Die Verleugnung

Die Verleugnung

Teil 1

Jan Sinning


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 138
ISBN: 978-3-95840-892-0
Erscheinungsdatum: 08.01.2020
Er besitzt die Gabe, sich in die Gedankenwelt anderer Menschen zu versetzen - Segen oder Fluch? Was ihn vor allem zu schaffen macht, ist sein zunehmender Realitätsverlust - was ist Wahrheit, was ist Illusion? Verliert er sich am Ende gar selbst?
Kapitel 6
Angst

Was ist Dunkelheit? Was ist Angst und was ist Hass?
Mit allen diesen Fragen musste ich mich beschäftigen, um sie zu begreifen, um die Mörder, Vergewaltiger, Attentäter und was sie alle waren, zu begreifen.
Jeder fühlt, denkt, handelt aus einem bestimmten Grund, und diesen herauszufinden, hängt davon ab, ob man die Angst und den Hass der Person versteht. Diese Gefühle treffen in den Gedanken und Erinnerungen einer Person aufeinander und werden komprimiert, sie werden komprimiert zu Wesen, wie sie zum Glück in der Realität nicht existieren. Sie sehen meist anders aus und doch gleich; der größte Unterschied ist die Größe; je größer, umso mehr Kontrolle haben der Hass und die Angst über diese Person … das Wesen, das ich an jenem Tag sah, war das größte Wesen, das ich je gesehen hatte und je sehen sollte.
Dieses Wesen war circa vier Meter groß und komplett schwarz, sein Gesicht war verbrannt, genauso wie der komplette restliche Körper. Seine Mundwinkel waren nach unten gerichtet und seine Augen zusammengekniffen. Sein Gesicht kam langsam näher an meines heran, als würde es mich von der Nähe betrachten wollen oder als ob es mir etwas Wichtiges sagen wollte; etwas, was man sich von Angesicht zu Angesicht sagen muss. Ich ballte meine Hände zu Fäusten zusammen, um meine Angst zu unterdrücken, das habe ich mir in den Gedankenwelten angewöhnt, da es sich so anfühlt, als würden auch die eigenen Emotionen in diesen Welten verstärkt werden, doch waren sie noch nie so stark wie hier drinnen. Das Wesen streckte seinen Arm nach mir aus und fasste an meine Schulter; seine Hand war vertrocknet, faltig und eiskalt.
Ich bekam eine Gänsehaut … ich dachte darüber nach, warum dieses Wesen keinen Namen hatte, warum nichts einen Namen hatte. Warum gab ich alledem keinen Namen? Wieso konnte ich mich nicht daran erinnern, wie der Kommissar hieß? Hatte er überhaupt einen Namen? Ich nannte ihn immer nur „Kommissar“. Wieso hatte ich mich nie gefragt, wie er hieß?
Das Wesen kam mit seinem Gesicht direkt neben meins und flüsterte mir ins Ohr, während aus seinem Mund eiskalte Luft kam: „Das Ende.“ Seine Stimme klang dünn und doch unglaublich tief.
„Das Ende wovon?“ – Fragen über Fragen, doch es gab keine Antworten darauf, keine Antworten auf gar nichts … nur Angst, Angst und Verwirrung.
„Ich darf keine Angst haben, Angst ist Schwäche“, sagte ich zu mir. „Keine Angst!“, schrie ich aus Leibeskräften und voller Zorn. „KEINE ANGST!!!“
Das Wesen entfernte sich langsam von mir, drehte sich um und ging in die Dunkelheit. Es sagte immer wieder leise: „Das Ende, das Ende, das Ende, das Ende, das Ende.“ Es klang etwas fassungslos, mit jedem Wiederholen etwas mehr. „Das Ende wovon?“, rief ich dem Wesen hinterher. „Das Ende wovon?!“
Es war nun komplett in der Dunkelheit verschwunden.

Ich war alleine, ich war komplett alleine in der Dunkelheit, nur ein leichter Lichtkegel war da, wo ich stand. Vielleicht hätte ich diese Ruhe genießen sollen, doch war sie mir nicht ganz geheuer. Alles wirkte falsch hier; nichts, was Sinn für mich ergab, und das Schlimmste, ich hatte keine Kontrolle. Mir waren die Hände gebunden. Ich wusste nicht, was ich nun tun sollte, ich stand einfach da, bis mir ein Gedanke kam: Einfach weitergehen. Ich sollte einfach weiterlaufen; was würde es jetzt auch bringen, die ganze Zeit hier zu stehen und darüber nachzudenken, was hier los war? Also lief ich einfach los, hinein in die Dunkelheit.
Alles war sehr kühl und ich konnte nichts sehen, nur komplette Finsternis, in der ich lief, dafür waren meine anderen Sinne viel stärker. Ich roch verdorbenes Fleisch und Rauch, ich hörte ein leises Flüstern, ein Flüstern, das sagte: „Manchmal muss man verlieren, um zu gewinnen.“ Diesen Satz wiederholten die Stimmen immer wieder, sie klangen sehr hell und leise, manche waren dunkler als andere, doch alle sagten den gleichen Satz, manchmal muss man verlieren, um zu gewinnen. Wieso dieser Satz? Keine Ahnung. Es war ein Rätsel, warum mir Stimmen aus der Dunkelheit immer wieder so einen Spruch sagten, dass Stimmen aus der Dunkelheit so einen Satz als so wichtig empfanden.
Wahrscheinlich bedeutete er mehr, als ich erfassen konnte, doch wieso sagte man mir etwas, was ich eh nicht verstehen konnte?
Ich stellte, während ich blind herumlief, viele Theorien auf, was diese Sätze bedeuten sollten; eine für mich war die wahrscheinlichste: Um zu gewinnen, um glücklich zu werden, muss ich sterben, ich muss halt verlieren.
Wahrscheinlich war diese Vermutung auch komplett falsch, doch erschien sie für mich an logischsten.
Durch das Laufen konnte ich mich irgendwie beruhigen, trotz der Stimmen und trotz des unglaublich widerlichen Geruches konnte ich wirklich auf irgendeine Art entspannen. Es klingt für manch einen vielleicht etwas komisch, doch wenn ich Angst hatte oder so, nahm ich mir gerne einen ruhigen Moment und dachte an meine erste Erinnerung, sie war nämlich Hoffnung; die Hoffnung, mich irgendwann wieder an mein ganzes Leben erinnern zu können und eventuell daran, warum mein Gedächtnis bis zu einem bestimmten Zeitpunkt weg war. Doch als ich es diesmal versuchte, war es nicht meine erste Erinnerung, die ich sah, sondern es waren Teile meines Traums. Ich schloss meine Augen und es spielten sich diese Bilder ab, es waren sozusagen Standbilder, die sich hintereinander reihten.
Das erste war das eines kleinen Jungen, er lag weinend in der Ecke, seine Haare waren braun und sein Gesicht verweint. Seine Augen waren blutunterlaufen und ein Mann, komplett in Schwarz gekleidet, griff nach ihm, sein Gesicht konnte ich leider nicht erkennen. Auf dem Boden lagen kaputte Spielzeuge und an der Wand hingen von dem kleinen Jungen gezeichnete Bilder. Die Bilder waren nur schwer zu erkennen, doch konnte ich ein weinendes Kind ausmachen, daneben hingen Bilder von Blumen und Wiesen, doch waren die mit dickem Schwarz durchgestrichen.
Hiernach kam das Standbild einer Frau, sie war blond und hatte ein schmales Gesicht, auch ihre Augen waren komplett verweint. Sie zeigte irgendwohin und schrie, doch ich konnte nicht sehen, wohin. Nur in der Reflexion ihrer großen blauen Augen konnte ich erkennen, dass sie auf etwas großes Schwarzes zeigte, das etwas in den Armen hielt bzw. wahrscheinlich packte. Die Frau war sehr dünn, noch um einiges dünner als ihr Sohn.
Im letzten Standbild war die Frau zu sehen, auf dem Bauch liegend, beide Hände gefesselt. Über ihr stehend der schwarz gekleidete Mann, wie er eine Waffe auf sie richtete. Mehr war bei dem letzten Standbild nicht zu sehen.
Ich öffnete meine Augen und sah etwas, was nicht komplett in Dunkelheit gehüllt war. Es war ein weiteres Haus, doch war es kein gewöhnliches Haus, es war ein Haus, das gar nicht an diesem Ort sein konnte, es war ein Haus, das in diesem Kopf nicht vorhanden sein konnte.
Es war mein altes Haus, in dem ich bis zu meinem 23. Lebensjahr gewohnt hatte. Wieso war dieses Haus in Cassidys Gedächtniswelt?
Ich lief langsam auf das Haus zu, durch den Vorgarten mit seinen rosa Tulpen und der leicht gräulichen Wiese. Mein Vater hatte dieses Gärtnerzeug nie wirklich gekonnt, meine Mutter dafür umso besser, doch hatte sie sich nur um die Blumen und Gebüsche in den Gärten gekümmert, was man auch sofort gesehen hatte.
Das Haus war sehr alt, was man ihm auch direkt ansah, die Wände waren schon etwas vermodert und der Schornstein oben auf dem Dach war halb zerbrochen, die Hälfte der Ziegelsteine lagen nicht mehr da, wo sie sollten, und trotzdem fühlte es sich immer wieder gut an, in diesem Haus zu sein, was ich von meinen Eltern nicht behaupten kann. Sie waren zwar nicht die schlimmsten Eltern, doch gut behandeln ist etwas anderes, ich war für sie nicht mehr als der Junge, der aufräumte, spülte, das Essen weggefressen hat, obwohl ich wirklich sehr dünn zu der Zeit war, und der natürlich mehr Geld gekostet hat, als er eingebracht hat.
Dies mussten sie mir natürlich täglich unter die Nase reiben, was für ein Scheißsohn ich doch wäre.
Ich hätte sie vielleicht fragen können, warum ich mich an nichts vor meinem 19. Lebensjahr erinnern konnte, doch was hätte ich für eine Antwort bekommen? Wahrscheinlich irgendein respektloser Scheiß, was für ein Scheißsohn ich doch war.
Ich hatte sie, seitdem ich ausgezogen war, nicht mehr gesehen, hatte ich deshalb Schuldgefühle? Die Antwort ist simpel, nein.
Ich ging zur Haustür und öffnete sie langsam, ich blickte in das Haus und sah, dass alles zerstört war, kein Stein stand mehr auf dem anderen.

„Angst ist das Produkt unserer Fantasie, doch warum können wir sie dann nicht kontrollieren? Sie ist eines der wenigen Gefühle, die gleichzeitig real und surreal sein können. Trotz dieser Tatsache ist es ein ganz normales Gefühl, unkontrollierbar und nicht greifbar.“

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Die Verleugnung

Jenny Kremer

WeltenRetter

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