Die Söhne des Windes

Die Söhne des Windes

Der Opferaltar

A. Schaefer


EUR 20,90
EUR 16,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 322
ISBN: 978-3-99146-223-1
Erscheinungsdatum: 17.08.2023
Carrera ist kein kleines Königreich und für seine Herrscher schwer zu halten. Denn wenn selbst die Götter sich in Machtkämpfen verlieren, fällt es den einfachen Leuten nicht leichter. Und dabei sind es Sterbliche, die die Dunklen Magier aufhalten sollen.
Prolog


„SIE SIND IN DER STADT! FLIEHT! RENNT UM EUER LEBEN!“
Mehrfach wurde der Hohepriester der Drachenmagier unsanft angerempelt und geriet ins Straucheln. Immer wieder gelang es ihm, auf den Beinen zu bleiben und weiter zu rennen. Er war fast eins neunzig groß und schlank. Sein giftgrünes Haar fiel ihm mit einer Art beiläufiger Eleganz in die smaragdgrünen Augen. An einem seiner spitzen Ohren hing ein zwei Zentimeter großer Ohrring, der die Form einer Feder hatte. Er trug ein ärmelloses, weißes – nun verdrecktes – Hemd und eine ebenso weiße Hose. Schuhe hatte er keine an. Den durch den Kampf zerrissenen, grünmelierten Umhang der Drachenmagier hatte er irgendwo fallen lassen. Um seinen Oberarm schlang sich ein goldener Reif, in dessen Windungen sich ein schlangenförmiger Drachenkörper widerspiegelte.
Er eilte gehetzt durch die zerstörten Straßen. Fast alle Gebäude, an denen er vorüberkam, waren eingestürzt. Türen hingen aus den Angeln. Scheiben waren eingeschlagen. Er hatte aufgehört zu zählen, an wie vielen ermordeten, geliebten Menschen er vorbeigekommen war. Tränennasse Spuren zeichneten sich auf seinem jungwirkenden hübschen Gesicht ab.
Ein ohrenbetäubender Knall ertönte, als ein gigantisches Stück der Stadtmauer weggesprengt wurde. Dark, der Hohepriester, wandte den Kopf panisch und blickte zurück. Er konnte das Schwarze Heer vorrücken sehen und die Kreaturen der Finsternis. Er erschauderte. Plötzlich blieb er mit dem Fuß hängen und stürzte hart, wobei er sich die Hände aufschürfte. Er sah sich nach der Ursache um und bereute es sogleich wieder. Dark war über die entstellte Leiche seines Schülers Tai gestolpert. Die Tränen und den Ekel niederringend raffte er sich auf und rannte geblendet von Tränen weiter. Allerdings konnte er es nicht verhindern, dass sich Grauen erfüllte Vorahnungen in seinem Kopf bildeten: Was, wenn ich zu spät komme? Was, wenn ich ihn nicht retten kann? Was, wenn ich ebenso versage wie bei Tai? Nur sehr langsam und mühevoll konnte er diese Gedanken verdrängen. Er musste sich zusammenreißen. Unter keinen Umständen durfte er zulassen, dass solche Vorstellungen in seinem Kopf weiterhin Gestalt annahmen.
Als er schließlich bei seinem Häuschen angelangt war, welches sich tief im Zentrum der Magierstadt befand, blieb er wie angewurzelt stehen. Ein Angstschauer lief ihm über den Rücken. Die Tür war zertrümmert worden.
„Nein – bitte nicht!“, hauchte er.
Panik packte ihn erneut. Dennoch brachte er seine Furcht mühsam unter Kontrolle und betrat vorsichtig sein Haus. Die Dielen über ihm knarrten, also musste jemand oben sein. Er hoffte inständig, dass es nur Joaquin war und keines dieser Ungeheuer, die die Stadt der Magier in Sugiawa überfielen. Ungeheuer, gegen die kein Zauber half, wie er und seine Mitstreiter verlustreich erfahren mussten, als sie versucht hatten, die Stadt vor dem Ansturm des Schwarzen Heeres zu verteidigen. Nun kämpften nur noch wenige Verzweifelte. Der Rest der Menschen hatte Hals über Kopf die Flucht ergriffen. Einige hatten sogar ihre Kinder vor lauter Angst vergessen. Wie die meisten hatte er die Stadt für verloren erklärt. Nun versuchte er zumindest das Leben seines Sohnes zu retten. Er glitt lautlos die Stufen hinauf. Im oberen Stockwerk befand sich der Eingang zu Joaquins Zimmer. Von dem starken Holz der Tür waren nur Holzsplitter übriggeblieben. Im Rahmen befanden sich üble Risse und Kratzer. Das Brett, was einmal die Zimmertür gewesen war, hatte es mit solcher Kraft weggeschleudert, dass es an der gegenüberliegenden Wand in tausend Stücke zerschellt war. Er ließ den Blick mit einer dunklen Vorahnung durchs Zimmer schweifen. Das Mobiliar des kleinen Raumes war dem Erdboden gleichgemacht worden. Sein Sohn Joaquin saß lachend auf der Erde zwischen den Trümmern seines einst bescheidenen, aber schönen Zimmers. Er klatschte nach einem unverständlichen Muster in die Hände, was ein langes knochendürres Wesen nach dem Takt der Hände tanzen ließ.
Trotz des Grauens, welches er eben noch gesehen hatte, entlockte es dem Drachenmagier ein Lächeln.
Joaquin drehte ihm den Kopf zu und strahlte. „Er ist lustig, nicht?“
Sein Vater schüttelte seufzend den Kopf. Wann würde der Junge endlich lernen, dass nicht alle Besucher Freunde und Spielkameraden waren? Er ging auf ihn zu und hob ihn auf die Arme. Der Junge hörte auf zu klatschen und das Knochenwesen brach vor Erschöpfung zusammen. „Warte nur Dark“, zischelte es mit den letzten Atemzügen. „Du und dein Bastard, ihr entkommt uns nicht … die Stadt ist vollständig umzingelt … das Schwarze Heer ist überall … überall … auch in der Luft … und unter der Erde … überall … sogar in dir bekannten Menschen …“
Der Drachenmagier wandte sich von dem toten Wesen ab und wollte durch die Tür entschwinden. Doch dort trat gerade ein Trupp Soldaten ein, die alle durch schwarze Rüstungen gepanzert waren, auf denen der rote Salamander prangte. Das Zeichen von Sombra, dem Gott des Hasses und der Finsternis, dem Gebieter über das Schwarze Heer.
Dark wich zum Fenster zurück. Doch von dort kletterten gerade weitere Skelette herein. Die dünne, bleiche Haut war fest über die durchschimmernden, schwarzen Knochen gespannt. Sie saßen in der Falle.
Hilf mir Veneno, schrie der Drachenmagier gedanklich seinem Freund zu.
Ein Bruchteil einer Sekunde verging, dann wurde das Dach mit Ohren betäubendem Getöse fortgerissen. Die Anhänger des Herrn der Finsternis wichen panisch zurück, als ein riesiger geschuppter Kopf über ihnen auftauchte. Der gigantische, giftgrüne Drache riss das Maul auf und verschlang Dark und dessen achtjährigen Sohn. Er stieß sich so heftig von dem Haus ab, um in die Lüfte zu kommen, dass es in seine Einzelteile zerfiel. Er flog bis zu einem Plateau in der Nähe und setzte dort behutsam auf. Nachdem der Drache sich vergewissert hatte, dass niemand in ihrer unmittelbaren Nähe war, legte er den Kopf auf den kargen Fels und öffnete sein Maul. Dark und Joaquin kletterten an seinen mannshohen Reißzähnen vorbei ins Freie. Dark trat an den Rand des Plateaus und blickte auf die brennende Magierstadt herab. Seine grünen Augen sahen verbrannte Felder, zerstörte Häuser, flüchtende Menschen. Und all das brachte sein Herz zum Weinen. Es zog sich schmerzhaft zusammen, bis er keine Luft mehr bekam und glaubte, ersticken zu müssen. Ein endloser Schwall mit Tränen rann über sein von blutigen Kratzern entstelltes Gesicht. Er spürte eine kleine Hand, die sich an seiner festhielt, und blickte zu seinem Sohn hinunter. Er fiel neben ihm auf die Knie und umarmte den Jungen fest.
„Vater, was hast du denn?“, fragte Joaquin verwundert, denn noch immer begriff er nicht den Ernst der Lage, noch immer war alles für ihn nur ein Spiel.
Der giftgrüne Drache Veneno, der seinen Herrn leicht mit der Nase anstupste, hob plötzlich abrupt den geschuppten Kopf. Dark, durch ihn gewarnt, wischte sich die Tränen fort und folgte dem Blick des Drachens.
Drei schwarz gekleidete Gestalten waren in der Mitte des Plateaus erschienen. Sie schlugen fast gleichzeitig die Kapuzen ihrer Umhänge zurück und Dark erstarrte, als er die Frau erkannte. Es war niemand anderes als Selina, die Letzte, die er zur Priesterin ausgebildet hatte. Ihr langes, eisblaues Haar umrahmte ihr zartes Antlitz. Ihre nun mitleidlosen, blauen Augen bohrten sich in die seinen. Nichts an ihr erinnerte mehr an das schüchterne, hilfsbereite Mädchen, das er vor acht Jahren unterwiesen hatte.
Der Mann, der die Front des Trios bildetet, war ihm gänzlich unbekannt. Er war gut zwei Meter groß, hatte pupillenlose, schwarze Augen und ein mörderisches Lächeln auf dem blassen Gesicht.
Der Dritte im Bunde war offenbar ein Tiermensch. Er hatte buschige, luxähnliche Ohren und Schnurrhaare. Sie zierten sein leichenbleiches Gesicht, während die gelben Augen boshaft hervorstachen. Sein kurzes, zerzaustes Haar war schwarz wie die Nacht.
„Wir fordern Euch auf, Eure Schuld zu bezahlen, Dark, Hoher Priester der Drachenmagier und Anführer des Korps der Drachen“, sagte der große Mann mit triefendem Spott. Dennoch war es eine unmissverständliche Aufforderung, der Dark schleunigst nachkommen sollte, wenn er noch einen Morgen erleben wollte.
„Wer seid Ihr, dass Ihr es wagt, irgendwelche Forderungen an mich zu stellen? Gebt Euch zu erkennen!“, forderte der Drachenmagier den Fremden heftig auf. Doch dieser grinste nur unbeeindruckt und kam einen Schritt auf den Drachen, seinen Reiter und dessen Sohn zu. Joaquin machte eine schnelle –, für alle Anwesenden – unvorhersehbare Dummheit. Er stieß seinen Vater mit einem kräftigen Stoß seiner fast grenzenlosen Magie über den Rand der Klippe. Dark war so überrascht, dass er nicht mal schreien konnte. Sein Blick bohrte sich in die traurigen Augen seines einzigen Sohnes, der nur noch ein Lebewohl für ihn auf den stummen Lippen hatte. Veneno tat genau das, was der Junge sich erhofft hatte – er sprang hinter seinem Herrn die Klippe hinunter.
Joaquin wandte sich wieder den drei Ankömmlingen zu. „Ihr wart einer vom schönen Volk!“, sagte er und blickte den Mann mit den leeren, schwarzen Augen an. Dann fiel sein Blick auf den Tiermensch. „Und Ihr wart einmal ein reicher Gutsbesitzer, bis zu einem verheerenden Brand, der Euch alles nahm – Macht, Besitz, … Familie.“ Zum Schluss wandte er sich an die junge Frau. „Eure Augen sagen mir nur, dass ich Euch kenne“, sagte er schließlich verwirrt und zugleich neugierig.
„Wer wir sind, spielt keine Rolle“, erwiderte der Tiermensch knurrend. „Du wirst jetzt mit uns kommen, um die Schuld deines Vaters zu bezahlen.“
„Einverstanden!“, erwiderte Joaquin und grinste verschmitzt. Selina hob überrascht den Kopf. „Wenn Ihr könnt?“
„Was soll das heißen, wenn wir können?“, lachte die Bosheit eines Elben, dessen Seele den Dämonen zum Fraß vorgeworfen und nur durch ein Wunder unbeschädigt geblieben war. Aber das wusste er nicht. Er wusste auch nicht einmal seinen wahren Namen. Er kannte nur den, mit dem man ihn immer rief: Marek – Meister der Vampire. Der Name bedeutete nichts weiter als willenlose Puppe und genau das war er auch, willenlos, ein Diener für die Ewigkeit.
Der Tiermensch machte einen Satz, vor dem kein Mensch hätte ausweichen können. Doch das brauchte Joaquin auch gar nicht, denn er klatschte wieder einmal in die Hände. Das dunkle Wesen erstarrte in der Luft. Selina und Marek kniffen misstrauisch die Augen zusammen, während der Junge ein zweites Mal in die Hände klatschte. Der ungläubig und entsetzt blickende Tiermensch begann wie eine Marionette wild herumspringend nach dem Takt von Joaquins Händen zu hechten. Seine beiden Kameraden konnte nicht mehr an sich halten und brachen in brüllendes Gelächter aus.
Währenddessen hatte Veneno seinen Herrn aufgefangen und war zum Plateau zurückgeflogen. Er spreizte die Glieder seiner rechten Klaue und packte den Jungen im Flug. Dieser lachte immer noch und statt laut vor Angst zu schreien, rief er begeistert: „Schneller! Höher! Nun mach schon, Veneno!“
Während der Drache so schnell wie möglich Abstand zwischen sich und die Anbeter der Dunklen Götter brachte, erhob sich der gequälte Tiermensch fluchend. Marek und Selina traten an die Kante heran. Im nächsten Augenblick sprossen aus beider Rücken jeweils ein Paar kräftiger Vampirflügel. Marek hatte als Entschädigung für den Verlust seiner Seele die Fähigkeiten der Vampire vom Gott Sombra erhalten. Selinas magische Fähigkeit hingegen bestand darin, Vampire zu kontrollieren. Allerdings war sie in der Lage, ihre Fähigkeiten auf sich zu übertragen.
„Wenn du dich weitestgehend erholt hast, Pinius, dann sieh zu, dass du zum Drachentempel kommst und am besten noch vor ihnen dort eintriffst. Wir beide verfolgen sie direkt“, sagte Marek ohne jegliche Gefühlsregung.
Damit erhoben sie sich graziös in die Lüfte und jagten dem davoneilenden Drachen hinterdrein.
Der Drachentempel kam bereits in Sicht und Veneno sank tiefer, als Marek und Selina endlich zu ihnen aufgeschlossen hatten. Joaquin bemerkte sie als Erster, da sie sowohl ihren Geruch als auch ihre Magie abgeschattet hatten. Der Junge quiekte vergnügt, deutete auf Marek und sang fröhlich:

„Fledermäuse, Fledermäuse verspeise ich zum Frühstück!
Ess’ ich mit Radieschen fein, Fledermäuse, ihr seid mein!“

Dark und Veneno blickten nach hinten und entdeckten den Grund für Joaquins seltsamen Gesang. Der Drachenreiter konnte gerade noch rechtzeitig seinen Kopf einziehen, bevor Marek ihn mit seinen Krallen abschlug. Der Drache sank noch tiefer und drehte sich spiralförmig zwischen den Bäumen hindurch. Sie erreichten nun die Lichtung des Drachentempels.
Veneno, bring Joa zum Tempel! Sombras Handlanger haben dort keine Macht und er natürlich auch nicht, befahl Dark seinem Freund gedanklich.
Und was macht Ihr?
Sie aufhalten, solange ich kann!
Mit diesen Worten sprang er aus dem Sattel und landete auf allen vieren im Gras. In einem Bruchteil einer Sekunde hatte er einen mächtigen Schutzschild errichtet, gegen das Selina und Marek mit einem lauten Krachen schlugen, bevor sie unsanft zu Boden gingen. Sie schüttelten sich heftig und ihre Flügel und Mareks scharfe Klauen verschwanden.
Leicht verwirrt erhoben sie sich. Als sie erkannten, was sie aufgehalten hatte, legte der ehemalige Elb den Kopf schief und grinste.
„Du willst uns allein aufhalten, Mensch?“, fragte er spöttisch und hob seine linke Hand träge.
Selina öffnete ihre rechte Hand und sie schleuderten gleichzeitig schwarze Energiepfeile auf den grün schimmernden Schild, den Dark mit zusammengebissenen Zähnen mühsam aufrechterhielt.
„Warum machst du es uns und dir unnötig schwer? Du bist mit deinen Kräften am Ende, Drachenmagie hin oder her!“, sagte Marek mit einem verächtlichen Blick. „Gib uns einfach den Jungen und du kannst unbeschadet deiner Wege ziehen!“
„Niemals!“, zischte Dark. Langsam wurde es anstrengend. Er spürte, wie ihm die Magie seine Lebenskraft entzog. Wenn ihm nicht bald etwas einfiel, würde ihn die Anstrengung umbringen.
Inzwischen war Veneno mit Joaquin beim Drachentempel angekommen. Am Fuß der Treppe stand eine in Schwarz gehüllte Gestalt, Pinius. Der Drache landete drei Meter von ihm entfernt. Er konnte nicht einfach die Stufen überfliegen und den Jungen an der Pforte des Tempels absetzten. Denn es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man diese heiligen Stufen nur hochgehen, aber niemals darüber rennen oder gar fliegen durfte. Ansonsten holte Gott Lecto sich die Seele des Übeltäters.
Joaquin gab abermals einen vergnügten Laut von sich, begann wieder ein Liedchen zu trällern und klatschte dabei in die Hände:

„Tiermensch, Hungerhaken, Tiermensch,
nicht verzagen, keine Angst in diesem Land
hängt dein Kopf nicht an der Wand!
Tiermensch, musst dich plagen, viele
Menschen jagen, das Getier, was du
sonst frisst, Hunger leiden tun die nicht!“

Pinius hatte wohl oder übel wieder mit dem Tanzen anfangen müssen und schrie jetzt wie am Spieß: „Hör auf, du verdammtes Balg! Lass mich …“ Doch Joaquin hatte viel zu viel Spaß, um damit aufzuhören.
Veneno drängte den Jungen langsam, aber sicher die Stufen der Heiligen Treppe hinauf. Während dieser rückwärts die eintausendundeins Stufen erklomm, dichtete er immer neue Strophen für den Dunklen Magier und klatschte im Takt, während der Tiermensch nach Luft ringend komplizierte Drehungen, Sprünge und Schritte machte.
Ein schwarzer Blitz schlug in Pinius ein und verbrannte ihn augenblicklich zu Asche. Darks Schutzschild brach und er wurde zurückgeschleudert bis an die erste Stufe der Heiligen Treppe. Veneno rammte Joaquin seine Nase in den Bauch und schleuderte den nach Atem schnappenden Jungen bis zur Tempelpforte. Dann sprang er zu seinem Herrn und stellte sich schützend über ihn. Der Junge kroch sich den schmerzenden Bauch reibend in den Tempel. Dort brach er vor Schmerz und Erschöpfung zusammen. Er sah den drohenden Schatten nicht mehr, der sich über ihm zusammenbraute.
Währenddessen manifestierte sich Sombra, der Gott der Finsternis, vor Dark und seinem geschuppten Freund. Sein silbriges Haar wehte, als ob ein Sturm es zerzauste, obwohl vollkommene Windstille herrschte. In seinen Augen tobte ein Blizzard. Sein schwarzes Gewand, auf dem ein roter Salamander abgebildet war, flatterte. All diese Bewegungen waren seiner gigantischen magischen Stärke zuzuschreiben. Seine Macht pulsierte in ihm und wurde wellenartig abgestrahlt. Ein bloßer Gedanke konnte genügen, um seinen Feind zu töten.
Er war vor Jahrhunderten aufgrund seines unendlichen Hasses und der Tatsache, dass er als Magier zur obersten Elite gehörte, zum Gott der Finsternis erkoren worden. Der Herr von Zeit und Welt hatte ihn gerufen und er war der Aufforderung gefolgt. Nie wieder würde er den Schmerz einer verlorenen Liebe spüren müssen.
Das wahre Ich des Herrn von Zeit und Welt hatte noch nie jemand zu Gesicht bekommen, noch nicht mal die, die er zu Göttern gemacht hatte. Eine von seinen vielen Gaben war die der Gestaltwandlung. Er erschien mal als Kind, mal als alter Mann, mal als bezaubernde Prinzessin, aber nie in seiner wahren Gestalt. Sombra war er als ein Zauberer mittleren Alters erschienen. Nun stand der Gott über Dark und musterte den verängstigten Drachenreiter und seine Flugechse abfällig. Hinter ihm stand Marek.
„Acht Jahre habe ich geduldig darauf gewartet, dass du dein Wort hältst und mir dein Erstgeborenes bringst. Doch das hast du nicht, also komme ich es mir holen! Sag mir, wo es ist!“
„Im Tempel“, erwiderte Dark leise.
Sombra blickte zu dem Heiligtum der Drachenreiter und bemerkte die blau-schwarze Wolke, die sich darüber zusammenbraute.
„Ich habe nie geglaubt, dass es stimmt, was man über eure Heilige Treppe sagt, aber jetzt …“, sagte der Gott und starrte auf das Phänomen.
Dark sprang auf und war drauf und dran, die Stufen ebenfalls hinaufzurennen. Doch Sombra hielt ihn mit einer einzigen Bewegung seines Zeigefingers davon ab.
Selina war mittlerweile dabei, die Stufen zu erklimmen. Gelassen, als hätte sie alle Zeit der Welt, betrat sie den Tempel. Dort war ein Wesen erschienen, mit Augen so braun wie die Erde, Haut so blau wie das Meer, Haare so unförmig wie der Wind und Kleidung so rot wie aufzüngelnde Flammen. Es war ein Bote Lectos, des Gottes, der auch als der Heilige bekannt war. Man wusste aber auch, dass sich dieser Erhabene auf Kompromisse einließ. Wenn er dabei besser wegkam als sein Gegenüber. Er war vor fast achthundert Jahren in den Kreis der Götter aufgenommen worden. Damit war er zwar älter als Sombra, aber bei Weitem nicht so mächtig. Der Herr der Finsternis war der Mächtigste unter allen, daher beugte sich auch ein alter, erfahrenerer Magier seinem Willen allein um die eigene Existenz zu schützen.
Lecto würde den Jungen zu sich holen, da dieser ein heiliges Gesetz missachtet und somit die Gebote eines Gottes mit Füßen getreten hatte.
Selina fiel vor dem Halbgott auf die Knie.
„Ich flehe Euch an, verschont meinen Jungen! Er ist unschuldig!“
„Wir kommen, um eine verdorbene Seele zu holen“, erwiderte das Wesen ungerührt. „Und wir gehen nicht ohne sie!“
„Aber seine Seele ist rein! Nehmt meine an seiner statt! Ich biete Euch meine Seele, aber verschont dafür seine! Er ist doch noch ein Kind!“
Das Wesen sah sie mit den braunen, gefühllosen Augen an, dann sog es ihr die Seele aus dem Körper.
Joaquin war wieder zu sich gekommen und sah die Seelenwanderung sprachlos mit an. Er blickte zu Selina. Ganz plötzlich sah er ihr Gesicht in einer seiner Erinnerungen und wusste mit hundertprozentiger Sicherheit, wer sie war.
5 Sterne
Action-Fantacy - 31.08.2023
W.S.

Das Buch verpasst Menschen-, Götter- und Fabelwelten mit Drive und Action. Mythologische Stoffe und Helden verschmelzen zu einem Abenteuer. Selbst mancher Held, mancher Charakter ist diesem Wandel unterworfen, ist nicht einfach nur gut oder böse. Das hat mir sehr gefallen.

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