Die Reise zum Mondstein

Die Reise zum Mondstein

Jana Fischer


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 150
ISBN: 978-3-99107-557-8
Erscheinungsdatum: 19.05.2021
Auf der Reise zum Mondstein geraten Dai und ihr Bruder Schè, zwei Kinder der Götter, in viele abenteuerliche Situationen. Wird es ihnen letztlich gelingen, ihr Ziel zu erreichen und ihre Drachen zu zähmen?
Part 1
Pov Dai

„Dai! Dai! Aufwachen! Wir müssen los!“ Ruckartig fährt Dai hoch. Ihr Bruder Schè steht vor ihr. Sie reibt sich über die Augen und streckt sich. Sie lässt ihre kräftigen Arme kreisen, dehnt ihre Beine und steht dann auf. Schè hebt die Augenbrauen und sein kühler Blick ruht auf ihr. Schnell packt sie ihren Schlafsack zusammen und rollt die Plane auf. Schließlich hilft er ihr und gemeinsam bauen sie das Lager ab, das sie gestern Abend aufgebaut haben. „Hier, etwas Beißerfleisch für unterwegs! Teil es dir gut ein, der Weg ist noch weit und wir haben nicht viel!“ Dai nickt und fängt den kleinen Lederbeutel, den ihr Bruder ihr zuwirft. Sie bindet ihn sich an den Gürtel und setzt seufzend ihren schweren Rucksack auf. Ein letztes Mal prüft sie ihren Gürtel. Alles da. Das Messer, die Steinschleuder, der Beutel mit Beeren, der mit Fleisch, eine Flasche mit Wasser. Dann nickt sie. Sie haben in einer kleinen Höhle übernachtet, gut geschützt im Gestrüpp, um vor Feinden in Sicherheit zu sein. Schè schiebt sie vor sich her durch das Gestrüpp hinaus auf die kleine Lichtung. „Komm, lass uns dem Fluss folgen! Meister Ipo hat gesagt, dass wir in ein, zwei Tagesmärschen zum Tal der Elfen kommen sollten! Also los!“ Dai folgt ihrem Bruder, der gerade zwischen den Bäumen verschwindet. Meister Ipo, der Chi- Meister, der die beiden ausgebildet hat, hat ihnen gezeigt, wo sie lang müssen. Vom Südosten, wo ihr Dorf liegt, sind sie schon einige Tage bis zu dem Tempel gelaufen, in welchem Ipo lebt. Vier Jahre haben sie von ihm gelernt. Von dort sind sie dann direkt den Anweisungen des Meisters gefolgt und immer geradeaus gelaufen. „Wenn ihr immer weitergeht, dann könnt ihr den Berg nicht verfehlen. Wenn ihr Glück habt, dann kommt ihr an keinem Dorf vorbei, zumindest an keinem gefährlichem. Doch seid immer vorsichtig. Dörfer können gut oder böse sein. Wenn sie euch komisch vorkommen, dann haut ab! Manche Menschen mögen keinen Besuch!“ Das hat Meister Ipo ihnen geraten. Und so haben sie sich aus den Dörfern möglichst ferngehalten. In dem ein oder anderen haben sie ihre Vorräte aufgefüllt, doch sobald einer auch nur den Finger gekrümmt hat, sind die beiden weitergelaufen, immer weiter nach Norden. Drei Wochen sind sie nun unterwegs, bestenfalls noch zwanzig quälende Tage müssen sie laufen, bevor sie am Ziel ihrer Reise ankommen. Dem Ziel, von dem die meisten Menschen nur träumen können – dem Mondstein. Plötzlich verliert Dai den Halt. Sie stolpert über eine gewaltige Wurzel und schlägt sich das Knie auf. „Mann, Dai!“ Schè kann sich ein Grinsen nicht verkneifen und hält ihr seine große, raue Hand hin. Kaum konnte er laufen und gescheit einen Hammer in der Hand halten, arbeitete er mit ihrem Vater an der Werkbank. Die beiden waren dann bis weit nach Sonnenuntergang unten im kühlen Keller. Sie hörten erst auf, wenn Dai schon längst schlief. Schè schlich sich dann in ihr Zimmer und legte sich vorsichtig zu ihr. Und dann beobachtete er ihren Schlaf. Am nächsten Morgen, während Dai mit Mutter zum Feld ging, da machten sich Schè und Vater wieder an die Arbeit. Vormittags arbeiteten die beiden entweder im Wald oder sie halfen, was eher selten vorkam, Dai und Mutter auf dem Feld. Sobald die Sonne jedoch ihren höchsten Stand erreichte und die Hitze unerträglich wurde, da verzogen sich die beiden in den Keller. Die beiden Frauen machten sich entweder im Haus ans Essenkochen oder sie verrichteten andere Hausarbeiten. Das Leben war hart, ja, aber die vier kamen immer über die Runden, und im ganzen Dorf war Schè für seine Holzskulpturen und anderen Arbeiten bekannt. Dai dagegen sah man oft gegen Abend, wenn es wieder erträglicher wurde, mit großen Körben und dem Ochsenkarren auf dem Markt, um Waren zu verkaufen. Hauptsächlich Getreide oder Backwaren, doch zwischen den gut duftenden Brötchen versteckte sie die Skulpturen, die meist für ganz bestimmte Käufer waren. Dai lächelt bei der Erinnerung. Doch nun mussten die beiden gehen. Schon früh entdeckte man ihre Gabe. Wasser ist ihr Element, wortwörtlich. Der rotbraune Drache, welcher seine scharfen Krallen in ihr Fleisch an der Schulter bohrte, war unübersehbar. Manchmal, wenn Dai etwas mit Wasser machte, brannte ihre Schulter. Eine alte, weise Frau riet ihnen, Meister Ipo zu besuchen. Der nahm die beiden freundlich auf und zeigte ihnen, wie sie mit ihren Kräften umgehen sollten. Und dann erklärte er ihnen etwas über die Drachen und das Ritual. „Erde an Dai, bist du noch auf Empfang?“ Dai schreckt zusammen. Ihr Bruder Schè steht vor ihr, seine kühlen, dunkelblauen Augen sehen sie forschend an. Sie wischt sich über die Augen und sagt dann: „Tut mir leid, was wolltest du noch gleich?“ Er seufzt und erklärt: „Ich finde, wir sollten noch ein bisschen jagen gehen!“ Er deutet auf seinen Bogen. Dai nickt und greift nach ihrer Steinschleuder. Sie bückt sich und sucht sich drei große Steine. Einen legt sie in die Lederöse, die anderen steckt sie sich in ihre Tasche. Sie bedeutet ihm, dass er in eine andere Richtung gehen soll. Er nickt und dreht sich um. Sie beschließt, sich in einem Gebüsch auf die Lauer zu legen und den Rucksack neben sich zu lagern, falls sie schnell losrennen muss. Und dort wartet sie. Zwischendurch nippt sie an ihrer Flasche, knabbert an dem trockenem Beißerfleisch. Plötzlich erspäht sie ein kleines Kaninchen. Sie wirbelt ihre Schleuder und feuert den Faustgroßen Stein auf das arme Kaninchen ab. Es wird an der Schulter getroffen. Die Wunde sieht schlimm aus, trotzdem rennt das kleine Kaninchen weg. Dai springt aus dem Gebüsch und hastet hinter ihm her. Nur wenige Meter später stürzt das Kaninchen und will sich gerade aufrappeln, da ist Dai über ihm. Es ist etwa so groß wie ihre Hand und ziemlich buschig, doch besser als nichts. Sie macht ihm den Garaus, indem sie ihm die Kehle durchschneidet. Dann bindet sie es an den Hinterläufen an ihrem Gürtel fest. Sie kehrt zufrieden zurück an ihren Platz. Dort legt sie sich weiter auf die Lauer, doch auch nach einer halben Stunde kommt nichts mehr vorbei. Sie steht auf und macht sich auf den Weg zu der Stelle, an der sich die beiden Geschwister getrennt haben. Unterwegs findet sie noch ein paar nicht giftig aussehende Beeren und isst probehalber eine. Sie schmecken nach Himbeeren, weshalb sie beschließt, welche einzupacken. Dann isst sie noch eine und geht weiter. Schè ist noch nicht da. Deshalb setzt sie sich an das Ufer des kleinen Baches, der ganz in der Nähe ist. Sie lässt das Wasser um ihre Hände fließen, wäscht ihr Knie aus. Sobald das Wasser ihr Knie berührt, verheilt die Wunde vor ihren Augen wie von selbst. Sie kennt das. Meister Ipo hat es ihnen gezeigt. Immer, wenn sie sich beim Training verletzte, ließ sie einfach etwas Wasser über die Stelle laufen und die Wunde war weg. Der Meister meinte sogar, dass sie sich so sogar vor dem Tod bewahren konnte. Deshalb trägt sie immer eine Wasserflasche am Körper. Sie hört ein leises Rascheln. Erschrocken fährt sie herum. Schè erscheint. An seinem Gürtel hängt ein Star. Dai lächelt und hebt ihr kleines Kaninchen hoch. „Nicht viel, aber ich denke, dass wir über die Runden kommen!“ Schè beginnt, etwas trockenes Holz auf einen Haufen zu legen. Dann kramt er in seinem Rucksack nach Streichhölzern. So zündet er ein bescheidenes Feuerchen an, um ihr erbeutetes Fleisch zu braten. Dai reicht ihrem Bruder das Kaninchen und macht sich auf, nach Beeren oder Nüssen zu suchen. Sie hat noch nie ein Tier ausgenommen. Wenn sich mal ein Truthahn oder ein Beißer in dem Stacheldrahtzaun um ihr Feld verfing, dann nahm ihre Mutter ihn aus und kochte ihn über der Feuerstelle. Wenn Vater und Schè dann noch Pilze, Nüsse, Beeren oder Kräuter im Wald gefunden haben, dann konnten Mutter und sie eine leckere Suppe machen. Fleisch war ein sehr gern gesehener Ersatz zu Backwaren und Gemüse. Hin und wieder, wenn es ziemlich günstig war, konnte Dai vom Markt das ein oder andere Stück Rind oder Huhn erbeuten. Das war dann ein besonderes Mahl, genau wie Truthahn oder Beißer. Doch damals nahm ihre Mutter die Tiere aus. Und jetzt tut es Schè. „Dai! Komm her!“ Dai dreht sich um. In der Hand hält sie einige ziemlich essbar aussehende Wurzeln. Sie bringt sie Schè. Eigentlich kennt sich Dai ziemlich gut mit Pflanzen aus, doch hier ist ihr der Name entfallen. Während sie die Wurzeln wäscht und schält, brät ihr großer Bruder das Fleisch. Er ist zwar nur zweieinhalb Jahre älter, aber tut so, als müsse er Dai beschützen. Dabei kann sie ziemlich gut auf sich selbst aufpassen. Sie probiert einen Bissen der Wurzel. Sofort steigen ihr durch den bitteren Geschmack Tränen in die Augen. Jetzt weiß sie es. Es ist Ingwer. Sie schneidet den Ingwer in Scheiben und gibt Schè die Hälfte. Auch er verzieht das Gesicht, als er gespannt eine Scheibe isst. „Bäh, was ist das! Schmeckt ekelhaft!“ Dai beruhigt ihn: „Ist nicht giftig, aber reich an Vitaminen!“ Schè reicht ihr ein bisschen des getrockneten Fleisches. Sie nimmt sich den letzten Streifen getrockneten Beißer, dann legt sie das frisch gebratene Fleisch in den Lederbeutel. Genüsslich kauend packen die beiden zusammen, füllen ihre Flaschen auf und gehen. Das Kaninchen ist zart und saftig. Sie setzt sich zuletzt ihren Rucksack auf den Rücken und schlüpft durch den Träger. Schè packt ihre Hand und sagt: „Und jetzt, Dai, passt du am besten mal ausnahmsweise auf, wo du hintrittst!“ Dai schüttelt lachend den Kopf und erwidert: „Mach ich doch immer, Brüderlein!“ Auch er lacht und beide machen sich auf.
Sie bahnen sich den Weg durch verschlungene Pfade und undurchdringbares Gestrüpp. Als sie endlich wieder auf eine Lichtung kommen, auf der ein kleiner See ist, nähert sich die Sonne langsam dem Horizont. Sie sind heute gut vorangekommen. Wenn sie Glück haben, dann können sie morgen schon im Tal der Elfen sein. Dai freut sich auf die Elfen. Meister Ipo war auch bei ihnen, als er noch kleiner war. Bei seiner ersten Reise zum Mondstein haben sie ihn praktisch vor dem Tode bewahrt. Er wurde von ein paar Beißern verfolgt und einige Elfen haben ihn gefunden und gerettet. Beim zweiten Mal kam er zu ihnen, weil er ihren Rat brauchte. Elfen sind schlaue Wesen. Manche sagen, sie können die Zukunft voraussagen. Und das dritte Mal ist er durch Zufall in ihr Dorf gestolpert und gleich ein paar Tage geblieben. Dai setzt ihren Rucksack, der jetzt Tonnen zu wiegen scheint, ab und reibt sich die schmerzenden Schultern. Es ist angenehm warm, solange die Sonne scheint. Doch sobald sie verschwindet, holt die unendlich kalte Nacht sie ein. Dai isst noch etwas Ingwer und schluckt ihn mit etwas Wasser runter. Dann kippt sie sich Wasser über die Schultern. Augenblicklich verschwindet der Schmerz und macht dem angenehmen Gefühl von Nässe Platz. Dai sagt: „Mach du das Feuer!“ Er antwortet: „Nein, mach du!“ Sie schüttelt den Kopf. „Ich habe Angst vor Feuer! Das weißt du!“ Sie schiebt die Unterlippe vor und schaut ihn an. Er lacht und sagt: „Komm schon, es wird dir nichts passieren!“ Sie seufzt und sagt ernst: „Schè, bitte! Ein kleiner Funke reicht, um mir Schmerzen zu bereiten! Bitte, mach du das Feuer!“ Er nimmt ein paar trockene Äste und zaubert ein wunderschönes Feuer hin. Dai rutscht unbehaglich hin und her. Er schubst sie an. „War doch nicht schwer!“, tadelt er sie. Sie schubst ihn weg und sieht ihn gespielt beleidigt an. Er lacht und sie rollt sich auf den Rücken. Schè ruft „Attacke!“ und wirft sich auf Dai. Beide rangeln ein bisschen, bis sie keuchend nebeneinanderliegen und beobachten, wie die rote Scheibe sich dem Horizont näher. „Bald kommen die Lichter. Ich hab dir versprochen, etwas über sie zu erzählen, weißt du noch?“ Schè stupst sie an und deutet auf den Himmel über ihnen. Dai nickt und lächelt. Sie blickt ihrem Bruder fest in die tiefblauen Augen. Plötzlich hören die beiden ein Rascheln. „Schè, was ist das?“, fragt sie und klammert sich an ihn. Mit ängstlichen Blicken betrachtet sie die Umgebung. Plötzlich bricht zwischen den Schatten der Büsche eine Gestalt durch. Schè, der die Hand an seinem Messer hat, ruft: „Hey!“ Er zieht das Messer hervor und steht auf. Die breiten Schultern ihres Bruders sind gespannt, bereit, sich auf die Gestalt zu stürzen. Das erkennt Dai sogar im Licht der untergehenden Sonne. Die Gestalt taumelt ins Licht. Dai erkennt eine weibliche Form. „Halt!“, warnt Schè sie und stellt sich schützend vor sie. Doch diese steht auf. Die junge Frau hält sich ihre Seite, auf den Schultern hat sie einen großen Rucksack. Dai schiebt Schè beiseite und tritt vor. „Hey, ich bin Dai! Wer bist du?“ Neugierig betrachtet sie sie. Das Mädchen ist höchstens 14, also knapp zwei Jahre älter als Dai. Sie hat dunkelbraunes Haar und dunkelgrüne Augen. Sie sieht mager aus, obwohl sie einen guten Bogen um die Schultern trägt. „Oh, hey! Tut mir leid, dass ich euch erschreckt habe, ich bin nur schon seit Tagen auf der Suche nach dem Elfental. Ich bin auf dem Weg zum Mondstein und habe mich dummerweise verlaufen! Habt ihr eine Ahnung, wo es langgeht?“ Schè scheint sich ein wenig zu entspannen, er setzt sich hin und legt das Messer neben sich ab, immer noch in Reichweite. Sie setzt sich vor die beiden Geschwister. „Wir sind auch auf dem Weg zum Mondstein. Vielleicht kannst du mit uns kommen!“ Sie erwidert: „Ich weiß nicht. Vielleicht ist es nicht unvernünftig. Zu dritt hat man bessere Chancen gegen Beißer und anderes Ungetier!“ Schè fragt, mit etwas Skepsis in der Stimme: „Wie heißt du? Ich bin Schè, das ist meine kleine Schwester Dai!“ Hab ich doch schon gesagt!, denkt sich Dai ärgerlich und schaut dann gespannt zu dem Mädchen. Dieses schüttelt den Kopf und erklärt: „Ich heiße Pëp!“ Dai erwidert: „Das ist ein wirklich schöner Name!“ Pëp lächelt schüchtern und legt den Kopf schief. Dai krabbelt auf den Knien zu der Feuerstelle, doch hält vorsichtshalber Abstand zu den bedrohlichen Flammen, die ihr, wie sie leider lernen musste, sehr schnell sehr starke Verbrennungen zufügen können. Sie nimmt ein wenig des Fleisches, welches sie noch haben, und serviert es mit einigen Beeren und etwas Ingwer auf drei Blättern. Die anderen beiden rutschen näher zum Feuer. „Wow, so gut habe ich seit Tagen nicht mehr gegessen!“, nuschelt Pëp und leckt sich die Lippen. Dai grinst und beißt etwas Star ab. Als Pëp einen Bissen vom Ingwer wagt, steigen ihr die Tränen in die Augen und sie wedelt mit ihren Armen. „Ingwer, wenn ich mich nicht irre!“, keucht sie. Dai nickt, weiterhin grinsend, und auch Schè hebt die Augenbrauen, sichtlich vergnügt. Es ist toll, sich mit einem anderen Mädchen zu unterhalten, nicht immer nur mit dem eigenem Bruder. Pëp schluckt schwer und fährt sich durch ihr langes Haar. Dai schaut in den schier endlosen Himmel. Die letzten Sonnenstrahlen scheinen auf sie herab, doch es wird zunehmend Kälter. Schè rutscht etwas näher an das Feuer und sagt: „Dai, wir verschieben die Lichterkunde auf morgen, okay?“ Diese nickt. Schè hat recht, sie haben anderes zu tun. „Hey, Pëp, am besten halte ich die erste Nachtwache, damit du ausruhen kannst!“ Dai fügt hinzu: „Ich übernehme den zweiten Teil!“ Pëp sieht die beiden eindringlich an, doch schließlich sind sie alle von den Göttern auserwählt. Sie müssen zusammenhalten. Deshalb gibt sie nach, die Erschöpfung ist ihr ins Gesicht geschrieben. Dai und Schè vernichten die Reste des Abendessens, während Pëp die Schlafsäcke rausholt. Sie selbst hat glücklicherweise auch einen. Dai und Pëp legen sich nebeneinander. Das Feuer und die Nähe des anderen wärmt sie und so schlafen beide beruhigt ein.

Dai wird von Schè geweckt. Sie setzt sich auf und reibt sich gedankenverloren die Stirn. Der Mond scheint hell vom Himmel. Schè rollt sich in seinen Schlafsack ein und schließt die Augen. Sie steht auf, doch sofort sehnt sie sich nach der Wärme ihres Schlafsackes. Sie streckt sich, dehnt ihre Muskeln und fährt sich übers Gesicht. Im hellen Schein des Mondes klettert sie auf einen Baum nahe dem See und ihren beiden Gefährten. Pëp liegt, in ihren Schlafsack gerollt, da, wie ein Baby. Dai beschließt, ihr voll und ganz zu vertrauen. Sie denkt nicht, dass das Mädchen den beiden Geschwistern gefährlich werden könnte. Schließlich ist sie allein gegen die beiden. Und außerdem verfolgen sie alle ein Ziel: den Mondstein. Dai zieht sich in eine Astgabelung und betrachtet die Lichter hoch am Himmel. Sie zeigen uns den Weg, überlegt Dai und lächelt. Während sie den nächsten Morgen abwartet und die schlafenden Gestalten bewacht, ritzt sie mit ihrem Messer Zeichen in die Rinde des Baumes. Als der Himmel langsam anfängt zu grauen, klettert sie ihren Baum hinunter und kehrt zum Lager zurück. Auf dem Weg hält sie an dem See. Sie kniet sich an den Rand des Wassers und berührt das Wasser. Ein brennender Schmerz durchzuckt sie, von ihrer Schulter ausgehend. Sie beißt sich auf die Lippe. Es ist, als würde ihr jemand Krallen in die Schulter bohren. Der Schmerz verharrt einige Sekunden, dann lässt er nach und hinterlässt ein mildes Gefühl der Wärme. Dai schöpft eine Handvoll Wasser und lässt sich das kühle Wasser in den Mund laufen. Dann spritzt sie sich das Wasser ins Gesicht und taucht ihre Arme bis zu den Ellenbogen hinein, und auch über ihre Schulter lässt sie es laufen. Dann steht sie auf, fährt sich durch ihre Haare, flechtet sich erneut einen Zopf und zieht ihr Shirt zurecht. Es ist aus grobem Stoff gemacht und mit Kordel und anderen Sachen verziert. Ihre Hose ist aus einem ähnlichen Stoff und relativ dünn. Trotzdem wärmt sie sie ziemlich gut. Ihr Haargummi hat sie selbst gemacht. Aus altem Gummi und etwas Stoff. Sie lächelt. Dann kniet sie sich neben das Feuer und schürt es etwas. „Wir sollten so schnell wie möglich loslaufen. Dann schaffen wir es vielleicht vor Sonnenuntergang bis zum Elfental, doch Essen hat erst mal oberste Priorität!“, sagt sich Dai und packt ihre Vorräte aus den Taschen. Doch sie beschließt, in den Bäumen nach Eiern zu schauen. Und vielleicht findet sie noch ein paar Beeren oder Wurzeln. Also schlendert sie durch den Wald, immer in Sichtweite der Lichtung. Während die Sonne langsam aufgeht, den Himmel orange färbt und den Wald zum Leben erweckt, kann Dai einen Strauch mit Brombeeren ausfindig machen. Außerdem findet sie ein paar Haselnüsse. Sie kehrt zurück und teilt die Beute gerecht auf, während ihr Bruder und Pëp langsam aufwachen. „Morgen Dai!“, nuschelt Schè und reibt sich die Augen. Pëp schaut sich um, dann fällt ihr Blick auf das Essen. „Wartet! Ich habe noch etwas!“ Sie kramt in ihrem Rucksack und hält dann einen Beutel hoch. Dai nimmt ihn und findet Brennnesselblätter und etwas Löwenzahn. „Daraus können wir vielleicht noch Tee machen! Die Blätter scheinen noch halbwegs frisch zu sein. Wartet …“ Sie rennt zu ihrer Tasche und zieht einen Beutel heraus. Dann schöpft sie etwas Flusswasser und stellt es vor sich. Sie schließt die Augen und konzentriert sich. Dabei umschließt sie mit ihren Händen den Beutel. Langsam spürt sie, wie sich der Beutel aufheizt. Der Druck in ihren Ohren steigt. Ihre Haut fühlt sich nass an. Nass und warm. Das Wasser wird wärmer. Alle Instinkte in ihr schreien nahezu, sie soll den Beutel loslassen. Aber sie klammert sich an ihn, als wäre es ihr Leben. Sie kneift die Augen weiter zu, beißt sich auf die Lippe. Langsam verschwimmen alle Geräusche. Sie werden leiser und undeutlicher. Alles um sie herum scheint sich zu drehen. Wann ist es fertig?, fragt sie sich und öffnet eines ihrer Augen ein Stück. Doch da ist nichts. Nur die Wiese, der See, ihr Lager. Und Schè, neben ihm eine besorgt dreinguckende Pëp. „Was … war das?“, will sie zaghaft wissen, nachdem Dai aufgestanden ist und den Beutel mit dem fast kochenden Wasser Schè gegeben hat. „Ich bin eine Pluta. Ich beherrsche das Wasser!“ Ihr wird bewusst, dass sie noch nicht mal weiß, was für eine Kraft Pëp besitzt. Deshalb fügt sie schnell hinzu: „Und du?“ Pëp räuspert sich und antwortet: „Ich bin Raî!“ Raî. Dai erinnert sich. Raî sind schlau. Sie können sich viel mehr merken und Dinge schneller erlernen. Davon hat Meister Ipo berichtet. „Schè, was ist mit dir?“, fragt Pëp und beginnt, die Haselnüsse zu knacken. Schè antwortet: „Meine Kraft heißt Latia und heißt, dass ich gut mit Waffen umgehen kann!“ Pëp antwortet: „Davon habe ich schon mal was gehört. Womit kämpfst du bevorzugt?“ Schè nimmt seinen Bogen und zeigt ihn hier. Dai blickt zum Himmel. In weniger als einer halben Stunde wird die Sonne ganz aufgegangen sein. Sie müssen sich beeilen. Schè hat die Blätter schon in den Topf gegeben. Dai streicht über die feste Tierhaut, aus der der Beutel ist, um so das Wasser warm zu halten. Ungeduldig ruft sie ihren Gefährten zu: „Leute, packt schon mal! Wir müssen bald los, wenn wir heute noch das Dorf der Elfen erreichen wollen!“ Die beiden Älteren nicken und beginnen, das Lager abzubauen. Dai stellt den Beutel hin und kniet sich vor das Feuer, das mittlerweile nur noch aus Glut besteht. Sie versucht, sich zu konzentrieren. Es hat schon mal geklappt. Doch diesmal will ihr das Wasser nicht gehorchen. Sie dreht sich zum Bach. Sie hat eine Welle von Wasser erwartet, die das Feuer löscht. Doch stattdessen ist das Wasser nur ein wenig über den Rand geschwappt. Sie taucht ihre Hand in das Wasser und schöpft es so die wenigen Meter bis zum Feuer. Als die gröbste Glut erloschen ist, zertrampelt Dai die Asche und die restliche Glut. Schè und Pëp haben schon die Schlafsäcke zusammengerollt und die Planen verstaut. Dai nimmt den Beutel und stellt ihn in die Mitte der drei. Sie knien sich auf das feuchte Gras und trinken schweigend von dem heißen Tee. Dabei essen sie die Nüsse, die Pëp geknackt hat, und die Brombeeren. Es ist ein einfaches Frühstück, aber die drei geben sich damit zufrieden. Sie müssen sich das Fleisch aufbewahren. Sie wissen nicht, wann es wieder die Gelegenheit gibt, zu jagen. Schließlich müssen sie heute eine weite Strecke zurücklegen. „Alles in Ordnung, Dai? Wir schaffen das! Mach dir keinen Stress! Wenn wir es heute nicht zum Dorf schaffen, dann aber morgen!“ Auch wenn Dai und Schè sich hin und wieder streiten, eigentlich ist sie froh, ihn als großen Bruder zu haben. „Okay, danke!“, nuschelt sie und lehnt sich gegen ihn.

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