Räume, sowie angrenzendem Park und Wald, war es auf Primrose noch nie so unglaublich eng gewesen. Und das, obwohl sie nur zu dritt waren!
Gabriel warf einen letzten Blick auf die Reflexion seiner beiden Leidensgenossen, ehe er sein Augenmerk schließlich doch auf den abendlichen See richtete. Er fühlte sich tatsächlich erschöpft.
Nun, rückblickend war dies eigentlich auch nur wenig verwunderlich.
„Cäsar und Kleopatra“ hatten seine Talente maßlos ausgebeutet, die letzten beiden Wochen!

***

Adrian konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Jedes Mal, wenn er mit Lilly zusammensaß, hatte er den unaufhörlichen Drang, sie anzustarren. Als würde sich ihm das Geheimnis dadurch offenbaren.
Die ersten Tage nach dem ‚Vorfall‘ gab sie ihm nicht allzu oft Gelegenheit dazu. Sie mied ihn, so gut sie nur konnte. In jeder Hinsicht. Nachdem der anfängliche Schock dann abgeklungen war, verdonnerte sie ihn zum Sündenbock. Da Adrian nun einmal der Vampir von ihnen beiden war, gab sie ihm die Schuld daran, sich nie wieder an Steak und Pizza erfreuen zu können. Nie wieder Chardonnay oder Prosecco genießen zu können und so weiter und so weiter.
Adrian jedoch war sich keiner Schuld bewusst. Für ihn waren Lillys Essprobleme noch das geringste aller Übel. Und das sollten sie, seiner Meinung nach, auch für Lilly sein. Die Frage lautete hier nicht Chardonnay oder Blut, sondern vielmehr Leben oder Wahnsinn. Außerdem und überhaupt hatte ja sie ihn gebissen, und nicht umgekehrt!
Also konnte er beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum sie ihn für alles verantwortlich machte!
Schier endlos hatten sie sich über dieses, zugegeben völlig sinnlose, Thema gezankt. Bis Lilly von einem Moment zum nächsten wortlos kapitulierte. Nun, nicht ganz wortlos. Die letzten Worte, die sie an ihn gerichtet hatte, klangen nur zu deutlich nach in seinem Kopf.
„Warum sollte ich all meine Energie an einem einzigen Tag verschwenden, wenn ich doch jetzt die Ewigkeit habe, um dir das Leben zur Hölle zu machen!“
Die boshafte Bestimmtheit, mit der sie ihm diese Worte hingeschmettert hatte, ließen seine Nackenhaare noch immer zu Berge stehen. Ja, selbst er, der abgebrühte Krieger, hatte es dank dieser Drohung ein klein wenig mit der Angst zu tun bekommen. Im Stillen seufzte Adrian.
Die Ewigkeit, genau das wollte er eigentlich vermeiden!
Nun, so grausam, wie es klang, war es gar nicht gemeint. Seine Liebe galt unangefochten seiner Gefährtin. Er hatte sich zu ihr bekannt, darüber gab es keinen Zweifel. Doch die Lilly, die er so sehr liebte, war im Moment eingeschlossen in ihrem tiefsten Inneren, bewacht von ihrer unnahbaren, zänkischen, zickigen, einfach nur dauernd nervenden anderen Seite.
Und diese Lilly fand Adrian einfach nur mühsam!
Es hatte ihn ein gutes Stück Stolz gekostet, sich selbst einzugestehen, dass er im Prinzip aus dem gleichen Muster gestrickt war. Nicht dass er sich selbst als zänkisches Weibsbild ansah, nichts lag ihm ferner. Freilich war Lilly eine verwöhnte Prinzessin, die noch dazu mit weibischer Sturheit gesegnet war. Dennoch gab es gewisse grundlegende Parallelen, in ihrer beider Verhaltensmuster. Sie beide waren es gewohnt, den Ton anzugeben. Keiner von beiden nahm ein Blatt vor den Mund, und gewiss machte keiner einen Rückzieher, wenn er von der Richtigkeit seiner Meinung überzeugt war. Genau deshalb gerieten Lilly und er wohl auch immer wieder verbal aneinander.
Und genau darum war er auch froh, dass ihre Liebe sozusagen ein Ablaufdatum hatte!
Oder wohl eher gehabt hatte.
Ja, so seltsam es auch klang, Lillys Sterblichkeit hatte Adrian in gewisser Weise beruhigt. Diese Frau zu lieben bedeutete jeden Tag aufs Neue um ihr Herz kämpfen zu müssen. Tagtäglich neu in ihr Innerstes vorzudringen und sie von seiner Liebe überzeugen zu müssen. Einen Kampf, den er nur allzu gerne ausfocht, war es die Mühe doch allemal wert, die innere Lilly aufzuscheuchen. Nun, für die nächsten sechzig, siebzig Jahre jedenfalls. Und wenn sie dann ihren finalen Kampf ausfechten musste, würde auch er seinen letzten Kampf bestreiten. Für Adrian eine der romantischsten Vorstellungen überhaupt.
Doch die Aussicht auf Ewigkeit ließ die Sache plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen!

***

Lilly fühlte sich restlos überfordert. Sie war frustriert, enttäuscht, wütend, ängstlich, euphorisch, apathisch und zutiefst erschüttert. Zumeist alles zur gleichen Zeit. Ihre Welt, ihr ganzes Leben war aus den Fugen geraten. Und das bereits zum zweiten Mal innerhalb nur weniger Wochen.
Doch diesmal war es endgültig vorbei.
Sie wurde ihrer Menschlichkeit beraubt und verdammt zum ewigen Leben. Ja, vorausgesetzt, man glaubte alles, was ihre neuen Artgenossen so erzählten, dann würden freilich auch Vampire sterben. Es würde bloß vier-, fünftausend Jahre länger dauern als üblicherweise ein Menschenleben.
Was für ein Albtraum!
Lilly fand ihr neues Leben bereits nach nur zwei Wochen frustrierend langweilig. Was nutzte ihr denn schon die Langlebigkeit, wenn sie nichts zu tun hatte. Sie konnte nicht ins Kino, nicht zum Sport, ja noch nicht einmal ein Einkaufsbummel war drin. Sie war eine tickende Zeitbombe, und wer weiß, für wie lange sie das bleiben würde. Sollte sie die nächsten Jahrtausende vielleicht mit Fernsehen und Schalstricken verbringen?

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