Der Golemkrieg

Der Golemkrieg

Teil 1

Timo Luksch


EUR 20,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 472
ISBN: 978-3-99003-172-8
Erscheinungsdatum: 02.11.2010
Ohne Vorwarnung überzieht eine fremde Macht das Land mit Krieg und vernichtet das friedliebende Volk der Arlia beinahe vollständig. Nur eine göttliche Barriere bewahrt die letzten Überlebenden vor der totalen Vernichtung. Doch der Feind sucht nach einer Schwachstelle ...
Kapitel I
Der Schatten erhebt sich

Gatora, die größere der beiden Sonnen Dorodians, schickte sich gerade an, hinter dem Horizont zu verschwinden. Ihre kleinere Schwester Salune würde ihr in einiger Zeit nachfolgen. Noch beherrschte das gleißende weiße Licht Gatoras das Bild. Selbst Salune war im hellen Strahlen ihres Zwillings kaum auszumachen.
Traditionell war zwischen den Sonnenuntergängen der Schwestern die Zeit, in der sich die meisten der Bewohner des Arliareiches zur Ruhe begaben. So auch in Mejrun, einem kleinen Dorf am Rande des Hejengowaldes. Talaris bestieg gerade die Leiter, die zum Aussichtsturm hinaufführte, wo er einen langweiligen Wachdienst vor sich hatte. Mit hundertfünfundzwanzig Zyklen war er noch jung für einen Arlia, die leicht achthundert erreichten, doch seine erste Weihe hatte er mit Erfolg bestanden. Alle hundert Zyklen nämlich durfte sich jeder Arlia einer besonderen Aufgabe stellen, die entweder durch Mut, Stärke oder Weisheit gemeistert werden konnte. Meist aber gehörte von allem etwas dazu, um zu bestehen. Mit jeder erfolgreichen Weihe war es dem Arlia gestattet, neue Aufgaben in der Dorfgemeinschaft zu übernehmen. Die Ehre der Wache gehörte zu den ersten. Anfangs hatte sich Talaris unbändig darauf gefreut, war stolz darauf gewesen, sich „Wächter der dunklen Hälfte“ nennen zu dürfen. Im Volk bezeichnete man die dunkle Hälfte als Sonnenschlaf. Sonnenlauf und Sonnenschlaf wechselten sich ab und bildeten zusammen einen Umlauf. Nachdem er jedoch inzwischen unzählige dieser ehrenhaften Wachdienste hinter sich hatte, empfand er sie mehr als Qual, denn die Zeit bis zum Sonnenaufgang wollte und wollte einfach nicht verstreichen.
Seufzend nahm er auf einem Schemel Platz und sah hinüber zum Horizont, wo Gatoras letzte Strahlen gerade hinter den Bergen im Nordosten verschwanden. Somit übernahm Salune nun für einen kurzen Moment das Regiment am Himmel. Ein sonderbares Rätsel wurde von den Zwillingssonnen gehütet. Während Salunes Licht Wärme spendete und einen erblinden ließ, blickte man zu lange zu ihr hinauf, zeigte Gatora keinen dieser Effekte. Und das, obwohl sie gut dreimal größer war als Salune. Dafür konnte ein Blick zu Gatora hinauf das Herz mit neuem Mut füllen. Talaris hatte sich oft während des Sonnenschlafs den Kopf darüber zerbrochen, weshalb dies so war, doch das hatten bereits Generationen von weisen Arlia vor ihm getan, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein.
Unten im Dorf wurde es jetzt sehr ruhig. Die meisten Bewohner hatten sich bereits in ihre Betten zurückgezogen, und nur noch vereinzelt quoll Rauch aus den Schornsteinen kleiner, beschaulicher Fachwerkhäuser. Drüben auf dem See dümpelte friedlich ein kleines Ruderboot, und die seichten Wellenkämme nahmen während der Dämmerung ein glitzerndes Funkeln an. Wenn Salune noch etwas weiter sank, verlieh sie der Wasseroberfläche die Farbe roten Weines, auf der sich silbrig glänzende Wellenkämme kräuselten.
Talaris erhob sich, streckte seine Glieder und blickte rundherum über die Landschaft. So weit sein scharfes Auge sehen konnte, erstreckten sich Wiesen und Felder vor ihm, über die der laue Wind strich. Spielerisch wogten die Ähren und Gräser hin und her und erfüllten die Luft mit einem angenehmen Rauschen. Das eintönige Bild wurde nur durch den kleinen See im Osten und den Hejengowald im Norden unterbrochen. Ein Feldweg führte nach Westen, nach Neg’jaech, der nächsten größeren Siedlung. Es dauerte beinahe einen ganzen Sonnenlauf, um von Mejrun dorthin zu gelangen.
Während eines Sonnenschlafs hingegen war niemand auf den Wegen und Pfaden unterwegs, doch hin und wieder kamen wilde Tiere nahe an die Siedlungen heran. Es war die Aufgabe der Wächter der dunklen Hälfte, diese Tiere fernzuhalten. Mit ihrer angeborenen magischen Begabung bedienten sich die Arlia zumeist einfacher Lichtblitze, um die Kreaturen zu erschrecken und zu verscheuchen. Nur selten waren sie gezwungen, zu Pfeil und Bogen zu greifen.
Es wurde jäh dunkel, als Salune hinter den Bergen verschwunden war, und die Dunkelheit breitete sich ungehindert über das Himmelszelt aus. Auch die Temperaturen sanken jetzt deutlich. Die Grillen verstummten langsam und überließen das Feld gänzlich den Kreaturen der dunklen Hälfte, die sich nun aufmachten ihren Beschäftigungen nachzugehen. Seufzend ließ sich Talaris auf den Schemel sinken. Er überlegte, was er tun sollte. Den Turm durfte er nicht verlassen, obwohl das nahe Rauschen des Sees zu einem Bad einlud. Bis die Sterne zu sehen waren, würde es noch ein wenig dauern, und auf „Tierstimmenraten“ hatte Talaris nicht so recht Lust.
Ein scharfer, schriller Schrei aus dem nahe liegenden Wald ließ ihn aufhorchen: ein Hejengovogel, der bis zum Waldrand gekommen war. Das versprach Abwechslung. Die Tiere, die dem Wald seinen Namen gegeben hatten, lebten sonst sehr zurückgezogen im undurchdringlichen Zentrum des Waldes. Nur selten verirrten sie sich in die Nähe von Mejrun. Und noch seltener trafen sie sich in Hörweite, um zu streiten. Hejengovögel zankten von Natur aus um alles, worum man kämpfen konnte. Ob es um Futter ging, den nächsthöheren Ast, etwas Nistmaterial oder einfach nur um des Streitens willen, ereiferten sich die Vögel oft viele Sonnensprünge lang und versuchten sich gegenseitig an Lautstärke zu übertreffen. Diese Eigenart hatte ihnen auch den unschönen Beinamen „Terrorvögel“ eingebracht, und Talaris war sicher, daß sich die meisten Dorfbewohner jetzt fluchend die Ohren zustopfen würden, um schlafen zu können. Den Wald selbst konnte man ohnehin nur mit versiegelten Ohren betreten, denn vom Gekreische der Hejengovögel ging eine seltsame Magie aus. Sie haßten es, wenn jemand in ihren Wald eindrang, und beschimpften ihn aus sicherer Entfernung zu Dutzenden von allen Seiten. Wer dieser Beschallung länger ausgesetzt war, verlor restlos die Orientierung, und zudem verwirrte das Gezeter die Sinne. Hier oben vom Turm aber konnte Talaris gefahrlos dem Treiben lauschen. Es mußten vier Vögel sein, die miteinander wetteiferten, zumindest vermutete der Arlia das. Manchmal konnte man sogar aus der Art des Streits heraushören, worum es ging. Um Futter wurde weit heftiger gerungen als um einen besseren Sitzplatz. Plötzlich änderte sich der Rhythmus des Streits. War es gerade noch der Reihe nach stetig lauter geworden, zeterten die Tiere nun zusammen gegen ein einziges Ziel. Offenbar hatten sie sich gegen einen gemeinsamen Feind verbündet, den sie nun vertreiben wollten. Vielleicht brach ein wilder Eber durch das Unterholz? Talaris lehnte sich über die Brüstung und machte seine Augen zu Schlitzen. Zwar konnten Arlia während der dunklen Hälfte sehr gut sehen, doch bis zum Waldrand war es einfach zu weit. Verwundert richtete sich Talaris auf. Der oder die Eindringlinge ließen sich von dem Gekreische nicht vertreiben, das mit unverminderter Stärke anhielt. Plötzlich kamen weitere Vogelstimmen dazu. Talaris konnte mindestens neun Tiere auseinanderhalten. Was war da nur los?
Das Geschrei ebbte nicht ab. Im Gegenteil. Weitere Vögel kamen dazu. Aber was veranlaßte sie, das Zentrum des Waldes zu verlassen und an den Waldrand zu kommen? So etwas war noch nie geschehen. Langsam griff Talaris zum Klöppel für den Gong, mit dem er das Dorf warnen konnte. Noch niemals zuvor war dieser Gong geschlagen worden, dafür klopfte Talaris’ Herz bis zum Hals. Was, wenn er jetzt, nur weil die Vögel verrückt spielten, das ganze Dorf in Panik versetzte? Und würden sie ihn überhaupt hören? Mit Sicherheit schliefen die meisten von ihnen mit zugestopften Ohren.
Ein schwirrendes Geräusch kam schnell von hinten an ihn heran, doch bevor er reagieren konnte, war es bereits zu spät. Von der Wucht eines Pfeils getroffen wurde Talaris gegen die vordere Brüstung geschleudert. Sofort breitete sich ein pelziges Gefühl über seine Schulter aus, das schnell seinen Rücken hinunterkroch und von seinen Beinen Besitz ergriff. Es mußte ein schnell wirkendes Betäubungsgift sein. Talaris taumelte, stolperte und fiel der Länge nach auf den Holzboden des Turmes. Durch eine Ritze in der südlichen Brüstung fiel sein Blick auf die Wiesen. Dutzende dunkle Gestalten kamen langsam auf das Dorf zu. Talaris spähte genauer hin. Das Gift trübte bereits seinen Blick. Nach der Art ihrer Erscheinung und ihrem Gang zu urteilen, mußten es Morsakk sein. Aber sie waren irgendwie viel größer als alle Morsakk, die Talaris je gesehen hatte. Und überhaupt, was hatten die Morsakk für einen Grund, sie zu überfallen? Seit Tausenden von Zyklen lebten sie in Frieden mit den Arlia. Er sah zum Gong hinauf, der nur eine Armlänge über ihm hing. Er nahm den Klöppel, doch vor seinen Augen schien sich der Gong immer weiter von ihm zu entfernen. Das Gift forderte seinen Tribut, und Talaris wurde hinuntergezogen in ein tiefes Verlies seiner selbst, wo ihn die Ohnmacht wie eine Spinne im Netz erwartete und über ihn herfiel. Seine letzten Gedanken kreisten um seine Eltern, dann wurde es dunkel.

Ein schwarzer, schlanker Schatten zog pfeilschnell über die Hochebene von Irennan. Die Bauern auf den Feldern sahen hinauf in den Himmel und winkten ihrem Prinzen zu, der auf seiner Flugechse einen Ausritt unternahm. Darak il menoa, Sohn des Lorasar il menoa, der auf dem Arliathron saß, lenkte sein Reittier gen Norden. Die Hauptstadt Tahadar gmoija hinter sich lassend raste Darak auf die Schule der Weber, Silior degor, zu. Deren fünf Türme erhoben sich majestätisch auf einem Berghang, neben denen ein breiter, befestigter Weg aus der Hochebene hinunter zu den Wiesengründen führte. Der Rai takal schlängelte sich ebenfalls ins Tal hinunter, doch sein Wasser hatte sich einen direkteren Weg gesucht als die Arlia für ihre Straße. Die Hochebene von Irennan wurde durch das heilige Gebirge schützend wie ein Hufeisen umspannt. Die Hauptstadt war an einem Punkt südöstlich in dieser natürlichen Pfanne aus Stein errichtet worden. Das hatte den Effekt, daß wenn Gatora auf der richtigen Seite aufging, sie den Wolkendorn überstieg und das Tal mit Licht flutete, ihr Strahlen auf die quarzbedeckten Stadtmauern traf und die ganze Stadt aufblitzen ließ. Der Wolkendorn war der höchste Gipfel, den man von hier aus ausmachen konnte. Das heilige Gebirge selbst erstreckte sich noch viel weiter nach Süden, doch ein Gebot ihres Gottes Tiar untersagte den Arlia, einen Fuß in die höheren Regionen der Berge zu setzen. Ein uraltes Unheil würde dort schlummern und dürfe nicht geweckt werden. So tönte es seit Urzeiten aus den heiligen Schriften und Überlieferungen ihrer Ahnen.
Die Landschaft raste unter Darak dahin. Er lenkte seine Flugechse etwas nach Osten, an der nördlichen Gebirgsgrenze entlang zu den undurchdringlichen Wäldern von Ter’naral, was soviel wie „Bäume soweit das Auge reicht“ bedeutet. Rhelum teriaf, das grob übersetzt reinigendes Feuer hieß, war einer von insgesamt sieben Flugechsen, die bei den Arlia lebten. Für sie war eigens im zentralen Zwiebeldach des Palastes eine Flugterrasse mit Ställen eingerichtet worden. Beim ersten Anblick konnten sie einem einen gehörigen Schrecken durch Mark und Bein jagen. Ihr langer, schlangenförmiger Leib war mit Schuppen bedeckt, groß wie die Handfläche eines Erwachsenen. Zwei nach vorne gebogene Hörner ragten drei Armlängen aus einem imposanten Hornschild an ihrem Kopf, und ein drittes saß senkrecht auf der Spitze ihres zähnestrotzenden Mauls. Lange Barteln ragten aus ihren Mundwinkeln, die insbesondere beim Fliegen seitlich am Körper entlang im Luftstrom zitterten. Ihre gewaltigen Schwingen erlaubten ihnen große Lasten zu heben, und mit ihren Pranken konnten sie mühelos ein Pferd in Stücke reißen. Entgegen ihrer furchterregenden Erscheinung aber waren sie sanft wie Lämmer, wenn sie nicht gerade bockig waren, wofür Rhelum unter den Stallburschen gefürchtet war.
Nebel lag über weiten Teilen des Ter’naral, als er vor Daraks Augen auftauchte. Die Wälder zogen sich bis weit hinter den Horizont im Osten, und kein Arlia wußte, was dahinter verborgen war. Darak reizte es sehr, dieses unbekannte Reich zu erkunden, doch die Expansionspolitik seines Vaters zielte Richtung Norden. Er lenkte Rhelum dorthin, an der Westgrenze des Ter’naral entlang. Unten lagen verstreut einige Siedlungen der Arlia. Bald kam der Rai danur zum Vorschein, der aus den Wäldern kommend nordwestliche Richtung einschlug, um sich bei der Stadt Torolion mit dem Rai takal aus dem Süden zum breiten Strom Rai anaria zu verbinden, der dann irgendwann in das Westmeer mündete. Rhelum sank tiefer, als sie den Rai danur überquert hatten, und glitt nur knapp zwanzig Schritte über dem Boden entlang, wobei Darak sie etwas weiter in westliche Richtung lenkte. Im Westen sah er vereinzelte Rauchsäulen über den Wiesen stehen. Sie erstreckten sich über die gesamte Breite des Horizonts. Verwundert überlegte Darak, weshalb so viele Feuer entzündet worden waren und warum nur nördlich der Raisi danur und anaria. Im Norden kam bereits der Hejengowald in Sicht, hinter dem sich das Hügelmeer bis zu den Schneezacken hinzog, dessen majestätische schneebedeckte Gipfel sich über den Wolken verbargen. Das Hügelmeer war kein Ozean aus Wasser, sondern eine Hügellandschaft mit enormen Ausdehnungen. Kein Baum wuchs dort und nur vereinzelte Sträucher waren zu finden, weshalb das Gelände von oben betrachtet wie eine grüne, stehende Wasseroberfläche mit hohen Wellen aussah. Das Arliareich endete an der Waldgrenze des Hejengowaldes und Mejrun stellte den nordöstlichen Eckpunkt ihres Herrschaftsgebietes dar. Auch an der Stelle des Dorfes sah Darak Rauch aufsteigen, doch aus dieser Entfernung vermochte er noch nicht zu erkennen, was dort geschehen war. Weiter nordwestlich des Hejengowaldes veränderte sich das Landschaftsbild dramatisch. Die fruchtbaren Wiesen endeten einfach. Weite Steppen prägten hier maßgeblich das Bild, die im Norden von den Ausläufern der Kupferwüste verschluckt wurden. Weiter als bis zu dieser lebensfeindlichen Wüste hatten sich die Kundschafter der Arlia noch nicht gewagt, und es war die Überzeugung des königlichen Rates, daß es dahinter nichts mehr von Interesse geben konnte.
Als Mejrun vor Daraks und Rhelums Augen zum Vorschein kam, ging ein merklicher Ruck durch das Tier. Alle Häuser waren niedergebrannt worden. Nur noch rauchende Ruinen standen dort, wo sich einst das friedliche Mejrun erhoben hatte. Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und blankem Entsetzen betrachtete der Prinz die vor ihnen liegende Szenerie, während Rhelum zum Sinkflug ansetzte. Sein Verstand wehrte sich mit aller Kraft gegen die Realität, die er durch seine Augen wahrnahm. Wie in Trance betrachtete er die vielen verkohlten Ruinen der Häuser, zwischen den Trümmern aufgespießte, verbrannte Skelette. Eine gespenstische Stille lag über der Siedlung, sogar der Wind schien zu schweigen. Darak landete nahe der Dorfgrenze und stieg ab. Wie betäubt wanderte er zwischen den zerstörten Gebäuden umher, während tausend Fragen durch seinen Kopf schossen. In den Ruinen entdeckte er die verbrannten Leiber der Arlia, die hier gelebt hatten. Feige hatte man sie in ihren Betten mit Speeren ermordet und zusammen mit dem Rest einfach verbrannt. Nur noch verkohlte Skelette konnte Darak erkennen.
Zuletzt war er vor etwa sieben Umläufen hier gewesen, doch dem Rauch nach zu urteilen konnte dieses Massaker nur wenige Sonnensprünge zurückliegen. Er stand im Zentrum des Dorfes und sah sich nach allen Seiten um. Es gab keine Leichen der vermeintlichen Angreifer. Entweder hatten sie ihre Gefallenen mitgenommen oder sie hatten bei ihrer Attacke niemanden verloren. Darak erkannte Spuren auf dem Boden, die nicht von Arlia stammen konnten. Nach der Art ihres Ganges hatten sie Ähnlichkeit mit Morsakkspuren, doch die Abdrücke waren dafür zu tief und zu breit. Wer immer diese Spuren hinterlassen hatte, mußte beinahe doppelt so schwer sein wie ein Morsakk. Außerdem ergab das keinen Sinn. Sie lebten, seit Darak denken konnte, mit diesem Volk in Frieden, das in den Tiefen des Ter’naral seine Heimat hatte. In Stämmen organisiert, die sie Kat’raks nannten, wanderten sie auf festen, kreisförmigen Routen durch bestimmte Regionen des Waldes und kamen nur selten aus dem Schutz der Bäume, um mit den Arlia Tauschhandel zu treiben.
Daraks Blick fiel auf den Aussichtsturm. Er war niedergerissen worden und lag der Länge nach zerschmettert am Boden. Dort, wo die Aussichtsplattform zerborsten war, fand Darak einen abgebrochenen Pfeilschaft. Zu seinem Entsetzen deutete der Pfeil definitiv auf die Morsakk hin. Zwar war er viel dicker als ihre üblichen Jagdpfeile, doch die Befiederung am Ende des Geschosses war eindeutig den Morsakk zuzuweisen. Darak suchte den Boden nach weiteren Spuren ab. Ein Stück von dem Aussichtsturm entfernt entdeckte er eine eingetrocknete Blutlache. Jemand mußte hier gelegen haben, wie an der Mulde in der Erde leicht zu erkennen war. Dieser Jemand hatte sich auf allen vieren von diesem Platz fortbewegt. Darak folgte der Spur langsam bis zu einem Mauervorsprung. Hier hatte sich der Verletzte offenbar auf die Füße gezogen, denn die Spur änderte sich und Darak erkannte die Abdrücke eines Arlia, der ab hier weitergehumpelt war. Er folgte den Fußabdrücken ein Stück weit durch das Dorf, bis er in einiger Entfernung in einem Hauseingang die Füße von jemandem erkennen konnte. Darak rannte darauf zu. Ein junger Arlia war hier im verkohlten Türrahmen zusammengebrochen. Er atmete noch schwach. Aus seiner Schulter ragte blutverschmiert ein abgebrochener Pfeilschaft, offenbar die vordere Hälfte des Pfeils, den Darak beim Aussichtsturm gefunden hatte.
Darak pfiff scharf durch die Zähne und packte den Körper des bewußtlosen Arlia. Rhelum lief sofort zwischen den Ruinen hindurch auf ihn zu und der Prinz legte den Verwundeten neben der Flugechse auf den Boden. Er legte ihn auf den Bauch, damit das Projektil nicht tiefer in seinen Leib gedrückt wurde. Schnell fischte er eine kleine Phiole mit einer kristallklaren Flüssigkeit aus einer der Satteltaschen und kniete sich neben den jungen Arlia. Er drehte seinen Kopf und flößte ihm beinahe tropfenweise den starken Heiltrank ein, bis das Fläschchen leer war. Dann schloß er die Augen und konzentrierte sich einige Atemzüge lang. Als er sie wieder öffnete, war seine Wahrnehmung um einen Sinn erweitert. In seinem Blickfeld lagen nun tausende und abertausende bläulich schimmernder Fäden von unterschiedlicher Dicke und Länge kreuz und quer. Sie durchdrangen jeden Gegenstand, jede Pflanze, selbst Darak und Rhelum. Darak streckte die Hand über der Wunde des Arlia aus und konzentrierte sich. Sofort sprang ein Faden in seine Hand und das andere Ende wickelte sich um den hinteren Teil des Pfeilschafts. Zwei weitere Fäden zwang Darak unter seine Kontrolle und versenkte deren Enden tief in der Wunde, die der Pfeil gerissen hatte. Als die magischen Fäden an der vorgesehenen Stelle lagen, bot Darak all seine Konzentrationskraft auf. Jene beiden, welche in der Wunde steckten, wies er mit aller Macht an, die Blutung zu stoppen, während er langsam an dem ersten zog. Von außen betrachtet wurde der Pfeilschaft wie von Geisterhand Fingerbreit für Fingerbreit aus der Wunde gezogen, während die Magie dafür sorgte, die Verletzung zumindest so weit zu schließen, daß kein weiteres Blut austrat. Es schien endlos lange zu dauern, doch irgendwann hatte Darak das Projektil gänzlich aus dem Körper des Jungen entfernt. Erschöpft verließ er die magische Ebene und ließ sich zurücksinken. Sein Herz hämmerte, Schweiß stand ihm auf der Stirn und sein Atem ging nur noch stoßweise. Er war nicht sonderlich begabt in den magischen Künsten, weshalb er sich auch bis heute dagegen gewehrt hatte, ein Studium an der Schule von Silior degor zu absolvieren. Einen Zauber mit drei Fäden gleichzeitig zu wirken war für ihn eine enorme Kraftanstrengung, doch es war vollbracht. Nicht ohne ein wenig Stolz erhob er sich und betrachtete den immer noch schlafenden Arlia auf dem Boden. Er war außer Lebensgefahr, aber hier konnte er ihn nicht liegen lassen.
„Wir müssen ihn mitnehmen, Rhelum“, sagte der Prinz zu seinem Reittier gewandt. Er tat dies, weil er wußte, daß Rhelum sehr ungern jemand anderen als den Prinzen auf ihrem Rücken akzeptierte. Dieses Mal aber schien das Tier zu verstehen und stupste Darak an der Brust mit seiner enormen Schnauze an, als ob es sagen wollte: „Tu es einfach!“ aber weniger aus Sympathie als aus dem Bewußtsein um den Ernst der Lage. Vorsichtig hob Darak den kraftlosen Körper des Arlia auf den Leib der Flugechse und setzte sich hinter ihn.

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