Die magischen Welten
Samuel Coats
EUR 20,90
EUR 12,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 162
ISBN: 978-3-99038-756-6
Erscheinungsdatum: 15.04.2015
Die Zwillingsgeschwister Cedric und Pauline werden von einem mysteriösen Mann aus dem Waisenhaus geholt. Doch dieser lässt die Kinder immer häufiger alleine, um auf Reisen zu gehen. Was steckt dahinter? Die Kinder folgen ihm als blinde Passagiere und stoßen auf eine schmerzliche Wahrheit.
Kapitel 1
Die Wahrheit
Das Jahr 2010: Es regnete in Strömen. Der Londoner Wetterbericht meldete Gewitter für die ganze Woche. Im Zentrum der grossen Stadt stand das Waisenhaus, in dem Cedric und seine Zwillingsschwester Pauline lebten, seit sie vier Jahre alt waren. Es war ein grosses, mehrstöckiges, in bunten Farben gestrichenes Gebäude mit einem runden, mintgrünen Kuppeldach.
Pauline hatte lange rote Haare und blaue Augen. Cedrics Haare waren kastanienbraun und stachelig. Auch seine Augenfarbe war blau. Kommende Woche würde ihr zehnter Geburtstag sein und sie hatten noch immer kein neues Zuhause gefunden. Sie wussten nicht, wer ihre Eltern waren. Trotzdem konnten sie sich an einige Dinge erinnern: Pauline war sich ganz sicher, dass ihre Mutter, wenn sie morgens die Wäsche gemacht hatte, eine Musik, den Beatles nicht unähnlich, gehört hatte. Cedric konnte sich daran überhaupt nicht erinnern, dafür wusste er, dass ihr Vater jeden Morgen das gleiche Apfelmüsli gegessen hatte. Cedric hatte auch nie vergessen, dass der Hersteller des Müslis eine Firma gewesen war, die „Start your days with Apple“-AG hiess.
Cedric sass vor dem Fenster und beobachtete den Regenschauer. Der Regen war so stark, dass sogar die Fenster einen weinenden Eindruck machten. Es war Sonntagabend. Unten am Ausgang des Waisenhauses sah Cedric ein junges Ehepaar mit einem frisch adoptierten Jungen zu ihrem Wagen gehen. Das war natürlich nicht das erste Mal, dass er ein solches Traumende beobachten musste, und es war auch nicht das erste Mal, dass er sich dabei so allein fühlte.
In diesem Moment kam Pauline zur Tür herein und musterte ihren Bruder mit besorgter Miene. „Was hast du?“, fragte sie, während sie sich ihre noch vom Duschen nassen Haare trocknete.
„Ich habe gar nichts“ sagte Cederic, der inzwischen gelernt hatte, seine Tränen zu unterdrücken. Er wusste, dass sich Pauline mindestens genauso sehr wie er eine neue Familie wünschte und er wollte sie nicht daran erinnern, dass wieder ein anderes Kind ausgewählt worden war und sie nach wie vor nur sich als Familie hatten. Es gab Tage, da dachte Cedric, er würde das Waisenhaus nie verlassen, aber Pauline wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Cedric bewunderte diese Stärke. Sie war fest überzeugt, dass sie eine Familie finden würden. Das hatte sie sich seit fünf Jahren zu jedem Weihnachten gewünscht. Auch dieses Jahr war es ihr grösster Wunsch gewesen. Pauline sah ihn lange an, dann zuckte sie mit den Schultern und trocknete ihre Haare weiter. Danach ging sie zurück ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen.
Cederic liess an diesem Abend das Abendessen aus, ging früh zu Bett und träumte die verrücktesten Dinge: Er kämpfte in einer strahlenden Rüstung gegen einen giftgrünen Drachen und rettete eine wunderschöne Prinzessin vor einem dunklen Magier. Cedric wusste nicht so recht warum, aber immer nach solchen Träumen fühlte er sich frisch und aufgeregt. Als die strahlende Sonne am wolkenlosen Himmel aufging, ging es ihm ein wenig besser. Weil er so gute Laune hatte, freute er sich sogar auf das Frühstück.
Am mittleren der drei Frühstückstische sassen Pauline und ein paar andere Kinder. Glücklich strahlend winkte Pauline Cedric zu sich, als sie ihn bemerkte. Er setzte sich neben sie an den langen hölzernen Tisch und nahm sich einen Teller mit gebackenen Bohnen.
„Seid ihr auch so aufgeregt wie ich?“, wandte sich ein Mädchen, mit langen schwarzen Haaren, vom Nebentisch an Cedric und Pauline.
„Wieso aufgeregt?“, fragten sie wie aus einem Munde.
Das Mädchen runzelte die Stirn. „Na, weil heute der neue Besuchstag ist!“
In diesem Moment fiel es den Zwillingen wieder ein. Heute war der nächste Tag, an dem sich Interessenten ein Kind aussuchten, das sie adoptieren wollten. Jede Woche gab es einen solchen Tag. Wenn viele Leute Interesse hatten, gab es manchmal sogar zwei.
„Schnell, schnell, zieht eure Besuchskleidung an und kommt in den Garten“, hörte man Miss Fletcher, die Leiterin des Waisenhauses, rufen. Sie war sechsundfünfzig Jahre alt, hatte wollige weisse Haare und trug eine silberne Brille. Wie fast immer war sie auch an diesem Tag in Smaragdgrün gekleidet.
Rasch huschten die Kinder in ihre Zimmer und zogen ihre beste Kleidung an. Cedric und Pauline teilten sich ein Zimmer im ersten Stock. Sie hatten zwei lange Betten, die aus feinstem Bambusholz gefertigt waren. Die grünen Matratzen waren aus dem städtischen Matratzenhaus, die blauen Bettlaken stammten von einer wohltätigen Firma, ebenso wie die bunten Kissen. Die Zimmerwände waren schneeweiss gestrichen. Des Weiteren gab es einen hölzernen Schreibtisch, mit einer kleinen roten Lampe und einem Minimodell der Titanic darauf. Davor stand ein aus grünem Stoff gemachter Bürostuhl. An den Wänden hingen verschiedene Poster von Bands und Fernsehserien. Gleich neben den Betten befand sich ein grosser türkis angemalter Kleiderschrank.
Cedric trug nun eine marineblaue Jacke, eine dunkelgrüne Kappe, alte schwarze Turnschuhe und eine schwarze Hose. Pauline trug eine lange Jeanshose, ein Oberteil des Waisenhauses – ein hellgrünes T-Shirt mit Logo – und ein Paar brandneue hellblaue Turnschuhe. Diese hatte sie am vorigen Spielabend beim Lotto gewonnen. Gleich nachdem sie ihre schmutzige Kleidung in die interne Wäscherei gebracht hatten, gingen Cedric und Pauline in den Garten, der vor dem Waisenhaus lag. Es war ein sehr üppiger Garten: grüner Rasen, viele Büsche und ein kleines Gemüsebeet. Die beiden liebten diesen Ort, denn immer am Jahresanfang durften die Kinder ihre Lieblingspflanze in die warme Erde eingraben. Wie an jedem Besuchstag war der Garten auch diese Woche mit Girlanden und Ballons in allen Farben geschmückt. In der Mitte standen einige Tische, jeder so gross, dass zwei Bänke daran Platz hatten. Ein kleines Stück hinter einem mit Snacks vollgeladenen Tisch hatten sich die anderen Kinder um Miss Fletcher versammelt.
„Hört mir doch bitte kurz zu!“, hörte Cedric Miss Fletcher durch das Murmeln der Kinder rufen. Prompt verstummten alle auf Kommando. „Wie ihr wisst, habe ich wieder ein paar nette Leute eingeladen, die einigen von euch ein neues Zuhause bieten wollen“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Ich wünsche euch natürlich allen, dass ihr ein geborgenes neues Zuhause findet.“ Miss Fletcher ging zum goldenen Tor, das den Zaun um das grosse Gelände noch eleganter aussehen liess. Mit einem kräftigen Ruck öffnete sie das Tor und eine Masse von Menschen strömte herein. Es waren Menschen verschiedenen Alters, grösstenteils Ehepaare. Nach dem Essen stellten sich die Kinder und die Besucher einander vor. Es verging eine halbe Stunde. Schon über die Hälfte der kleinen Kindergruppe hatte sich inzwischen mit jemandem angefreundet. Nur um Cedric und Pauline schien sich keiner gross zu kümmern. Das war schon von Anfang an so gewesen. Irgendetwas unterschied sie von den anderen Kindern. Als wären sie von einer giftigen Rauchwolke umgeben. Nur was?
Gerade als sie, voller Enttäuschung, zurück ins Haus gehen wollten, wandte sich ein älterer Mann in einem dunkelgrünen Regenmantel und goldenem Spazierstock an die beiden Kinder. „Hallo, wie heisst ihr zwei Hübschen denn?“, fragte der Mann in höflichem Ton. Überrascht antwortete Cedric dem Mann: „Ich bin Cedric Conners und das ist meine Schwester Pauline.“ Pauline nickte höflich. Sie sah den Mann neugierig an. „Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
Der Mann lächelte. „Ich heisse Paul Brunch.“ Mister Brunch beugte sich zu den beiden Geschwistern herunter und sagte: „Ich weiss, wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber ich würde euch gerne bei mir aufnehmen.“ Brunch musterte die Geschwister neugierig. Sehr neugierig sogar.
Pauline konnte nicht an sich halten, sie stürmte auf Mister Brunch zu und umarmte ihn so fest sie konnte. Davon hatte sie so lange geträumt! Tränen der Erleichterung rannen ihre Wangen herab.
„Schon gut, ich schätze, du machst mit“, sagte Mister Brunch lächelnd.
Cedric konnte es nicht fassen! Seit fünf Jahren lebten er und Pauline schon im Waisenhaus und noch nie hatte jemand auch nur daran gedacht, ihnen ein neues Zuhause bieten zu wollen, und jetzt tauchte plötzlich ein Mann auf und bot ihnen nach einem so kurzen Gespräch sein Zuhause an? Cedric warf Mister Brunch einen leicht misstrauischen Blick zu, als dieser zu Miss Fletcher ging und sie ansprach. Sie schien angenehm überrascht zu sein, als er auf Cedric und Pauline deutete.
Nach einem kurzen Gespräch kamen die beiden Erwachsenen zu Cedric und Pauline herüber. „Cedric, Pauline, Mister Brunch hier sagt, er möchte euch adoptieren“, meinte Miss Fletcher und beugte sich zu den beiden herunter.
Cedric hasste es, dass sich jeder Erwachsene partout zu ihm beugen musste, denn das machte ihm jedes Mal bewusst, wie klein er war. Seine Grösse ärgerte ihn. Schon oft hatte er sich gewünscht, er wäre jetzt schon so gross wie ein Erwachsener. Natürlich war dieser Wunsch bis heute unerfüllt geblieben.
„Hört zu, ich weiss, wie sehr ihr euch ein neues Zuhause wünscht, aber damit ich der Adoption zustimmen kann, muss ich euch eine sehr wichtige Frage stellen.“ Miss Fletcher klang ernst. Cedric und Pauline wussten, dass ihre Stimme, wenn es um die Arbeit ging, immer einen ernsten Tonfall annahm. „Seid ihr euch vollkommen sicher, dass ihr zu Mister Brunch ziehen wollt?“, fragte sie. „Eure Meinung und euer Glück zählen hier am meisten.“ Es entstand eine kurze, nachdenkliche Pause.
„Ich würde gerne zu Mister Brunch ziehen“, sagte Pauline und lächelte schüchtern.
„Und du?“, fragte Miss Fletcher nun Cedric.
„Klar, ich auch“, sagte er und versuchte, möglichst heiter zu wirken.
Für einen Bruchteil einer Sekunde trat ein merkwürdiger Ausdruck in Miss Fletchers Augen. Sogleich verflüchtigte sich dieser wieder. „Nun, dann ist die Sache ja entschieden, nicht wahr?“, hauchte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Mister Brunch, dessen Blick rasch in Richtung der Parkplätze und wieder zurück wanderte. „Wie wäre es, wenn wir das Gespräch in meinem Büro fortsetzen? All dieser lästige Papierkram muss den Kindern doch nicht unnötig aufgelastet werden!“
Brunchs Gesicht legte sich in Falten, doch dann brachte er ein Lächeln zustande. „Gerne, haben Sie Tee? Ich könnte einen vertragen.“
„Gewiss. Hört mal ihr zwei, wie wäre es, wenn ihr euch einfach am Snacktisch bedient? Es wird nicht allzu lange dauern.“ Die Kinder nickten und als die beiden Erwachsenen sich schliesslich zum Gehen wandten, sah Cedric ihnen noch lange hinterher.
Von einer obskuren Missbilligung erfüllt, sass Miss Fletcher auf einem braunen Lederstuhl inmitten ihres weitläufigen Büros. Sie hatte dem prächtigen Doppelfenster den Rücken zugekehrt und blickte stirnrunzelnd in das Gesicht von Mister Brunch. „Warum?“ Ihre Stimme, mit der sie die kurzzeitig eingetretene Stille beendet hatte, klang ungewohnt schwach. Mister Brunch wurde ernst. „Sie können es sich doch vermutlich denken, oder?“ Miss Fletcher stand ruckartig auf und funkelte den Besucher zornig an. „Was ich mir denken kann ist dies: Wir hatten eine Vereinbarung! Diese kam zustande, dadurch dass mein Mann und ich vor sechs Jahren diese zwei Kleinkinder in einem Korb auf unserer Hausschwelle fanden, mit einem Brief, der ihre Herkunft und Geschichte erklärte und wir sie behielten! Wir würden für diese Kinder sorgen! Wir haben sie aufgenommen, ihnen eine Schule gesucht, ihnen vorgelesen, wenn sie Angst vor dem Einschlafen hatten, sie gepflegt, wenn sie krank wurden!“ Ihre Stimme brach ab.
Mir war nie klar, wie wichtig mir diese Kinder geworden sind. Bin ich deshalb so wütend auf ihn? Habe ich Angst sie niemals wiederzusehen?
Mister Brunch erhob sich rasch und liess sanft die Hand auf eine ihrer zierlichen Schultern sinken. Er schluckte. „Als ich die Kinder bei Ihnen ablegte, da habe ich darum gebeten ihnen eine gute Erziehung und ein möglichst unbeschwertes Leben zu ermöglichen – solange, bis man sie wieder abholen würde. Nun, so Leid es mir tut, jetzt ist dieser Tag gekommen. Ich hole sie ab. Aber ich werde niemals vergessen, was Sie und Harry für die Kinder sind und getan haben.“
Sie starrte ihn an, war einige endlos scheinende Sekunden unfähig zu sprechen. „Dann sind die Auswirkungen der Tat also verarbeitet?“
„Ja, inzwischen ist die Wunde kleiner geworden.“
Miss Fletcher verengte die Augen. „Sie verheimlichen mir etwas. Und ich werde die Kinder keinem Mann überlassen, der mich belügt.“ Brunch seufzte. Er hatte befürchtet, dass ihre scharfsinnige Begabung Menschen zu durchschauen sie auch diesmal nicht im Stich lassen würde. Er zog seine Hand zurück, begann sogleich im Kreis zu gehen. Sein Blick wanderte über den weinroten Teppich, die vielen Gemälde und schliesslich hin zu den gerahmten Belobigungen und Lizenzen, welche hier und dort das vergilbte Orange der Wände durchbrachen. Gedankenverloren zupfte er sich am Bart während er unsicher schien, wie er sich am besten formulieren sollte. Als sich ihre Blicke wenig später abermals trafen, entschied er sich für die schlichtere Version. „Er ist zurück.“ Ihr Unterkiefer klappte herunter. „Du redest –ich meine, Sie reden von?“ Brunch nickte ernst. Miss Fletcher schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist unmöglich! Er ist tot! Und das schon seit Jahren. Ich hörte. Die Schlacht.“
„Was Sie gehört haben ist falsch. Er hat überlebt und ich habe den beunruhigenden Verdacht, dass er hinter den Kindern her ist.“
Das darf doch nicht wahr sein! „Und warum sind Sie dann hier? Warum stehen Sie nicht an der Front und suchen ihn? Hat die Regierung überhaupt schon angefangen ihn zu verfolgen?“ Brunch schüttelte den Kopf. „Nein. Bedauerlicherweise. Ein Freund von mir – ein Einsiedler namens Lenon, der abgeschieden in einer grossen Wüste lebt – hat seine Leute gesehen. In ihren alten Uniformen! Leider ist er der einzige und seine wenigen Nachbarn haben zudem keine allzu hohe Meinung von ihm. Ich weiss nicht wie es Ihnen geht, Teuerste, aber ich für meinen Teil sehe nur einen Grund weshalb sie sich wieder in ihrem Gewand zeigen sollten. Aber die Regierung ist noch immer voller Misstrauen. Zu viele verweigern sich auch nur der Idee, dass er noch am Leben sein könnte.“
Wenn er lebt, wenn er tatsächlich die Kinder jagt, dann befinden sich die beiden in furchtbarer Gefahr!
„Aber Sie glauben an seine Rückkehr?“ Brunch nickte bedächtig. Sein Blick wanderte zur Tür, als er ein dumpfes Geräusch vernahm. Er drehte sich blitzschnell um und stiess abrupt die Tür auf! Zwei kleine Kinder, die im Gang Ball gespielt hatten, rannten aufgeschreckt und mit wirbelnden Ärmchen davon. Erleichtert atmete Mister Brunch auf. Miss Fletcher hingegen stöhnte. „Glauben Sie er hat seine Leute hier postiert?“ Brunch nickte ernst als er die Tür hinter sich zugemacht und abgeschlossen hatte. „Es gibt Gerüchte, die diese Vermutung durchaus unterstützen. Dazu erhalten ich und einige hochrangige Mitglieder der Regierung seit einiger Zeit anonyme Botschaften.“ Er berichtete ihr in allen Einzelheiten davon. Sie war beunruhigt. Wenn er Recht hatte, dann mussten die Kinder in der Tat fort gebracht werden. Kein Wachmann der Welt vermochte solchen Feinden zu trotzen. Sie wandte sich ab, betrachtete eine Zeichnung an der Wand. Zwei bedürftige Kinder hatten ihr diese stolz vorbeigebracht. Sich elternloser, junger Menschen anzunehmen, brachte eine Vielzahl emotionaler Verantwortung mit sich. Die Sorge um Pauline und Cedric ging ihr nah. Sie blinzelte eine Träne weg.
Etwa eine halbe Stunde später kamen Mister Brunch und Miss Fletcher wieder in den Garten. Cedric und Pauline hatten in der Zwischenzeit die Obstschale geleert.
„So, es ist nun rechtlich, ihr dürft mit Mister Brunch mitgehen“, sagte Miss Fletcher in einer Mischung aus Trauer und Freude. „Ich werde euch vermissen, aber ich bin mir völlig sicher, dass ihr bei Mister Brunch ein gutes Zuhause finden werdet.“
„Darauf können Sie sich verlassen“, sagte dieser. „Meine Limousine trifft gleich ein, ich werde vor dem Tor auf euch warten. Geht doch schon mal packen.“ Mister Brunch ging auf das Tor zu. Schnell eilten Cedric und Pauline in ihr Zimmer und fingen mit Packen an. Pauline sah sich im Zimmer um. „Es ist ein komisches Gefühl zu wissen, dass wir dieses Zimmer zum letzten Mal sehen.“ Sie wirkte nachdenklich. Die Vorstellung ein anderer würde es bewohnen. Es war undenkbar. Die Jahre im Waisenhaus waren schliesslich nicht nur schlecht gewesen. Miss Fletcher und die verschiedenen Betreuer waren fair und anständig zu den Kindern. Trotzdem hatten sich die beiden stets nach richtigen Eltern gesehnt. Cedric packte sein letztes Harry Potter Buch ein. Als grosser Fan der Reihe hatte er selbstverständlich alle Bände gekauft. Cedric war noch immer misstrauisch. Auch er hatte natürlich lange von dem Tag geträumt, an dem jemand sie adoptieren würde. Jetzt wo es Wirklichkeit zu sein schien, konnte er es nicht richtig glauben. Es schien zu schön um wahr zu sein.
Doch dies war nicht seine grösste Furcht: Seit so langer Zeit waren er und Pauline allein gewesen, hatten nur sich gehabt, waren ein Team gewesen. Jetzt wo sie offenbar eine Familie gefunden hatten, würde ihr Band an Bedeutung verlieren?
Bereits eine Stunde später gruben sich die Rücken von Cedric und Pauline in die weiche, rote Rückbank von Mister Brunchs Limousine, während sie durch das kürzlich hereingebrochene Gewitter die Strassen von London entlangfuhren. Miss Fletcher hatte sie bis hin zum goldenen Tor begleitet, unentwegt plappernd, vergeblich darum bemüht ihre Trauer zu verbergen. Als sich die Türe der Limousine hinter ihnen schloss, verharrte sie noch lange an dieser Stelle, rang um ein Lächeln und blieb solange vor Ort, bis das edle Gefährt ausser Sichtweite war. Pauline durchbrach mit einem Räuspern das Schweigen. „Mister Brunch, darf ich Sie etwas fragen?“
„Ich wohne auf der Insel Brinches“, antwortete Mister Brunch, als hätte er gewusst, was Pauline fragen wollte.
„Brinches?“ Cedric war verwirrt. „Von dieser Insel habe ich noch nie gehört.“
„Ich auch nicht“, stimmte Pauline ihrem Bruder zu.
„Das wäre auch ein halbes Wunder!“, sagte Mister Brunch lachend. „In eurer Welt gibt es diese Insel nicht.“
„Unsere Welt?“, fragten die beiden Kinder wie aus einem Munde.
„Ich erkläre euch alles, wenn wir angekommen sind“, erwiderte Mister Brunch.
„Versucht etwas zu schlafen, denn wir sind mindestens zwei Stunden unterwegs.“ Er reichte ihnen Kissen.
„Na gut!“, sagten Cedric und Pauline und nahmen widerwillig die Kissen entgegen.
Während Cedric einschlief, versuchte er die Dinge, die Mister Brunch gerade gesagt hatte, so zu gestalten, dass sie einen Sinn ergaben. Doch wie sehr er sich auch bemühte, er konnte das einfach nicht verstehen.
Kaum waren die Zwillinge eingeschlafen, wandte sich der kleine Chauffeur der Limousine an Mister Brunch „Wann wollen Sie den beiden die Wahrheit sagen?“
„Bald“, antwortete Mister Brunch.
Die Wahrheit
Das Jahr 2010: Es regnete in Strömen. Der Londoner Wetterbericht meldete Gewitter für die ganze Woche. Im Zentrum der grossen Stadt stand das Waisenhaus, in dem Cedric und seine Zwillingsschwester Pauline lebten, seit sie vier Jahre alt waren. Es war ein grosses, mehrstöckiges, in bunten Farben gestrichenes Gebäude mit einem runden, mintgrünen Kuppeldach.
Pauline hatte lange rote Haare und blaue Augen. Cedrics Haare waren kastanienbraun und stachelig. Auch seine Augenfarbe war blau. Kommende Woche würde ihr zehnter Geburtstag sein und sie hatten noch immer kein neues Zuhause gefunden. Sie wussten nicht, wer ihre Eltern waren. Trotzdem konnten sie sich an einige Dinge erinnern: Pauline war sich ganz sicher, dass ihre Mutter, wenn sie morgens die Wäsche gemacht hatte, eine Musik, den Beatles nicht unähnlich, gehört hatte. Cedric konnte sich daran überhaupt nicht erinnern, dafür wusste er, dass ihr Vater jeden Morgen das gleiche Apfelmüsli gegessen hatte. Cedric hatte auch nie vergessen, dass der Hersteller des Müslis eine Firma gewesen war, die „Start your days with Apple“-AG hiess.
Cedric sass vor dem Fenster und beobachtete den Regenschauer. Der Regen war so stark, dass sogar die Fenster einen weinenden Eindruck machten. Es war Sonntagabend. Unten am Ausgang des Waisenhauses sah Cedric ein junges Ehepaar mit einem frisch adoptierten Jungen zu ihrem Wagen gehen. Das war natürlich nicht das erste Mal, dass er ein solches Traumende beobachten musste, und es war auch nicht das erste Mal, dass er sich dabei so allein fühlte.
In diesem Moment kam Pauline zur Tür herein und musterte ihren Bruder mit besorgter Miene. „Was hast du?“, fragte sie, während sie sich ihre noch vom Duschen nassen Haare trocknete.
„Ich habe gar nichts“ sagte Cederic, der inzwischen gelernt hatte, seine Tränen zu unterdrücken. Er wusste, dass sich Pauline mindestens genauso sehr wie er eine neue Familie wünschte und er wollte sie nicht daran erinnern, dass wieder ein anderes Kind ausgewählt worden war und sie nach wie vor nur sich als Familie hatten. Es gab Tage, da dachte Cedric, er würde das Waisenhaus nie verlassen, aber Pauline wollte die Hoffnung nicht aufgeben. Cedric bewunderte diese Stärke. Sie war fest überzeugt, dass sie eine Familie finden würden. Das hatte sie sich seit fünf Jahren zu jedem Weihnachten gewünscht. Auch dieses Jahr war es ihr grösster Wunsch gewesen. Pauline sah ihn lange an, dann zuckte sie mit den Schultern und trocknete ihre Haare weiter. Danach ging sie zurück ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen.
Cederic liess an diesem Abend das Abendessen aus, ging früh zu Bett und träumte die verrücktesten Dinge: Er kämpfte in einer strahlenden Rüstung gegen einen giftgrünen Drachen und rettete eine wunderschöne Prinzessin vor einem dunklen Magier. Cedric wusste nicht so recht warum, aber immer nach solchen Träumen fühlte er sich frisch und aufgeregt. Als die strahlende Sonne am wolkenlosen Himmel aufging, ging es ihm ein wenig besser. Weil er so gute Laune hatte, freute er sich sogar auf das Frühstück.
Am mittleren der drei Frühstückstische sassen Pauline und ein paar andere Kinder. Glücklich strahlend winkte Pauline Cedric zu sich, als sie ihn bemerkte. Er setzte sich neben sie an den langen hölzernen Tisch und nahm sich einen Teller mit gebackenen Bohnen.
„Seid ihr auch so aufgeregt wie ich?“, wandte sich ein Mädchen, mit langen schwarzen Haaren, vom Nebentisch an Cedric und Pauline.
„Wieso aufgeregt?“, fragten sie wie aus einem Munde.
Das Mädchen runzelte die Stirn. „Na, weil heute der neue Besuchstag ist!“
In diesem Moment fiel es den Zwillingen wieder ein. Heute war der nächste Tag, an dem sich Interessenten ein Kind aussuchten, das sie adoptieren wollten. Jede Woche gab es einen solchen Tag. Wenn viele Leute Interesse hatten, gab es manchmal sogar zwei.
„Schnell, schnell, zieht eure Besuchskleidung an und kommt in den Garten“, hörte man Miss Fletcher, die Leiterin des Waisenhauses, rufen. Sie war sechsundfünfzig Jahre alt, hatte wollige weisse Haare und trug eine silberne Brille. Wie fast immer war sie auch an diesem Tag in Smaragdgrün gekleidet.
Rasch huschten die Kinder in ihre Zimmer und zogen ihre beste Kleidung an. Cedric und Pauline teilten sich ein Zimmer im ersten Stock. Sie hatten zwei lange Betten, die aus feinstem Bambusholz gefertigt waren. Die grünen Matratzen waren aus dem städtischen Matratzenhaus, die blauen Bettlaken stammten von einer wohltätigen Firma, ebenso wie die bunten Kissen. Die Zimmerwände waren schneeweiss gestrichen. Des Weiteren gab es einen hölzernen Schreibtisch, mit einer kleinen roten Lampe und einem Minimodell der Titanic darauf. Davor stand ein aus grünem Stoff gemachter Bürostuhl. An den Wänden hingen verschiedene Poster von Bands und Fernsehserien. Gleich neben den Betten befand sich ein grosser türkis angemalter Kleiderschrank.
Cedric trug nun eine marineblaue Jacke, eine dunkelgrüne Kappe, alte schwarze Turnschuhe und eine schwarze Hose. Pauline trug eine lange Jeanshose, ein Oberteil des Waisenhauses – ein hellgrünes T-Shirt mit Logo – und ein Paar brandneue hellblaue Turnschuhe. Diese hatte sie am vorigen Spielabend beim Lotto gewonnen. Gleich nachdem sie ihre schmutzige Kleidung in die interne Wäscherei gebracht hatten, gingen Cedric und Pauline in den Garten, der vor dem Waisenhaus lag. Es war ein sehr üppiger Garten: grüner Rasen, viele Büsche und ein kleines Gemüsebeet. Die beiden liebten diesen Ort, denn immer am Jahresanfang durften die Kinder ihre Lieblingspflanze in die warme Erde eingraben. Wie an jedem Besuchstag war der Garten auch diese Woche mit Girlanden und Ballons in allen Farben geschmückt. In der Mitte standen einige Tische, jeder so gross, dass zwei Bänke daran Platz hatten. Ein kleines Stück hinter einem mit Snacks vollgeladenen Tisch hatten sich die anderen Kinder um Miss Fletcher versammelt.
„Hört mir doch bitte kurz zu!“, hörte Cedric Miss Fletcher durch das Murmeln der Kinder rufen. Prompt verstummten alle auf Kommando. „Wie ihr wisst, habe ich wieder ein paar nette Leute eingeladen, die einigen von euch ein neues Zuhause bieten wollen“, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln. „Ich wünsche euch natürlich allen, dass ihr ein geborgenes neues Zuhause findet.“ Miss Fletcher ging zum goldenen Tor, das den Zaun um das grosse Gelände noch eleganter aussehen liess. Mit einem kräftigen Ruck öffnete sie das Tor und eine Masse von Menschen strömte herein. Es waren Menschen verschiedenen Alters, grösstenteils Ehepaare. Nach dem Essen stellten sich die Kinder und die Besucher einander vor. Es verging eine halbe Stunde. Schon über die Hälfte der kleinen Kindergruppe hatte sich inzwischen mit jemandem angefreundet. Nur um Cedric und Pauline schien sich keiner gross zu kümmern. Das war schon von Anfang an so gewesen. Irgendetwas unterschied sie von den anderen Kindern. Als wären sie von einer giftigen Rauchwolke umgeben. Nur was?
Gerade als sie, voller Enttäuschung, zurück ins Haus gehen wollten, wandte sich ein älterer Mann in einem dunkelgrünen Regenmantel und goldenem Spazierstock an die beiden Kinder. „Hallo, wie heisst ihr zwei Hübschen denn?“, fragte der Mann in höflichem Ton. Überrascht antwortete Cedric dem Mann: „Ich bin Cedric Conners und das ist meine Schwester Pauline.“ Pauline nickte höflich. Sie sah den Mann neugierig an. „Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?“
Der Mann lächelte. „Ich heisse Paul Brunch.“ Mister Brunch beugte sich zu den beiden Geschwistern herunter und sagte: „Ich weiss, wir haben uns gerade erst kennengelernt, aber ich würde euch gerne bei mir aufnehmen.“ Brunch musterte die Geschwister neugierig. Sehr neugierig sogar.
Pauline konnte nicht an sich halten, sie stürmte auf Mister Brunch zu und umarmte ihn so fest sie konnte. Davon hatte sie so lange geträumt! Tränen der Erleichterung rannen ihre Wangen herab.
„Schon gut, ich schätze, du machst mit“, sagte Mister Brunch lächelnd.
Cedric konnte es nicht fassen! Seit fünf Jahren lebten er und Pauline schon im Waisenhaus und noch nie hatte jemand auch nur daran gedacht, ihnen ein neues Zuhause bieten zu wollen, und jetzt tauchte plötzlich ein Mann auf und bot ihnen nach einem so kurzen Gespräch sein Zuhause an? Cedric warf Mister Brunch einen leicht misstrauischen Blick zu, als dieser zu Miss Fletcher ging und sie ansprach. Sie schien angenehm überrascht zu sein, als er auf Cedric und Pauline deutete.
Nach einem kurzen Gespräch kamen die beiden Erwachsenen zu Cedric und Pauline herüber. „Cedric, Pauline, Mister Brunch hier sagt, er möchte euch adoptieren“, meinte Miss Fletcher und beugte sich zu den beiden herunter.
Cedric hasste es, dass sich jeder Erwachsene partout zu ihm beugen musste, denn das machte ihm jedes Mal bewusst, wie klein er war. Seine Grösse ärgerte ihn. Schon oft hatte er sich gewünscht, er wäre jetzt schon so gross wie ein Erwachsener. Natürlich war dieser Wunsch bis heute unerfüllt geblieben.
„Hört zu, ich weiss, wie sehr ihr euch ein neues Zuhause wünscht, aber damit ich der Adoption zustimmen kann, muss ich euch eine sehr wichtige Frage stellen.“ Miss Fletcher klang ernst. Cedric und Pauline wussten, dass ihre Stimme, wenn es um die Arbeit ging, immer einen ernsten Tonfall annahm. „Seid ihr euch vollkommen sicher, dass ihr zu Mister Brunch ziehen wollt?“, fragte sie. „Eure Meinung und euer Glück zählen hier am meisten.“ Es entstand eine kurze, nachdenkliche Pause.
„Ich würde gerne zu Mister Brunch ziehen“, sagte Pauline und lächelte schüchtern.
„Und du?“, fragte Miss Fletcher nun Cedric.
„Klar, ich auch“, sagte er und versuchte, möglichst heiter zu wirken.
Für einen Bruchteil einer Sekunde trat ein merkwürdiger Ausdruck in Miss Fletchers Augen. Sogleich verflüchtigte sich dieser wieder. „Nun, dann ist die Sache ja entschieden, nicht wahr?“, hauchte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Mister Brunch, dessen Blick rasch in Richtung der Parkplätze und wieder zurück wanderte. „Wie wäre es, wenn wir das Gespräch in meinem Büro fortsetzen? All dieser lästige Papierkram muss den Kindern doch nicht unnötig aufgelastet werden!“
Brunchs Gesicht legte sich in Falten, doch dann brachte er ein Lächeln zustande. „Gerne, haben Sie Tee? Ich könnte einen vertragen.“
„Gewiss. Hört mal ihr zwei, wie wäre es, wenn ihr euch einfach am Snacktisch bedient? Es wird nicht allzu lange dauern.“ Die Kinder nickten und als die beiden Erwachsenen sich schliesslich zum Gehen wandten, sah Cedric ihnen noch lange hinterher.
Von einer obskuren Missbilligung erfüllt, sass Miss Fletcher auf einem braunen Lederstuhl inmitten ihres weitläufigen Büros. Sie hatte dem prächtigen Doppelfenster den Rücken zugekehrt und blickte stirnrunzelnd in das Gesicht von Mister Brunch. „Warum?“ Ihre Stimme, mit der sie die kurzzeitig eingetretene Stille beendet hatte, klang ungewohnt schwach. Mister Brunch wurde ernst. „Sie können es sich doch vermutlich denken, oder?“ Miss Fletcher stand ruckartig auf und funkelte den Besucher zornig an. „Was ich mir denken kann ist dies: Wir hatten eine Vereinbarung! Diese kam zustande, dadurch dass mein Mann und ich vor sechs Jahren diese zwei Kleinkinder in einem Korb auf unserer Hausschwelle fanden, mit einem Brief, der ihre Herkunft und Geschichte erklärte und wir sie behielten! Wir würden für diese Kinder sorgen! Wir haben sie aufgenommen, ihnen eine Schule gesucht, ihnen vorgelesen, wenn sie Angst vor dem Einschlafen hatten, sie gepflegt, wenn sie krank wurden!“ Ihre Stimme brach ab.
Mir war nie klar, wie wichtig mir diese Kinder geworden sind. Bin ich deshalb so wütend auf ihn? Habe ich Angst sie niemals wiederzusehen?
Mister Brunch erhob sich rasch und liess sanft die Hand auf eine ihrer zierlichen Schultern sinken. Er schluckte. „Als ich die Kinder bei Ihnen ablegte, da habe ich darum gebeten ihnen eine gute Erziehung und ein möglichst unbeschwertes Leben zu ermöglichen – solange, bis man sie wieder abholen würde. Nun, so Leid es mir tut, jetzt ist dieser Tag gekommen. Ich hole sie ab. Aber ich werde niemals vergessen, was Sie und Harry für die Kinder sind und getan haben.“
Sie starrte ihn an, war einige endlos scheinende Sekunden unfähig zu sprechen. „Dann sind die Auswirkungen der Tat also verarbeitet?“
„Ja, inzwischen ist die Wunde kleiner geworden.“
Miss Fletcher verengte die Augen. „Sie verheimlichen mir etwas. Und ich werde die Kinder keinem Mann überlassen, der mich belügt.“ Brunch seufzte. Er hatte befürchtet, dass ihre scharfsinnige Begabung Menschen zu durchschauen sie auch diesmal nicht im Stich lassen würde. Er zog seine Hand zurück, begann sogleich im Kreis zu gehen. Sein Blick wanderte über den weinroten Teppich, die vielen Gemälde und schliesslich hin zu den gerahmten Belobigungen und Lizenzen, welche hier und dort das vergilbte Orange der Wände durchbrachen. Gedankenverloren zupfte er sich am Bart während er unsicher schien, wie er sich am besten formulieren sollte. Als sich ihre Blicke wenig später abermals trafen, entschied er sich für die schlichtere Version. „Er ist zurück.“ Ihr Unterkiefer klappte herunter. „Du redest –ich meine, Sie reden von?“ Brunch nickte ernst. Miss Fletcher schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist unmöglich! Er ist tot! Und das schon seit Jahren. Ich hörte. Die Schlacht.“
„Was Sie gehört haben ist falsch. Er hat überlebt und ich habe den beunruhigenden Verdacht, dass er hinter den Kindern her ist.“
Das darf doch nicht wahr sein! „Und warum sind Sie dann hier? Warum stehen Sie nicht an der Front und suchen ihn? Hat die Regierung überhaupt schon angefangen ihn zu verfolgen?“ Brunch schüttelte den Kopf. „Nein. Bedauerlicherweise. Ein Freund von mir – ein Einsiedler namens Lenon, der abgeschieden in einer grossen Wüste lebt – hat seine Leute gesehen. In ihren alten Uniformen! Leider ist er der einzige und seine wenigen Nachbarn haben zudem keine allzu hohe Meinung von ihm. Ich weiss nicht wie es Ihnen geht, Teuerste, aber ich für meinen Teil sehe nur einen Grund weshalb sie sich wieder in ihrem Gewand zeigen sollten. Aber die Regierung ist noch immer voller Misstrauen. Zu viele verweigern sich auch nur der Idee, dass er noch am Leben sein könnte.“
Wenn er lebt, wenn er tatsächlich die Kinder jagt, dann befinden sich die beiden in furchtbarer Gefahr!
„Aber Sie glauben an seine Rückkehr?“ Brunch nickte bedächtig. Sein Blick wanderte zur Tür, als er ein dumpfes Geräusch vernahm. Er drehte sich blitzschnell um und stiess abrupt die Tür auf! Zwei kleine Kinder, die im Gang Ball gespielt hatten, rannten aufgeschreckt und mit wirbelnden Ärmchen davon. Erleichtert atmete Mister Brunch auf. Miss Fletcher hingegen stöhnte. „Glauben Sie er hat seine Leute hier postiert?“ Brunch nickte ernst als er die Tür hinter sich zugemacht und abgeschlossen hatte. „Es gibt Gerüchte, die diese Vermutung durchaus unterstützen. Dazu erhalten ich und einige hochrangige Mitglieder der Regierung seit einiger Zeit anonyme Botschaften.“ Er berichtete ihr in allen Einzelheiten davon. Sie war beunruhigt. Wenn er Recht hatte, dann mussten die Kinder in der Tat fort gebracht werden. Kein Wachmann der Welt vermochte solchen Feinden zu trotzen. Sie wandte sich ab, betrachtete eine Zeichnung an der Wand. Zwei bedürftige Kinder hatten ihr diese stolz vorbeigebracht. Sich elternloser, junger Menschen anzunehmen, brachte eine Vielzahl emotionaler Verantwortung mit sich. Die Sorge um Pauline und Cedric ging ihr nah. Sie blinzelte eine Träne weg.
Etwa eine halbe Stunde später kamen Mister Brunch und Miss Fletcher wieder in den Garten. Cedric und Pauline hatten in der Zwischenzeit die Obstschale geleert.
„So, es ist nun rechtlich, ihr dürft mit Mister Brunch mitgehen“, sagte Miss Fletcher in einer Mischung aus Trauer und Freude. „Ich werde euch vermissen, aber ich bin mir völlig sicher, dass ihr bei Mister Brunch ein gutes Zuhause finden werdet.“
„Darauf können Sie sich verlassen“, sagte dieser. „Meine Limousine trifft gleich ein, ich werde vor dem Tor auf euch warten. Geht doch schon mal packen.“ Mister Brunch ging auf das Tor zu. Schnell eilten Cedric und Pauline in ihr Zimmer und fingen mit Packen an. Pauline sah sich im Zimmer um. „Es ist ein komisches Gefühl zu wissen, dass wir dieses Zimmer zum letzten Mal sehen.“ Sie wirkte nachdenklich. Die Vorstellung ein anderer würde es bewohnen. Es war undenkbar. Die Jahre im Waisenhaus waren schliesslich nicht nur schlecht gewesen. Miss Fletcher und die verschiedenen Betreuer waren fair und anständig zu den Kindern. Trotzdem hatten sich die beiden stets nach richtigen Eltern gesehnt. Cedric packte sein letztes Harry Potter Buch ein. Als grosser Fan der Reihe hatte er selbstverständlich alle Bände gekauft. Cedric war noch immer misstrauisch. Auch er hatte natürlich lange von dem Tag geträumt, an dem jemand sie adoptieren würde. Jetzt wo es Wirklichkeit zu sein schien, konnte er es nicht richtig glauben. Es schien zu schön um wahr zu sein.
Doch dies war nicht seine grösste Furcht: Seit so langer Zeit waren er und Pauline allein gewesen, hatten nur sich gehabt, waren ein Team gewesen. Jetzt wo sie offenbar eine Familie gefunden hatten, würde ihr Band an Bedeutung verlieren?
Bereits eine Stunde später gruben sich die Rücken von Cedric und Pauline in die weiche, rote Rückbank von Mister Brunchs Limousine, während sie durch das kürzlich hereingebrochene Gewitter die Strassen von London entlangfuhren. Miss Fletcher hatte sie bis hin zum goldenen Tor begleitet, unentwegt plappernd, vergeblich darum bemüht ihre Trauer zu verbergen. Als sich die Türe der Limousine hinter ihnen schloss, verharrte sie noch lange an dieser Stelle, rang um ein Lächeln und blieb solange vor Ort, bis das edle Gefährt ausser Sichtweite war. Pauline durchbrach mit einem Räuspern das Schweigen. „Mister Brunch, darf ich Sie etwas fragen?“
„Ich wohne auf der Insel Brinches“, antwortete Mister Brunch, als hätte er gewusst, was Pauline fragen wollte.
„Brinches?“ Cedric war verwirrt. „Von dieser Insel habe ich noch nie gehört.“
„Ich auch nicht“, stimmte Pauline ihrem Bruder zu.
„Das wäre auch ein halbes Wunder!“, sagte Mister Brunch lachend. „In eurer Welt gibt es diese Insel nicht.“
„Unsere Welt?“, fragten die beiden Kinder wie aus einem Munde.
„Ich erkläre euch alles, wenn wir angekommen sind“, erwiderte Mister Brunch.
„Versucht etwas zu schlafen, denn wir sind mindestens zwei Stunden unterwegs.“ Er reichte ihnen Kissen.
„Na gut!“, sagten Cedric und Pauline und nahmen widerwillig die Kissen entgegen.
Während Cedric einschlief, versuchte er die Dinge, die Mister Brunch gerade gesagt hatte, so zu gestalten, dass sie einen Sinn ergaben. Doch wie sehr er sich auch bemühte, er konnte das einfach nicht verstehen.
Kaum waren die Zwillinge eingeschlafen, wandte sich der kleine Chauffeur der Limousine an Mister Brunch „Wann wollen Sie den beiden die Wahrheit sagen?“
„Bald“, antwortete Mister Brunch.