Death Seasons

Death Seasons

Luisa Bruder


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 400
ISBN: 978-3-99107-404-5
Erscheinungsdatum: 27.01.2021

Kundenbewertungen:

5 Sterne
Ein beeindruckendes Debüt - 17.02.2021
Christine Kimmig

Das Buch ist so spannungsgeladen, dass es schwer fällt, es aus der Hand zu legen.Auch der Schreibstil von Luisa Bruder hat mich überzeugt.Ein Buch zum Weiterempfehlen.

5 Sterne
Ein sehr spannendes Buch - 12.02.2021

Das Buch ist sehr gelungen! Ich konnte und wollte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Hoffentlich gibt es noch weitere Bücher von dieser Autorin, ich liebe ihren Stil!

5 Sterne
Nur zu empfehlen - 07.02.2021

Das Buch bietet eine sehr spannende Geschichte, in die man sich auch dank der Erzählung aus der Perspektive der Hauptfigur und dank einigen Elementen aus der Realität sehr gut hineinfühlen und mit den Charakteren mitfiebern kann. Viele unerwartete Plottwists bringen noch mehr Spannung in die Erzählung. Ein sehr gelungenes Buch.

Kapitel 1

Katy Perrys Last Friday Night dröhnte durch die Dunkelheit, während sich die Blätter der Trauerweide neben dem Teich im Scheinwerferlicht abwechselnd pink, blau und gelb färbten. Es wurde gelacht, geschrien, getanzt, gefeiert. Gesichter schwammen an mir vorbei, redeten. Jemand hauchte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange und drückte mir einen Plastikbecher in die Hand. Grüne Augen sahen mich an, verschwanden kurz darauf erneut in der Dunkelheit, ließen mich mit meinem Becher zurück. Ich nippte daran, spürte wie der Alkohol jede einzelne Zelle meines Körpers durchflutete, mir all die Hemmungen, all die Angst vor Konsequenzen nahm. Berauschend! Ich stieß meinen Becher in die Luft, rief etwas Unverständliches, woraufhin alle anderen um mich herum ebenfalls ihre Becher erhoben und zurückkreischten. Die Blätter der Weide färbten sich orange, dann dunkelgrün. Ich sah dem lustigen Farbspiel zu, beobachtete die faszinierende Veränderung. Wie um alles in der Welt war das überhaupt möglich? Ich riss an einem der Blätter, drehte und wendete es in meiner Hand, suchte nach einer Erklärung für den Farbwechsel, doch es hatte seine bunte Magie bereits verloren. Da waren keine Farben mehr. Das Ding in meiner Hand war nichts weiter als ein ödes Blatt.

„Hey! Der arme Baum hat dir nichts getan!“
Erschrocken zuckte ich zusammen und wurde gewaltsam zurück in die Realität gestoßen. Nicht, dass es mir nicht recht gewesen wäre. Die Erinnerungen an jenen Abend waren… traumatisierend.
Mein Blick fiel auf meine Finger, die nun, da ich sie auf frischer Tat ertappt hatte, etwas Grünes zu Boden segeln ließen. Ich hatte der wunderschönen Trauerweide mitten auf dem Schulhof tatsächlich unabsichtlich einige Blätter ausgerissen. Dabei war sie mir doch in letzter Zeit ein so gutes Versteck gewesen. Schnell warf ich ihr einen entschuldigenden Blick zu.
Ein Mädchen ging vor mir in die Hocke. Ich kannte sie. Vom Sehen. Clary? Tammy? Ich war mir nicht sicher.
Sie legte den Kopf schief, betrachtete mich. Natürlich war sie mir im Gedächtnis geblieben. Sie stach eben aus der Menge heraus und obwohl ich mir wirklich keine große Mühe gegeben hatte, meine neuen Mitschüler kennenzulernen oder sie überhaupt nur zu beachten, war sie mir eindeutig in Erinnerung geblieben. Schließlich glich ihr Aussehen dem eines Punks. Blaue Haare, viel zu kurze schwarze Shorts und Sternchen neben den Augen. Wenigstens keine Piercings, würde Summer sagen. Summer…

„Geht’s dir gut? Du siehst so blass aus.“, meinte sie und legte mir überzeugt den Handrücken auf die Stirn. Ich wich erschrocken zurück.
„Keine Angst, ich beiße nicht. Zumindest nicht kurz nach dem Mittagessen.“ Sie grinste. Auf ihrem linken Schneidezahn funkelte ein Strasssteinchen auf.
„Bist wohl eher der Einzelgänger-Typ?“, hakte sie nach, um unser Unterhaltung in Gang zu bringen.
„Naja. Ich kenne hier schließlich niemanden.“, erwiderte ich und machte Anstalten, aufzustehen. Mary – oder wie sie auch heißen mochte – war jedoch um einiges schneller als ich und streckte mir hilfsbereit die Hand entgegen. Ich seufzte, schenkte ihr ein gezwungenes Lächeln und ließ mich von ihr auf die Beine ziehen.
„Danke…“
„Sally.“ Sie lächelte wieder und schlug sich die blauen Locken über die Schulter. An jeder anderen hätte diese Frisur lächerlich ausgesehen, doch ihr, aus welchem Grund auch immer, schien diese Farbe zu stehen.
„Weißt du, vom Allein-in-der-Pause-rumsitzen bekommt man leider keine neuen Freunde.“, erklärte Sally und hakte sich bei mir unter.
Erst wollte ich sie abschütteln, doch dann überlegte ich es mir anders. Schließlich hatte ich es Caleb versprochen. Ich war es ihm und den anderen schuldig, nach allem, was passiert war.
Also nickte ich ihr zu und wir setzten uns in Bewegung, schlenderten langsam über den Schulhof, die neugierigen Blicke der anderen im Nacken. Ich hatte mich bereits daran gewöhnt und auch Sally schien sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen.
„Die Neue und der Freak.“, lachte sie auf und stieß mir den Ellenbogen in die Seite.
„Ach, und wer davon bin ich?“, erwiderte ich und zog die Augenbrauen nach oben.
Sally lachte erneut auf und für einen kurzen Moment dachte ich, dass Westshire doch nicht der schlimmste Ort der Welt sein musste. Im Gegenteil. Es hatte eine Chance verdient.

„Es gibt nichts, was es nicht wert ist, es wenigstens auszuprobieren.“
„Wie meinst du das?“
Wir lagen unter der alten Eiche, die gelben Maisfelder und die untergehende Sonne zu unseren Füßen. Eine angenehme Sommerbrise strich über unsere Körper, während wir den orangefarbenen Himmel betrachteten und das dadurch angekündigte Ende des Sommers ignorierten.
„Das Leben ist wie eine riesige Eisdiele, Livvy.“, meinte sie, „Du musst zuerst alles probieren, bevor du dich für eine Lieblingssorte entscheidest.“
„Meine Lieblingssorte ist Schokolade, Summ.“, erwiderte ich grinsend.
„Das ist toll, Livvy. Jetzt weißt du, worauf du dich konzentrieren musst.“ Sie setzte sich auf, lehnte sich auf ihre Ellenbogen und strich sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn, während sie auf einem Grashalm herumkaute.
„Konzentriere dich darauf, immer genug Schokoladeneis in deinem Leben zu haben. Am besten in den verschiedensten Varianten. Hauptsache Schoko.“
Ich leckte mir über die Lippen, woraufhin sie zu lachen begann und ich ebenfalls grinste.

„Hey! Erde an Olivia!“
„Liv.“, meinte ich hastig. Ich konnte diesen Namen nicht leiden, auch wenn er in meinem Ausweis und Pass stand. Sally nickte zustimmend, als hätte sie gehofft, ich würde sie maßregeln.
„Wo kommst du her, Liv?“, fragte sie schließlich aus ehrlichem Interesse und um den fürchterlichen Smalltalk am Leben zu halten.
„Aus Greenwood, kleiner Ort direkt an der Küste. Nicht viel los da. Aber mein Zuhause.“ Ich dachte an den kleinen Kirchturm, die Stadt zu Füßen unserer Villa, die abseits auf einem Hügel gestanden hatte, die vielen Felder, die zu jeder Jahreszeit ihre Farbe änderten. Ich hatte es geliebt, doch das war mir erst klar geworden, nachdem es an jenem Morgen im Rückspiegel unseres Autos immer kleiner geworden und schließlich verschwunden war.
„So ist es mit den Dingen, die du liebst. Du weißt sie erst zu schätzen, wenn sie nicht mehr selbstverständlich, nicht mehr da sind.“
„Klingt schön.“, meinte Sally verträumt und baute sich vor ihrem inneren Auge ein eigenes Greenwood auf. Eines, in dem auch sie gern gelebt hätte. Eines, das schöner war als Westshire mit seinen hohen Häusern und den Fabriken am Stadtrand, die den schönsten Sonnenuntergang hinter ihrem dunklen Rauch versteckten.
„Warum seid ihr weggezogen?“, fragte sie schließlich.

„Lass mich los, Summ! Was hast du?“ Ich versuchte mich verzweifelt aus ihrem Griff zu befreien.
„Hilf mir, Livvy. Ich will nicht, ich…“ Sie schüttelte mich. Ihr Gesicht war so weiß wie die Gardinen, die sich in der kühlen Nachtluft gespenstisch bewegten, die leeren Augen starr auf die Funkuhr auf dem Schreibtisch gerichtet. Noch fünf, vier, drei… Sie begann zu schreien, markerschütternd zu schreien, während sich ihre kalten Finger in mein Handgelenk bohrten.
„Summ! Lass das! Hör auf!“

„Meine Mom hat hier einen Job bekommen.“, murmelte ich abwesend und zwang mich zu einem Lächeln.
„Geheimnisse müssen behütet werden. Sie heißen nicht umsonst so. Wenn man ein Geheimnis erzählt, ist es keines mehr. Merk dir das, Livvy. Behalte deine Geheimnisse für dich, sonst könnten sie gegen dich verwendet werden.“
„Muss ganz schön blöd gewesen sein, dein ganzes Leben zurückzulassen, so kurz vor dem Schulabschluss.“ Sally seufzte und strich mir freundschaftlich über den Arm.
Ich nickte und schluckte den Kloß in meinem Hals herunter, der mir, wie so oft in der Vergangenheit, wieder einmal den Atem nahm.
„Hast du Geschwister?“
„Ja… Zwei.“ Ich schluckte erneut schwer, während sich meine Augen mit Tränen füllten und ich diese hastig wegzublinzeln versuchte.
„Gehen sie auch auf unsere Schule?“
„Ja. Caleb und Jake. Sie sind beide in unserem Jahrgang, haben aber andere Kurse gewählt.“, erklärte ich, während ich automatisch den Schulhof nach den beiden absuchte. Es müsste mir ein leichtes sein, da sie die einzigen mir bekannten Gesichter waren, doch wer nicht gefunden werden will, wird auch nicht entdeckt.
„Seid ihr Drillinge?“, fragte sie neugierig. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, Caleb ist drei Monate älter als ich und Jake drei jünger.“
„Adoption.“, fügte ich hinzu, als sie mich erstaunt ansah. Ich wartete auf irgendeine Reaktion, doch Sally lächelte nur.
„Du musst mir die beiden unbedingt mal vorstellen!“
In diesem Moment verkündete die Schulglocke plötzlich das Ende der Mittagspause. Sally seufzte und warf einen Blick auf ihr Handy, um sich zu vergewissern, dass es wirklich bereits halb zwei war. Dann zog sie mich Richtung Sporthalle.
„Aber erst haben wir Sport. Glaub mir, bei Mrs. Terence sollten wir lieber wirklich nicht zu spät kommen.“

Die Umkleide roch nach Parfüm und einem unausstehlichen Mix aus verschiedenen Deo-Sorten. Der Gestank verschlug mir beinahe den Atem, als Sally die Tür öffnete und wir hineinschlüpften.
Sofort verstummten jegliche Gespräche. Vermutlich, weil sie allesamt von mir gehandelt hatten. Oder von Sally. Sie schien nicht gerade beliebt zu sein, doch das störte sie anscheinend nicht weiter.
Selbstbewusst schritt sie an den halbnackten Mädchen vorbei, deren Namen ich immer noch nicht auswendig konnte, in die hinterste Ecke der Kabine. Ich setzte mich neben sie, breitete mein Zeug auf der klebrigen Holzbank aus und schlüpfte aus meinen Klamotten.
„Du hast ja ein witziges Muttermal!“, meinte Sally und deutete auf meine Hüfte, „Sieht ja aus wie eine Schneeflocke.“
„Ja, cool, nicht wahr?“ Ich betrachtete den rosafarbenen Fleck. Früher hatte ich immer gedacht, jedes Kind, das im Winter geboren worden war, besäße ein solches Muttermal. Dass es einzigartig war, hatte meine Kindheitsträume natürlich umso wilder gemacht. Egal ob Schneeprinzessin oder Frau Holle, ich war als alles verkleidet gewesen.
Mittlerweile war mir das Muttermal zwar nicht unangenehm, jedoch konnte ich es nicht leiden, von anderen deswegen angestarrt zu werden, so wie in diesem Moment. Schnell zog ich mir mein Sport-Top über und verdeckte es vor den neugierigen Blicken der anderen Mädchen. Sie wandten sich allesamt von mir ab, als wäre ich wieder unsichtbar, was mir ehrlich gesagt auch lieber war, als wieder ungewollt im Mittelpunkt zu stehen.
„Du musst dir deine Haare zusammenbinden.“, meinte Sally, während sie sich ihr Zopfgummi zurecht zog und versuchte, ihre blaue Mähne unter Kontrolle zu bekommen. Aus irgendeinem Grund fand ich sie trotz ihres auffallenden Aussehens ungemein hübsch.
Ich hingegen sah mit Pferdeschwanz furchtbar aus. Meine Nase war einfach viel zu groß. Sally ließ mir jedoch keine Zeit, mich über meine Minderwertigkeitskomplexe aufzuregen, sondern marschierte entschlossen aus der Kabine. Ich folgte ihr hastig, warf einen Blick in den Spiegel und entschloss mich, mein Aussehen einfach zu akzeptieren. Es hatte ohnehin keinen Wert.

Der Sportunterricht fand an diesem wunderschönen Mittwochnachmittag auf dem Sportplatz hinter der Halle statt. Mrs. Terence, eine hochgewachsene, schlanke, dennoch muskulöse Frau mit breiten Schultern und vom Sommer gebräuntem Teint, wartete bereits auf der Tribüne auf uns. Um ihren Hals baumelten eine Trillerpfeife sowie eine Stoppuhr, von denen sie anscheinend um jeden Preis Gebrauch machen wollte.
Der schrille Ton drang über das weitläufige Hockeyfeld zu uns herüber.
„Seid ihr etwa eingeschlafen, oder was? Hopp, hopp, wir haben sowieso nur eineinhalb Stunden von denen jetzt nur noch“, sie machte eine kurze Pause und warf einen Blick auf die Stoppuhr, „eineinviertel Stunden übrig sind. Gott, wie kann man nur so langsam sein.“
„Diese Zeit reicht völlig aus.“, zischte Sally mir zu.
„Wie war das Ms. Jenkins?“ Die junge Sportlehrerin zog beide Augenbrauen nach oben.
„Nichts, Mrs. Terence, nichts. Ich habe nur gerade unserer neuen Schülerin alles über Ihre Schwimmkarriere erzählt.“ Sally setzte ein unschuldiges Lächeln auf und stieß mir in die Rippen. Ich grinste ebenfalls und tatsächlich, es funktionierte. Mrs. Terence begann ebenfalls zu lächeln und blickte geschmeichelt zu Boden.
„Nun, wenn das so ist…“
Ein weiterer schriller Pfiff hallte über den Sportplatz, dieses Mal jedoch betrat ein breitschultriger Bodyguard das Feld, gefolgt von einer Gruppe Jungs, die sich unter seinem Kommando bedingungslos in Bewegung setzten und zu joggen begannen.
„Nicht so langsam. Hoch die Füße, Mr. Stanley! Wir sind hier schließlich nicht beim Ballett!“, drangsalierte er seine Schüler.
Sie alle tanzten nach seiner Pfeife. Alle bis auf einen. Er stand am anderen Ende des Sportplatzes, beobachtete die anderen und schien, so weit ich das aus dieser Entfernung erkennen konnte, irgendetwas in sein Handy einzutippen. Auf irgendeine Weise kam er mir bekannt vor, doch gerade, als ich Sally nach seinem Namen fragen wollte, begann diese breit zu grinsen.
„Ja, hoch die Füße, Lucas!“, rief sie und erntete einen bösen Blick von Mrs. Terence, doch das schien es ihr wert gewesen zu sein. Ein Junge (Lucas?) sah zu uns herauf, schnitt eine Grimasse und begann zu grinsen.
Sally lächelte zufrieden.
„Du magst ihn.“, stellte ich fest und nickte in seine Richtung. Ihre Wangen färbten sich erst rosa und dann dunkelrot, was ich als Ja interpretierte. Wenigstens schien ich nicht die einzige zu sein, die sich innerhalb weniger Augenblicke in eine überreife Tomate verwandeln konnte. Sally wurde mir immer sympathischer.

„Heute werden wir Ausdauersport machen.“, rief Mrs. Terence, als endlich auch die letzten Mädchen aus unserer Klasse eingetrudelt waren. Sie hatte ihre Arme in die Hüfte gestemmt und hoffte auf Begeisterungssprünge, doch die anderen seufzten nur.
„Motivation, Leute!“ In die Hände klatschend, scheuchte sie uns den Rang der Tribüne ein paar Mal hoch und wieder herunter.
„Diese Sklaventreiberin.“, raunte Sally, während sie ungeschickt über ein paar Sitzlehnen kletterte. Ich war darin um einiges besser als die anderen, aus welchen Gründen auch immer.
„Sehr gut, Neue.“, lobte mich Mrs. Terence, „Wie ist dein Name?“
„Liv“, ich rang unbeholfen nach Atem, „Liv Carter.“
„Na schön, Liv, dann wollen wir das Ganze noch ein letztes Mal wiederholen.“ Der schrille Klang ihrer Trillerpfeife direkt neben meinem Ohr ließ mich zusammenzucken. Sally kam neben mir gerade zum Stehen und stützte sich auf ihre Knie.
„Oh nein, bitte nicht!“
Doch all das Flehen und Betteln schien Mrs. Terence nur noch entschlossener zu machen.
„Wir sind Mädchen, keine Memmen!“, schrie sie entschlossen, bereit, jede einzelne von uns höchstpersönlich die Stufen hinauf zu jagen und darauf konnte ich sehr gut verzichten.
Also setzten wir uns wieder in Bewegung, ich voran, die Tribüne hinauf, über die ersten zwei Reihen, bis nach ganz nach oben, dann wieder herunter. Und wieder erreichte ich das Ziel mit einem großen Vorsprung zu den anderen.
„Wie machst du das bloß?“, meinte Sally beeindruckt, als sie ebenfalls unten ankam und sich vor Seitenstechen atemlos über das Geländer beugte.

„Wie machst du das bloß? Wie kannst du bei all dem immer noch so ruhig bleiben?“ Summer band sich die blonden Haare zu einem eleganten Pferdeschwanz zusammen. Wenn es überhaupt möglich gewesen war, noch besser auszusehen, dann hatte sie es nun eindeutig geschafft. Ein wenig eifersüchtig kaute ich auf meiner Lippe herum.
„Sport, Livvy. Sport macht den Kopf frei.“, antwortete sie und schlüpfte in ihre Turnschuhe, „Wenn ich nachdenken oder vielleicht sogar mal nicht nachdenken will, gehe ich joggen. Ausdauer. Schwitz den Stress einfach raus!“

„Ich jogge viel.“, erwiderte ich knapp, bevor mir meine Stimme versagte. Jeden Morgen und jeden Abend. Ich hatte ja schließlich viel Stress, den ich loswerden und viele Dinge, über die ich nicht nachdenken wollte. Das jedoch würde ich Sally nicht erzählen.

„Was meinst du, Liv? Boxenstopp bei der Eisdiele?“
Nach dem Ausdauertraining und einer langen, ausgiebigen Dusche, hatte mich Sally zu den Fahrradständern begleitet und beobachtete mich nun dabei, wie ich langsam mein Schloss öffnete und mich auf den Sattel des alten Damenrads schwang, dessen hässliche hellblaue Farbe bereits an einigen Stellen des verbogenen Rahmens abblätterte.
„Sorry, geht leider nicht. Ich…“ Ich biss mir auf meine Lippe und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, „…habe leider noch was vor.“
„Okay, schade. Bis morgen!“, erwiderte sie, schenkte mir ein ehrliches Lächeln und winkte mir zu.
Ich wartete, bis sie um die nächste Ecke gebogen war, dann fuhr ich ebenfalls los.
Mein vom Duschen immer noch nasses Haar trocknete im Fahrtwind beinahe von allein. Ich atmete tief durch und genoss die warmen Strahlen der Sonne, die heute anscheinend noch einmal alles zu geben schien. Das perfekte Wetter für eine unbeschwerte Radtour durch die Innenstadt.
Mit dem Orientierungssinn eines gestörten Goldfischs blieb mir jedoch nichts anderes übrig, als nach einiger Zeit mein Handy zu zücken und Google Maps um Hilfe zu bitten. Klar, den Weg nachhause hätte ich sicherlich gefunden, doch dort konnte ich noch nicht hin, schließlich hatte ich Sally vorhin nicht angelogen. Ich hatte wirklich noch einen Termin.
Laut Google Maps würde ich mit dem Fahrrad zirka zehn Minuten benötigen. Also trat ich in die Pedale, um es in fünf zu schaffen. Mein Weg führte mich durch den Stadtpark, vorbei an glücklichen Pärchen und kreischenden Kindern. Sie alle verabschiedeten den Sommer, genossen die letzten warmen Tage des Jahres. Man konnte es ihnen nicht verübeln.
Aus irgendeinem Grund wollte ich nicht, dass dieser Sommer vorüber war. Es war, als wäre es nicht nur das Ende einer Jahreszeit. Es war das Ende meiner Zeit mit Summer. Ich würde sie nie wiedersehen. Nie wieder. Mit diesem Sommer war alles vorbei. Endgültig. Dabei war ich einfach noch nicht bereit, loszulassen.
Doch der Herbst würde kommen, das Leben würde weitergehen, die Welt sich weiterdrehen und diese Erkenntnis war das Schlimmste daran. Zu wissen, dass es niemanden interessieren würde, ob sie da war oder nicht. Sie war ein so großer, ein so wichtiger Teil meines Lebens gewesen und jetzt sollte alles einfach weitergehen, ohne sie? Als wäre sie nie dagewesen? Als wäre sie unwichtig?

„Ich wäre so gern wie du, Summ.“
„Wieso denn das, Livvy?“
Sie reichte mir eine Schüssel mit Erdbeeren und machte es sich neben mir auf der Hollywoodschaukel bequem. Wir blickten über die Stadt zu unseren Füßen, sahen, wie die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwand und die Häuser langsam zum Leben erwachten.
„Na, du hast vor nichts Angst!“
„Natürlich habe ich Angst, ich bin doch nicht perfekt, Honey.“ Sie lachte ein wenig, geschmeichelt über meine Worte und doch amüsiert über meine Unwissenheit.
„Ach, wovor hast du denn bitte Angst?“
Ohne zu zögern, wandte sie sich mir zu und lächelte gequält.
„Ich habe Angst, unwichtig zu sein.“
„Du bist nicht unwichtig!“
Sie starrte auf ihre Hände, die sie sorgfältig in ihrem Schoß gefaltet hatte und die nun nervös an ihren Armbändern herumspielten.
„Ich meine damit, dass ich nicht vergessen werden will, wenn ich sterbe. Ich will nicht unwichtig sterben.“
„Du willst berühmt sein?“
„Nein, nicht unbedingt. Ich will“ Ich lauschte ihren Worten, wartete auf das Ende ihres Satzes, „Ich will nützlich gewesen sein. Mein Leben soll einen Grund gehabt haben. Einen Grund, weshalb ich lebe. Und sei es einfach nur, um jemanden zu lieben, Kinder zu bekommen, ein Buch zu schreiben. Es muss ja nicht unbedingt gleich die Weltherrschaft oder der Nobelpreis sein.“
„Obwohl du das sicher auch schaffen würdest.“, fügte ich grinsend hinzu. Wieder dieses gequälte Lächeln. Ich legte meinen Kopf auf ihren Schoß und schloss die Augen. Gedankenversunken wickelte sie eine meiner Haarsträhnen um ihren Finger und drehte sie hin und her, sodass es an meinem Ohr kitzelte.
„Du wirst nicht unwichtig sterben, Summ. Die ganze Welt wird sich nach deinem Tod an deinen Namen erinnern, da bin ich mir sicher.“, hauchte ich und dachte nun ebenfalls über den Sinn des Lebens nach, während die warmen Sonnenstrahlen über meine Beine strichen, mich mit Wärme erfüllten und Summer meine Haarlocken drehte. So könnte es immer sein. Hoffentlich würde es für immer so sein.
5 Sterne
Ein beeindruckendes Debüt - 17.02.2021
Christine Kimmig

Das Buch ist so spannungsgeladen, dass es schwer fällt, es aus der Hand zu legen.Auch der Schreibstil von Luisa Bruder hat mich überzeugt.Ein Buch zum Weiterempfehlen.

5 Sterne
Ein sehr spannendes Buch - 12.02.2021

Das Buch ist sehr gelungen! Ich konnte und wollte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Hoffentlich gibt es noch weitere Bücher von dieser Autorin, ich liebe ihren Stil!

5 Sterne
Nur zu empfehlen - 07.02.2021

Das Buch bietet eine sehr spannende Geschichte, in die man sich auch dank der Erzählung aus der Perspektive der Hauptfigur und dank einigen Elementen aus der Realität sehr gut hineinfühlen und mit den Charakteren mitfiebern kann. Viele unerwartete Plottwists bringen noch mehr Spannung in die Erzählung. Ein sehr gelungenes Buch.

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