Die Säntisbahn

Die Säntisbahn

Erzählungen

Andri Peer


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 330
ISBN: 978-3-99107-777-0
Erscheinungsdatum: 29.06.2023

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1 - Orchesterprobe für Poesie


Der Bericht über das Frühlings-Schreibatelier an der University of Massachusetts in Dartmouth MA US geriet zu einem Sammelband von Erzählungen, die untereinander so eng verschränkt sind, dass man den Verdacht hegen könnte, es handle sich um das Werk einer einzigen Autorin oder eines einzigen Autors. Das Gegenteil ist der Fall. Die Zahl der Teilnehmer hat in jenem Frühjahr 2043 den historischen Höchststand von 248 erreicht. Normalerweise archiviert die Universität die Produkte ihrer Schreibateliers in digitalisierter Form und liefert den Teilnehmenden, deren Erzeugnisse von den Leitenden als besonders wertvoll bezeichnet wurden, kostenlos zehn gediegen ausgedruckte, in Sky gebundene und mit dem feierlichen Siegel der Universität und dem Namen des/der Verfasser/in in Goldlettern geschmückte Exemplare. Das trägt in einem Fach, das die Mehrheit der Bevölkerung für zumindest überflüssig hält, mehr zum Image der Universität als zu jenem der Schreibenden bei. Letzteren geht es zumeist nur darum, auf möglichst schmerzlosem Weg eine Handvoll Credits für den Bachelorabschluss zu ergattern.
Die Frage ist berechtigt, warum sich eine kleine Universität wie Dartmouth einen so überflüssigen Luxus leistet, wenn sie die Spesen für die eigentlichen Zukunftsfächer, als da sind Engineering, Marine Science & Technology, Business & Law, nur mühsam berappen kann. Nun, Darthmouth ist eine Filiale der um einen Faktor 10 größeren und bekannten University of Massachusetts in Boston, und sie ist als Experimentaluniversität konzipiert, die auch Abteilungen wie das College of Arts & Sciences, eine Abteilung für Continuing Education von der Wiege zur Bahre und eine medizinische Pflegerinnenschule unterhält, die ihre Absolventinnen zu echten Partnerinnen der Ärzte machen und damit zur Entlastung und Regenerierung des geschundenen amerikanischen Spitalwesens beitragen will. Kunst hat mit allem zu tun, und alle Fächer entsprechen letztlich dem, was im Mittelalter als Künste unterrichtet wurde, vom Studium der Klassiker bis zu jenem der Mathematik und der Astronomie. Und vor allem: in Darthmouth werden auf mächtigen, hochvernetzten Computern alle Lehrfilme ebenso wie die Grundlagen für allgemein anerkannte Fernprüfungen organisiert und verarbeitet, welche die Uni von Boston zu einer der bekannteren Fernuniversitäten gemacht haben, wo man sich ein allgemein anerkanntes Diplom ohne Präsenzunterricht und ohne Anreise zu Prüfungen erwerben kann. That’s the true future, dear Watson! Wer’s nicht glaubt, kauft sich für gutes Geld an der Trump University einen Doktor in Patiencenlegen und hängt das von Siegeln übersäte Diplom in seine Lounge.
Ungewöhnlich sind auch die Sponsoren, die es möglich machen, für die Leitung der Schreibateliers jeweils bekannte, englischsprachige, ausländische Schriftsteller aus Europa, Indien, Japan oder Afrika einzuladen, zum Teil auch solche, die daneben noch in ihrer lokalen Muttersprache publizieren. In einem Land, in dem ein guter Teil der Bevölkerung nicht einmal weiß, dass es außer Amerikanisch noch weitere weltweit verbreitete Sprachen gibt, ist das keineswegs selbstverständlich. Im Fall von Fatima, meiner Frau, und mir ging der schrullige Sponsor, der an der englischen Übersetzung unserer zweihändig geschriebenen Science-Fiction-Krimis den Narren gefressen hatte, noch einen Schritt weiter. Wir sprechen zwar beide leidlich Englisch, Fatimas Muttersprachen aber sind syrisch-libanesisches Arabisch, Ivrit (ihr Vater war israelischer Konsul in Damaskus), und Italienisch (die Sprache ihres Kindermädchens, dem in ihrer noblen Familie die Erziehung der Kleinen bis zu ihrem 6. Lebensjahr fast vollständig überlassen wurde). Ich nenne mich Andri Peer, meine Mutter stammt von nach Frankreich ausgewanderten Winzern ab, daheim sprach sie Französisch, der Vater mit mir Suaheli und ich mit den Kindern in Zürich Schweizerdeutsch. Vater war Übersetzer in der Schweizer Niederlassung eines biozertifizierten Gewürzproduktions- und Handelsunternehmens auf der Gewürzinsel Sansibar und wollte um jeden Preis, dass ich an der Uni Zürich Wirtschaftswissenschaft studiere, was ich ihm zuliebe getan habe. Dass ich heimlich Gedichte auf Züritüütsch schrieb, ahnte er nicht und er zeigte mir seine schönsten runden Kulleraugen, als ich ihm ein Exemplar des Dialektkrimis Em Chrigi sin Sackhägel auf den Schreibtisch legte, mit dem ich unter dem Kunstnamen Andri Peer beim Zytglogge Verlag einen Großerfolg gelandet hatte. Nachdem er mich lange nachdenklich angesehen hatte, sagte er so etwas wie „Ikiwa unaweza kupata pesa kutoka kwa hiyo, basi andika riwaya za upelelezi“ – Wenn du davon leben kannst, dann schreib halt Kriminalromane. Er war weiterhin lieb zu mir wie zu einem kleinen Buben, hat aber nur noch Französisch mit mir gesprochen. Die Hoffnung, dass ich ihm einmal nachfolgen werde, hatte er aufgegeben. So ist auch mein Kisuaheli verblasst und ich habe in Freiburg im Üechtland französische Literatur und Philosophie studiert. Bis zu meiner Masterprüfung hat Vater bezahlt, dann hat er, glaube ich, mich und Mutter vergessen und ist nach Afrika zurück. Gegenwärtig gebe ich in Freiburg im Üechtland Vorlesungen über Literatur der französischsprachigen Schweiz. Gegen Ende des Studiums lernte ich meine zukünftige Frau Fatima (mit ihrem vollen Namen Fatima Bné Muhammad ibn Achmad Abu Nureddin) kennen und lieben, die anfänglich für ein Doktorat über arabische Dichtung aus vormuslimischer Zeit angereist war, in Genf unterrichten wollte, jetzt in Freiburg/Fribourg Komparatistik unterrichtet und daneben Jahr für Jahr vierhändig mit mir einen Krimi veröffentlicht, der meistens ziemlich hohe Auflagen erreicht. La Tuerie de Petersham heißt der letzte, in den Editions Amalhée erschienene, der in le Havre, Petersham MA USA und Mali spielt. Unsere beiden Kinder sind noch klein (3 und 5 Jahre), so mussten wir uns kein Gewissen machen, sie ihrem schulischen Milieu und ihren Spielkameraden zu entfremden, als wir den Ruf erhielten, an der University of Dartmouth als Gastdozenten für zwei Semester den Deutsch- und Französischunterricht zu übernehmen und dabei auch abwechselnd Schreibateliers zu veranstalten.
Das erste Atelier durfte ich durchführen und beschloss, es neu zu gestalten. Meine Vorgänger hatten es jeweils als Lernveranstaltung konzipiert und gegen Mitte des vorangehenden Semesters die Aufgaben festgelegt: „Lesen Sie von Schriftsteller(in) A Werk A1 pp. x – y, von Schriftsteller(in) B Werk B1 usw., das Ganze im Umfang von mehreren Hundert Seiten, die kaum jemand durchblätterte (die Fleißigen verschafften sich einen Überblick dank Wikipedia). Ein Seminarvormittag verlief dann etwa so: Startschuss um 08:30: „Stellen Sie sich vor, Sie wären Mark Twain 120 Jahre später, studieren hier, treten morgens aus ihrem Campusgebäude hinaus, schlendern durch die Parkanlagen, beobachten aufmerksam Kommilitonen und Professoren, die kreuz und quer zu verschiedenen Bestimmungsorten eilen und machen sich ein paar Notizen zu Gedanken, die Ihnen gekommen sind.“ Mittagspause 11:45–13:30. Nachmittags bis 17 Uhr liest jeder seine Sätzchen vor, keiner zu klein, um ein Twainchen zu sein, man korrigiert sich gegenseitig Rechtschreibung, Wortstellung und Vokabular, in der letzten halben Stunde gibt der Dozent Bemerkungen zu Rhythmik, Stil und Lokalfarbe von sich und verteilt die Aufgaben für den nächsten Tag. Zensuren gibt’s keine, nur Präsenzatteste, die man für die begehrten Credits braucht. Nichts gegen unsere Vorgänger, sie taten, was man von ihnen erwartete. Wir durften und wollten es anders machen, trafen erst kurz vor Semesterbeginn ein und konnten nur einen Titel durchgeben. Wer von uns beiden die Veranstaltung leiten würde, stand noch nicht einmal fest. Also haben wir folgenden Titel gewählt: Let the soul write and the hills will sing. Dazu ein kurzes Statement und eine Anleitung:

„Be aware that all great deeds began with a dream. In the coming weeks, take half an hour at least once a day to dream in a relaxed way and say to yourself: ‚Right now I am doing something very beautiful and very useful. Life is a miracle‘!“

Unserem freundlichen Sponsor ließen wir die Aufgabenstellung per Fax zukommen und er war so begeistert, dass er bei einer jungen Künstlerin ein Plakat im Straßenformat bestellte: eine Art Paradiesgarten in angedeuteten, tanzenden, pastellfarbenen Figuren, die wie Scherenschnitte von Mathis in Raum schweben und nach den Worten des Titels zu haschen scheinen. Hundert solche Plakate wurden auf dem Campus verteilt und verursachten einen großen Wirbel. Rektor, Counceler und unsere zukünftigen Kollegen waren leicht verwirrt, die hochwohllöblichen Vertreter verschiedener Lokalkirchen, von den Lutheranern bis zu den Heiligen Jesu Christi der letzten Tage, klopften die Worte ab, um zu kontrollieren, ob sie allenfalls unchristliche Wertvorstellungen offenbaren möchten und beschlossen am Ende, sie als fromm zu bewerten, inasmuch von der Seele die Rede war und eine friedliche Trauer um das verlorene Paradies als der Tau einer wohltuenden Reue interpretiert werden könne und somit als Vorbereitung auf den Empfang des Heiligen Geistes. Consequently bestand kein Grund zu Beunruhigung. Die Undergraduates schließlich, deren Hormone noch im Rhythmus der Spätadoleszenz brausten, liessen sich die Aufforderung zum Träumen nicht zweimal sagen und hingen ihren üblichen Tagträumen nach. Einige malten sich bereits lustvoll praktische Übungen dazu aus.
Die Ausschreibung sollte nichts über die vorgeschlagenen Themen verraten, daher der poetisch-verrückte Titel: Lass die Seele schreiben und die Hügel werden singen (Let the soul write and the hills will sing), von welchem Dichter schon wieder? Wir wissen es nicht, es war eine gemeinsame Inspiration, nach Stunden eingehender Diskussion nach dem Prinzip der freischwebenden Aufmerksamkeit unter Ausschaltung jeder gezielten Intention. Autsch! Wenn das mal gut geht … Es ist aber die Technik, mit der wir vierhändig schreiben, tief konzentriert und ganz an das Schreiben hingegeben wie ein Pianist und eine Geigerin, die gerade eine späte Sonate von Buxtehude oder Hindemith interpretieren. Der Rest ist Geschenk und schweißtreibender Fleiß: der Plot muss ein Clockwork Orange sein, die Sprache präzise, geschliffen und zugleich so durchscheinend, dass sich die Lesenden widerstandlos in eine andere Welt tragen lassen. Nun, ganz auf dieser Höhe der Kunst haben wir uns mit den Undergraduates in Dartmouth natürlich nicht bewegt, vor allem, weil sie sich zur Eröffnung in Scharen in einem der größten Vorlesungssäle drängten und ziemlich unruhig waren. Ich hab’s dann so formuliert:
„Ladies and Gentlemen! Ich bitte um Ruhe. Sie sollen ein bisschen mehr haben von dieser Veranstaltung als a few lousy credits, also seien Sie bitte still, sonst hören Sie sich nicht einmal mehr denken. Wir werden streng arbeiten. Träumen ist kein Kinderspiel! Verteilen Sie sich bitte in den folgenden 12 Räumen (Liste an der Tafel), und zwar so, dass niemand dem anderen beim Schreiben zusehen kann. Schweigen Sie wie Mönche. Ich werden mit ein paar Assistenten von Raum zu Raum gehen und kontrollieren. Folgendes ist Ihre Aufgabe: Sie versuchen sich an ein Geschehen zu erinnern, bei dem sie ein so starkes Gefühl erlebt haben, sei es Freude, Lust, oder Scham, Trauer, Verzweiflung, dass es alle Ihre bisherigen Erfahrungen gesprengt hat, Sie keine Worte dafür fanden, Ihren Zustand auch niemand mitteilen wollten, weil er zu intim war, zu empfindlich gegen jede grobe Berührung von außen. Um wirklich zum damaligen Zustand zurückzufinden, denken Sie ganz konkret an Gerüche, Farben, Wärme- und Kälteempfindungen, Geräusche, versuchen Sie, soviel wie möglich davon zurückzurufen. Wenn Sie finden, sie hätten ein Optimum erreicht, dann nehmen Sie wieder Abstand und versuchen Sie, in ein paar Sätzen dieses Erlebnis für sich, und nur für sich zu beschreiben. Niemand wird je Ihre Notizen sehen, niemandem werden Sie davon berichten, das sind Sie, das ist Ihr Innerstes, ein Abbild Ihrer Seele, ein Heiligtum! Und als Symbol dafür werden wir um 11:30 im Parkrondell zusammentreten, wo ein kleines Feuer brennen wird, und jedes wird kurz vortreten und seine Notizen in das Feuer werfen, damit das Geheimnis auf immer besiegelt ist. Am Nachmittag, nach der Pause, notieren Sie von 13:30 bis 14:00 Uhr jedes eine Liste von Kommilitonen und Kommilitoninnen, mit denen Sie gerne eine Geschichte erfinden möchten. Sie können sich dabei mit anderen absprechen, es darf aber nicht laut werden in Ihrem Raum.“
Als ich meine Pappenheimer um 14 Uhr wieder im großen Saal vor mir sah, war die Spannung auf der Haut fühlbar. Der Vormittag hatte sie aufgewühlt, die feierliche Verbrennungszeremonie hatte daraus ein Ritual gemacht, jetzt kam die Stunde der Gemeinschaft. Ich vermute, dass sich die Vorstellungen je nach Naturell zwischen dem Kabinengespräch einer Baseballmannschaft vor dem Auftritt und dem gemeinsamen Singen von Gospels bewegten. Daraus musste nun etwas Greifbares werden:
„Sie haben es verstanden: jetzt kommt der Übergang zu Gemeinschaftsarbeit. Aber auch das will vorbereitet sein, zunächst wieder jedes für sich: Wer in eine Gemeinschaft eintritt, bringt eine Gabe mit, etwas Wertvolles, wenn’s geht. Versuchen Sie, Ihr Erlebnis vom Vormittag in eine Kunstfigur hineinzulegen, die in einer ganz anderen Welt lebt, anders heißt, vielleicht sogar eine andere Sprache spricht, die niemand mit Ihnen identifizieren kann, und die jetzt ein Tagebuch schreibt. Sie verfassen eine Skizze, die folgendes enthält: · Den Plot: Was erlebt diese Person mit anderen? · Ein Personenverzeichnis: Mit wem zusammen erlebt sie das? · Ein minimalistisches Drehbuch: Rahmenhandlung zur Orientierung für die Lesenden/Dauer des Geschehens/Darstellungsweise: Notizen? Aus der Erinnerung notierte Dialoge? Einführung eines späteren Verlegers?“
Das war schon wieder eine völlig neue Aufgabe, so etwas hatte noch nie jemand von diesen jungen Menschen verlangt, auch wenn vermutlich nicht wenige von ihnen tatsächlich ein Tagebuch führten. Und es war auch eine recht umfangreiche Aufgabe, die ich ihnen gleich in handliche Teile portioniert habe: Sie hatten 3½ Tage Zeit. Die kleinen Skripte konnten sie direkt in ihren Laptop schreiben und mit einem Schlüssel anonymisiert laufend auf den Campuscomputer laden. Sie beschlossen selber, wann sie ihr Skript zur Einsicht freigeben wollten, spätestens bis Freitag 18:00. Es gehört zur Aufgabe, dem Projekt einen möglichst ansprechenden Titel zu gehen. Bei Eingabe eines vereinbarten Codes konnte jede/r diese Liste auf seinen eigenen Bildschirm rufen, und wenn ihr/ihm ein Titel besonders gefiel, ihn anklicken und damit das entsprechende Skript lesen. Am Montagvormittag der folgenden Woche galt es, an die Zentrale die Nummern jener Verfasser/innen (2–4) zu melden, mit denen man gerne gemeinsam schreiben möchte. Ein Algorithmus, nicht unähnlich jenem, mit denen man aus den Anforderungen des Programms, den verfügbaren Dozenten, deren Wünschen, den Vorlieben der Studenten und den vorhandenen Räumlichkeiten einen Stundenplan zusammenstellt, würde dann die Gruppen zusammenstellen, diesmal mit den realen Namen der Beteiligten. Das würde für Überraschungen sorgen und machte das Ganze für die Lernenden äußerst spannend. Und tatsächlich, sie gaben sich Mühe wie noch nie in einem Schreibatelier, das wurde mir später von vielen bestätigt. Auf Vorschlag der Teilnehmenden einigten wir uns übrigens darauf, dass alle Erzählungen am gleichen geographischen Ort stattfinden würden, der allen gleichermaßen unbekannt war, nämlich Kanton und Stadt Zürich. Wir haben auf dem Web zahlreiche Fotografien, ein Lexikon und eine Grammatik des Zürichdeutschen sowie ein geschickt aufgebautes Bändchen Züritüütsch i drüü Tääg verfügbar gemacht. Das war für die jungen Leute eine besonders exotische Sprache, aber doch leichter zu handhaben als Chinesisch.
Als es so weit war, dass die eigentliche Schreibarbeit beginnen konnte, habe ich ihnen noch ein Beispiel aus einer anderen Kunstgattung mitgegeben:
„Ihr alle kennt Grandma Moses, die Tochter armer Bauern, die fast ein Leben lang als Magd gearbeitet hat, keine Zeit hatte, um das zu tun, was sie am liebsten tat: den Alltag malen und die Menschen um sich herum. Doch als sie endlich mit 75 ihrer Leidenschaft folgen durfte, schuf sie ein Bild nach dem andern, von denen heute Dutzende in den größten Museen hängen und die alle unzähligen Menschen Trost und Freude gebracht haben. Geschrieben hat sie auch, eine Autobiographie, ähnlich eindrücklich wie sie malte. Nun, in jedem von euch steckt eine Grandma Moses. Macht euch gegenseitig Mut, streitet nicht, helft einander, geht mit den Beiträgen der anderen ebenso sorgsam wie mit euren um, und ich wandle jetzt einen Satz, ihr wisst gleich, wo ich ihn gestohlen habe: Wo zwei oder drei oder vier in ihrem Namen beisammen sind, dort wird Grandma Moses mitten unter ihnen sein. Zusammen mit den Damen und Herren Assistenten zirkuliere ich in allen Räumen und stehe euch jederzeit zur Verfügung.“
Die Studierenden haben sich faszinieren lassen und sich danach schwungvoll an die Arbeit gemacht. Es wurde hingebungsvoll diskutiert, eifrig gearbeitet, oft gelacht, mit nachdenklichen Pausen dazwischen, und alle Teilnehmenden kamen sich so nahe, wie sie es noch nie in einem Seminar erlebt hatten. Einzelspieler fanden zu kleinen Kammerorchestern zusammen, das Schreibatelier wurde zu einer Orchesterprobe für Poesie. Als die Erzählungen abschließend von jeder Autorengruppe vor allen anderen vorgelesen und dann sogar in der Aula Magna vor rund 800 Zuhörenden Auszüge rezitiert wurden, hatte niemand das Gefühl, sich ausgeliefert zu haben und sich schämen zu müssen und allen war bewusst, dass da etwas sehr Wertvolles entstanden war.
Das haben alle bestätigt, und erst daraufhin habe ich das Manuskript, das Sie nun in Händen halten, für eine Publikation auf Englisch, Französisch und Deutsch freigegeben und dafür als Verleger die Verantwortung übernommen. Auch die von mir anfänglich beinahe als Traum geäußerte Vorstellung, dass die 7 Erzählungen, die Ihnen hier vorliegen, aus einer einzigen Hand zu stammen scheinen, ist m. E. weitgehend erfüllt. Fatima und ich betrachten den kleinen Band als echte, wenn auch bescheidene Literatur. Und daraus ziehe ich zum Abschluss eine didaktische Erkenntnis: Traue jungen Menschen ehrlich etwas zu, dann werden sie deine Erwartungen übertreffen.
Ich wünsche Ihnen eine angenehme Lektüre!



2 - Die Besenkammer


Zwei afghanische Straßenwischer am Bürkliplatz in Zürich. Sie leben in einem Durchgangslager (ein Luftschutzbunker am Stadtrand von Zürich) und dürfen im Rahmen eines Beschäftigungsprogramms Reinigungsarbeiten verrichten, für die sie ein bescheidenes Sackgeld beziehen. Es reicht, um ihren Angehörigen 100 Franken im Monat zu überweisen, was dort beinahe ihre Familie nährt …

Mahdokht (der Ältere der beiden, graues Gesicht unter einer grauen Mähne, das Arbeitsgewand hängt schlaff herab, aber die Arme blicken muskulös und sehnig unter den kurzen Ärmeln hervor; hat gerade Besen, Rechen und Stielschaufel aus dem Verschlag geholt). – Reich mir die Thermosflasche. Ohne Kaffee gibt’s mich nicht.
Benafscha (leuchtend rote Baskenmütze. Spuckt aus.): – „Die Blätter! Phaah!“ dreht das Visier nach hinten.
Ma – Was, die Blätter?
Be – Liegen immer noch herum. Rechts, der Haufen, den Sven zusammengewischt hat und den der Morgenwind verweht.
Ma – Oktober, was willst du? Da gibt’s halt immer Wind am Morgen.
Be – Ja, schon, aber warum hat sie der andere nicht in die Kompostwanne geschaufelt? Wie sieht das aus? Man könnte meinen, wir geben nie einen Besenstreich.
Ma – Eben, ich sag› dir, uns nehmen sie noch dran, und dann ist es für eine Weile aus mit Ausgang.
Be – Ändert auch nicht viel.
Ma – Ändert alles: 80 m2 mit Drahtgeflecht darum herum. Hier kannst du kilometerweit schauen und gehen, und vor dir ist erst noch der See.
Be – Im Lager gibt’s den Morgenspaziergang, da hast du auch Bewegung.
Ma – Ja, Morgenspaziergang! Qua, qua, qua, fünf Schrittchen, wieder stehen bleiben, qua, qua, qua … Da eine Kuh streicheln, die den Kopf über den Elektrozaun streckt und einem fast die Hand nach Salz abbeisst, dort einem Sennenhund schmeicheln: „Du bist aber ein ganz Lieber, ja, du wirst mich schon nicht beissen, nicht wahr? Streichel, streichel, streichel, ich sag’s ja, ich kann’s mit Hunden“, und sich unterdessen den Steiss im Morgennebel abfrieren, um am Schluss in der Runde („War es so gut für euch?“) schön brav „Ja, ja, ja“ sagen? Nein, danke schön!
Be – Hast du was Besseres?
Ma – Das ist es ja, es gibt nichts Besseres. Wenn du dich verweigerst, heißt es gleich: „Mahdokht, das ist gar nicht gut, du bist unkooperativ. Komm jetzt, sei nicht so. Nein, ich habe dich nicht am Arm gezogen, ich habe dich nur eingeladen, sofort mitzukommen, aber natürlich, du kannst dich weigern, du hast das Recht dazu, ich muss dann einfach die Lagerleitung informieren, und das hat natürlich Konsequenzen. Wie gesagt, es ist dein freier Entscheid, du bist frei, selbstverständlich, wir sind hier in der Schweiz, nicht bei den Ben Ladens, das wäre ja noch schöner.“

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