Das Drachenherz

Das Drachenherz

Sophia Dill


EUR 20,90
EUR 16,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 374
ISBN: 978-3-99131-966-5
Erscheinungsdatum: 21.02.2023
Die Bewohner zweier Fantasiewelten begegnen sich unverhofft. Zunächst wissen die Zauberer, Magierinnen und mystischen Wesen nicht, ob sie einander vertrauen können. Aber nur gemeinsam können sie es schaffen, ihre Welten zu verteidigen.
Kapitel 1

Sein Magen knurrte wie verrückt. Das Knurren war so schlimm, dass er davon aufwachte. Im Halbschlaf konnte Nale Chyser nicht verstehen, warum sein Magen so sehr knurrte. Gestern Abend hatte er doch drei Schalen Gemüsesuppe und dazu zwei große Scheiben Brot gegessen. Jedem anderem würde davon übel, ihm jedoch nicht. Er konnte wirklich einiges vertragen, obwohl man ihm das gar nicht ansah. Nale war groß und noch dazu schlank. Außerdem war er nicht mehr der Jüngste, was ihn dennoch nicht davon abhielt, bei jeglicher Arbeit anzupacken. Viele Menschen wurden mit zunehmendem Alter ruhiger und saßen mehr herum. Das war bei Nale nicht der Fall. Er ging zwar manche Sachen ruhiger an, vor allem wegen seiner weiß-grauen, bis zur Hüfte reichenden Haare, die er hegte und pflegte, oder er ließ Vyrira so manches übernehmen, aber dennoch arbeitete er fleißig weiter. Dies trug wahrscheinlich zum Teil dazu bei, dass er so viel essen konnte, ohne zuzunehmen.
Abermals gab sein Magen ein Knurren von sich. Nale nervte das Geräusch immens, weshalb er es nicht mehr länger aushalten konnte, liegen zu bleiben. Damit sein Hunger etwas gestillt wurde, stand er auf, ging aus seinem Zimmer und schnappte sich eine Scheibe Brot aus einer Schale, die auf dem Tisch stand. Da er bereits sein Gewand anhatte, musste er sich nicht mehr ankleiden und konnte daher unbeschwert aus seinem Zimmer gehen. Es handelte sich um ein großteils braun gehaltenes, stellenweise, vor allem in der Höhe der Beine, mit grün versetztes, vom Hals abwärts durchgängiges Gewand. Nale fand dieses Gewand viel bequemer als Hosen und Hemden. Er musste einfach, wenn er das Gewand ausziehen wollte, zuerst zwei Knöpfe an der rechten Schulter öffnen, die alles in der Position hielten, wo es sein sollte. Danach konnte er es einfach über den Kopf ziehen. Wenn er es wieder anziehen wollte, streifte er es dementsprechend wieder über den Kopf und schloss zum Schluss die Knöpfe.
Nale biss ein Stück vom Brot ab und ging kauend vor die Tür seiner Hütte. Als er hinaustrat, strahlte ihm die Sonne angenehm entgegen. Mit einem Blick zum Himmel merkte er, dass es heute wieder einmal ein herrlicher Tag werden würde. Denn schon jetzt gab es keine einzige Wolke am Himmel. Er ließ seinen Blick über die Lichtung und den kleinen Hügel, auf dem seine Hütte stand, weiter über seinen Kräuter- und Gemüsegarten bis hin zum angrenzenden Wald schweifen.
Er fragte sich, wo Vyrira steckte. Nale hatte nämlich beim Holen der Brotscheibe gesehen, dass die Tür zu ihrem Zimmer leicht offenstand. Für gewöhnlich war diese geschlossen. Es war ein geheimes Zeichen zwischen ihnen. Nale wusste durch die Tür meist, ob das Mädchen noch schlief oder bereits wach war. In diesem Fall bedeutete es, dass sie nicht mehr im Bett lag, sondern vor ihm aufgewacht war. Da er Vyrira nicht im Garten oder auf der Lichtung vor sich erblickte, war sie wahrscheinlich Pilze sammeln gegangen. Das Mädchen war immer vor ihm munter, aber normalerweise wartete es, bis er aufgestanden war. Dann sagte Vyrira ihm immer, wohin sie ging und wie lange sie ungefähr unterwegs sein würde. Vielleicht wollte sie einfach nach so langer Zeit wieder einmal den Sonnenaufgang genießen, was sie schon lange nicht mehr getan hatte, wenn er sich recht erinnerte. Sie sollte ja ihre Jugend noch genießen und nicht dauernd daheimbleiben und ihm bei der Arbeit helfen, dachte er. Vyrira war so ein fleißiges Mädchen, immer eifrig etwas Neues zu lernen und sie probierte alles aus. Ebenfalls erledigte sie alle Arbeiten so schnell es ging und mit einer Präzision, die ihn jedes Mal aufs Neue erstaunte. Daneben war auch ihr Wissensdurst unendlich, was ihn genauso faszinierte, und dafür liebte er sie umso mehr.
Trotzdem kam er nicht umhin, sich auch Sorgen um sie zu machen. Jedes Mal, wenn sie allein in den Wald ging, um Pilze und anderes zu sammeln, oder wenn sie Spaziergänge unternahm, fragte er sich, ob alles in Ordnung war. Immer wieder fragte er sich, ob Vyrira nicht überfallen wurde oder schlimmer noch verletzt im Wald lag. Nale ermahnte sich, ihr Freiraum zu lassen und sie nicht zu sehr einzuengen. Schließlich musste sie irgendwann auch ohne ihn auskommen.
Sie lebte seit ihrem Kindesalter bei ihm und er bereute keine einzige Sekunde davon, obwohl so einiges in ihrer Kindheit schiefgelaufen war. Daran konnte sie sich, sehr zu seiner Freude, nicht erinnern, da sie noch recht jung war. Er hatte sie aufgezogen wie eine Tochter, obwohl sie weit mehr war als das. Doch wenn er an die damalige Zeit zurückdachte, kamen ihm die Tränen. Nale hätte sich alles so viel anders gewünscht, als es wirklich gekommen war, aber er konnte nichts mehr dagegen tun. Er versuchte, das Beste daraus zu machen und Vyrira, wie versprochen, ohne große Erwartungen aufzuziehen.
Er schob sich den Rest des Brotes in den Mund. Während er dieses Stück zerkleinerte und hinunterschluckte, schritt er in seinen angelegten Garten. Er suchte sich das reifste Gemüse und die reifsten Gewürze aus, um etwas davon zu pflücken oder auszugraben. Von den Gewürzen sammelte er vor allem etwas Knoblauch und ein paar Zwiebeln. Des Weiteren kamen noch Pfeffer, Anis, Fenchel, Senfkörner, Zimt, etwas Ingwer, Petersilie und zwei Lorbeerblätter dazu. Er überlegte, ob er noch genug andere Pflanzen hatte, die er für Salben benötigte. Soweit er sich erinnern konnte, waren nicht mehr viele da. Daher beschloss der Mann, nachdem er das Wasser geholt hatte, in den Wald zu gehen. Sein Freund würde vielleicht schon warten.
Ihm fiel auf, dass der Boden seines Gartens wieder trocken war und so entschied er, nachdem er alles in die Hütte getragen hatte, Wasser aus dem See zu holen. Der See war zwar ein gutes Stück entfernt, aber ihm war das egal. An diesem Tag musste er so oder so Wasser holen, weil er sonst keins zum Kochen hätte. Wenn es nur wegen der Gewürze war, bat er Vyrira, zum See zu gehen, aber da sie nicht zu Hause war, war er gezwungen, selbst zu gehen. Nachdem er einiges gepflückt hatte und sein linker Arm vollgepackt war, ging er in seine Hütte zurück und legte alles auf den Tisch, der in der Mitte des Raumes stand.
Nale sah nach rechts, um festzustellen, ob die zwei Eimer dort standen, die er für gewöhnlich für das Wasser verwendete. Dies war nicht der Fall, weshalb er erst überlegen musste, wo die beiden standen. Wasser holen, gut und schön, aber ohne Eimer war dies unmöglich. Vyrira hatte die Angewohnheit, mindestens jede Woche alles umzuräumen, deshalb hieß es erst einmal suchen. Er suchte überall, selbst in seinem und in ihrem Zimmer, aber nirgends waren die Eimer zu finden. Nale rieb sich nachdenklich über seinen weißen Bart, der nur andeutungsweise vorhanden war. Er musste sich wieder einmal rasieren, aber dafür war jetzt keine Zeit. Der Mann dachte nach und dann kam ihm eine Idee. Mit großen Schritten durchquerte er den Raum, marschierte zur Tür hinaus, ging zur Rückseite des Hauses, die zum Wald zeigte. Genau dort fand er das, was er suchte.
„Da sind sie ja. Ich muss mit dem Mädchen wirklich ein ernstes Wörtchen reden. Jede Woche steht alles woanders und ich kann nichts mehr finden! Von wem hat sie das nur?“
Doch im Grunde kannte er die Antwort bereits. Es war seine Schuld, dass Vyrira das tat. Er gab ihr zu viele Freiheiten und ließ ihr alles durchgehen. Außerdem hatte er ihr all die Jahre hindurch erklärt, wie wichtig es war, Ordnung zu halten. Vor allem in seinem Beruf war es wichtig, eine gewisse Ordnung zu halten. Nale arbeitete als Heiler und versorgte jeden, der Hilfe benötigte. Besonderes Augenmerk legte er auf ein großes Dorf, das sich auf der anderen Seite des Waldes befand. Dort gab es jedes Jahr diverse Probleme wie Knochenbrüche oder verschiedene kleinere Wunden. Auch bei Geburten war Nale zugegen. Salben sowie deren Zutaten und Verbände mussten daher geordnet sein, damit er sie schneller wiederfand.
Nale schnappte sich zwei von den vier Eimern und verschwand damit. Nale genoss den Weg von seiner Hütte bis zum See und wieder zurück. Obwohl er außerhalb des Dorfes wohnte und daher von genug Natur umgeben war, war es trotzdem immer wieder schön. Hier gab es keine Menschen, die herumschrien und drängten. Er konnte Vyrira daher verstehen. Sie liebte genauso wie er die Natur. So oft es ging, sagte sie ihm, wie schön es hier war, und dass sie nie ins Dorf ziehen würde, nur um näher bei den Geschäften zu sein. Beide waren froh, wenn sie nach ihrem Einkauf wieder aus dem Dorf nach Hause kamen und wieder unter sich waren.
Nach langem Gehen erreichte er endlich den See. Einen Eimer nach dem anderen tauchte er ins kalte Wasser und füllte sie bis oben hin, damit der Spaziergang erst recht nicht umsonst war. Nachdem beide Eimer voll waren, ging er mit vorsichtigen Schritten zurück. Das Gras unter seinen Schuhen war etwas feucht und die vollen Eimer erhöhten die Gefahr, sich zu verletzen, deshalb setzte er vorsichtig ein Bein vor das andere. Nale war so in seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkt hatte, dass er seine Hütte schon fast erreicht hatte.
Vor der Tür angekommen, stellte er einen Eimer davor ab und ging mit dem anderen zu seinem Garten, um diesen Punkt abzuhaken, bevor er ihm entfiel. Nach getaner Arbeit ging er zurück, sammelte den anderen Eimer ein, ging in die Hütte und stellte beide Eimer neben den Tisch auf dem Boden ab. Aus seinem Zimmer holte er seinen Rucksack, damit er etwas hatte, wo er die Sachen aus dem Wald hineinpacken konnte. Ein Messer hatte er bereits im Rucksack, daher holte er aus einem Schrank nur mehr einige bereits geschnittene Fleischstücke. Diese stopfte er in eine Tasche seines Umhanges, während er wieder hinausging und dieses Mal Richtung Wald
marschierte.
Nale hatte noch nicht einmal den Waldrand erreicht, als ein Wolf zwischen den Bäumen heraussprang und genau auf ihn zu lief. Er musste mitbekommen haben, dass Vyrira nicht zu Hause war, ansonsten wäre er nicht gekommen. Die beiden freuten sich zwar darüber, sich zu sehen. Dennoch verbrachte Brandon mehr Zeit im Wald, wenn Vyrira anwesend war. Normalerweise wartete der Wolf im Wald, bis Nale ebenfalls dort war.
„Brandon, alter Freund. Hoffentlich hast du nicht lange gewartet“, rief Nale dem Tier entgegen.
Der Wolf namens Brandon stellte sich auf die Hinterbeine und legte die Vorderpfoten auf Nales Unterarme. Als Antwort auf seine Frage berührte Brandons Zunge sein Gesicht.
„Danke, Brandon. Das reicht für heute. Diese ständige feuchte Begrüßung ist wirklich eine schrecklich nervige Angewohnheit von dir“, sagte Nale und ließ die Pfoten von seinen Armen gleiten.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg tiefer in den Wald hinein. Der Wolf schlich hechelnd um seine Beine herum, aber Nale ignorierte es eine Weile. Er hielt Ausschau nach einem bestimmten Baum, von dem er die Rinde benötigte. Brandon war beharrlich, bis es dem Alten letzten Endes doch zu viel wurde. Sein Begleiter war schon immer eine Nervensäge gewesen und testete ständig Nales Geduld, wenn er etwas roch, das er mochte.
„Ja, ich weiß, dass du das Fleisch riechst. Hier hast du ein wenig, du Nervensäge.“
Nale warf ein Stück des Fleisches weg. Gierig rannte der Wolf hinterher. Jetzt trabte Brandon ein Stück vor ihm her und wedelte glücklich mit seinem Schwanz. Minuten vergingen ohne eine weitere Störung, in denen der Alte nach dem gewünschten Baum suchte. Er suchte nach einer Buche, an der sich Wucherungen gebildet hatten. Diese wurden Feuerschwämme genannt. Nale benötigte sie einerseits für die Herstellung von Salben. Feuerschwämme waren hervorragend geeignet dafür, gute Salben herzustellen. Andererseits benutzte er sie zum Feuermachen. Zusätzlich sammelte er die Rinde des Baumes. Während er noch suchte, sammelte er einige Heilpflanzen und steckte sie in den Rucksack. Als er nach rechts sah, entdeckte er den Baum und ging in diese Richtung. Nale legte seinen Rucksack ab und blickte dem Stamm entlang nach oben. Er wollte nicht die Rinde, die in seiner Reichweite war, herunterreißen. Ihm war die am liebsten, die weiter oben war, und dies hieß jedes Mal klettern. Es gab einen bestimmten Grund, warum er die Rinde von weiter oben verwenden wollte. Der Grund war nämlich der, dass diese für Nales Zwecke sehr wertvoll war, da man aus ihr die besten Salben herstellen konnte. Die Rinde war an der richtigen Stelle. Einerseits nicht zu nah am Boden und andererseits nicht zu nah am Wipfel. Schön in der Mitte und genau dieser Teil der Rinde war am besten.
„Dann mal los. Pass ja auf meine Sachen auf und spiel nicht daran herum!“, rief der Mann Brandon zu und holte das Messer aus einer Seitentasche des Rucksackes.
Er ließ es in eine der Taschen seines Gewandes gleiten und griff dann nach dem Ast, der ihm am nächsten war. Anfangs probierte er zaghaft, ob der Ast sein Gewicht auch wirklich hielt. Als er sicher war, zog er sich daran hoch. Er hatte generell nichts gegen das Klettern, aber es wurde mit zunehmendem Alter immer schwieriger. Langsam gelangte er weiter nach oben und blieb dann auf einem kräftigen Ast stehen, bei dem er sicher war, dass er sein Gewicht tragen konnte. Nun ging er daran, Rinde vom Stamm zu trennen. Jedes Teil, das er vom Baum lösen konnte, warf er Richtung Waldboden. Als er gerade ein erneutes, großes Stück Rinde vom Baum trennen wollte, rutschte ihm das Messer ab und die Klinge schnitt in die Handfläche seiner linken Hand.
„Verdammt!“, fluchte Nale.
Sofort trat Blut aus der Wunde. Zum Glück hatte Nale immer mehrere Stoffstücke in einer Tasche seines Umhanges, falls so etwas einmal passiert. Er holte eins heraus und wickelte dieses so gut wie möglich um seine Hand. Der Schnitt schmerzte mächtig und wie er feststellte, war dieser recht tief. Wenigstens konnte er seine Hand bewegen. Das Rindenstück schnitt er noch vom Baum und ließ es fallen. „So, das genügt“, dachte er sich, steckte das Messer zurück in seine Tasche und begann wieder Ast für Ast hinunterzuklettern. Beim letzten Ast angekommen, hüpfte der Mann von diesem hinunter. Dabei kam er mit den Füßen unglücklich auf dem Boden auf, sodass sein rechter Fuß umknickte. Nale kippte um und fiel zu Boden. Sitzend griff er mit einer Hand nach unten und tastete seinen Knöchel ab. Dabei bewegte er vorsichtig seinen Fuß. Schmerz fuhr durch den Fuß und der Mann unterließ weitere Berührungen und unnötige Bewegungen.
„Gerade jetzt muss das passieren. Mist! Heute ist wirklich nicht mein Tag“, fluchte er.
Da konnte er sich etwas von Vyrira anhören, wenn sie es herausfinden sollte. Sie hatte bereits vor einigen Monaten bestanden, diese Kletterei zu übernehmen. Ab und an ließ er sie gewähren. Manchmal jedoch hörte er nicht auf sie und kletterte selbst hinauf. Auf einem Bein sammelte Nale die Stücke der Rinde ein und packte sie anschließend in den Rucksack. Jetzt bräuchte er nur noch etwas, um sich abzustützen, damit er den Fuß nicht allzu stark belastete. In dem Moment, als er sich umsehen wollte, kam Brandon auch schon mit einem Stock zu ihm.
„Danke dir. Was wäre ich nur ohne dich?“, sagte Nale und nahm die Gabe entgegen.
Als Belohnung bekam der Wolf das restliche Fleisch. Den Rucksack aufgeschnallt, begann Nale, sich auf den Stock stützend in die Richtung zu humpeln, aus der er gekommen war. Auf seinem Weg zurück nahm er sich fest vor, den Fuß ruhen zu lassen und eine Salbe aufzutragen. Bevor er dies jedoch tat, wollte er zuerst die gesammelten Zutaten verteilen und das Essen für später vorbereiten. Nale wusste, wenn er die Sachen nicht erledigte, würde er keine Ruhe haben. Und Vyrira wollte er die Arbeit auch nicht überlassen. In dieser Hinsicht war er leider stur. Vyrira würde ihm zwar die Hölle heißmachen, wenn sie erfuhr, dass er verletzt arbeitete, aber das war ihm momentan egal. Ausruhen konnte er sich nach getaner Arbeit schließlich immer noch. Am Waldrand angelangt schleckte der Wolf zum Abschied eine von Nales Handfläche ab.
„Ich werde sicher bald wiederkommen. Sei vorsichtig im Wald. Nicht, dass du verletzt wirst.“
Mit einem Knurren verschwand Brandon wieder im Wald. Nale blickte dem Wolf noch kurz hinterher, bis er sich mühsam weiter auf den Weg nach Hause machte. In der Hütte angekommen legte er den Rucksack auf den Tisch. Ohne sich weiter auf den Stock zu stützen, machte er sich daran, alles, was er gesammelt hatte, zu Recht zu schneiden und in Gläser zu füllen. Gerade war der Mann dabei, das Essen vorzubereiten. Doch in diesem Moment vernahm er die erschöpfte und verzweifelt klingende Stimme von Vyrira, die seinen Namen rief. Er ließ alles stehen und liegen und stürmte aus der Hütte. Vor der Tür angekommen sah er, dass sie einen jungen Mann stützte, der am Arm verletzt war.
„Vyrira! Was ist passiert?“, rief er und lief ihnen entgegen.
„Das erkläre ich dir später! Hilf zuerst ihm!“, antwortete sie erschöpft.
Den Rest des Weges zur Hütte übernahm Nale den Verletzten und legte ihn vorsichtig auf das Bett, das neben dem Kamin stand. Er sammelte alles zusammen, was er für die Wunde brauchte. Zum Glück hatte Nale immer genügend Salben für solche schweren Verletzungen parat und fertig angerichtet, um sich die Mühe zu sparen, erst welche anzurichten. Mit einem gezielten Handgriff holte der Alte ein Glas und einen Verband von einem Regal an der Wand und eilte mit beidem zurück zum Bett. Er schlug den zerrissenen Stoff beiseite und trug die Salbe auf den tiefen Schnitt, der unter der Schulter begann und kurz vor dem Ellbogen endete.
„Nach dem Schnitt zu urteilen, musst du ziemlich viel Blut verloren haben. Du hattest Glück, dass man dich gefunden und hierhergebracht hat, sonst wärst du verblutet. Inzwischen kannst du mir erklären, was das alles zu bedeuten hat, Vyrira!“, forderte Nale, während er begann, seinen Patienten zu verbinden.
„Er wurde von Soldaten angegriffen. Ich war zum Glück in der Nähe und bin sofort eingeschritten“, antwortete Vyrira, die auf der Bank beim Tisch saß.
„Du hast was gemacht? Wie hast du das angestellt, ohne großartig verletzt zu werden? Wichtig ist jedoch, mit welchem Gegenstand du überhaupt gekämpft hast?“, fragte Nale verdutzt, während er sich unablässig um seinen Patienten kümmerte. Ihm war aufgefallen, dass das Mädchen nur einige Blessuren im Gesicht aufwies.
„Das Schwert, das du mir vor einigen Jahren besorgt hast, war meine Waffe“, antwortete sie sicher, obwohl ihre Selbstsicherheit bei seinem Gesichtsausdruck blitzartig nachließ.
Auf das war er nicht vorbereitet und Nale betrachtete das Mädchen verwirrt. Erst als seine Lungen brannten, merkte der Mann, dass er sogar vergessen hatte zu atmen, und holte gierig Luft. Dieses Mädchen brachte ihn bald völlig um den Verstand, wenn das so weiter ging, dachte er sich. Er fuhr mit dem Auftragen der Salbe fort, während niemand ein Wort von sich gab. Die einzigen Laute kamen von dem jungen unbekannten Mann, der trotz längerem Liegen immer noch stoßweise atmete. Als er den Arm fertig eingesalbt und verbunden hatte, stand er auf, ging zum Tisch und fing an, alles wegzuräumen.
Dass sie das Schwert mit sich herumgeschleppt und womöglich damit geübt hatte, beunruhigte ihn und bereitete ihm Kopfzerbrechen. Sie musste geübt haben, kam es ihm in den Sinn. Wenn sie eingeschritten war, bedeutete dies, dass sie in einen Kampf verwickelt gewesen war. Und als Ungeübte zu kämpfen, hätte nicht gut geendet. Nach den wenigen Blessuren zu urteilen, musste sie sich gut geschlagen haben. Oder aber, die Soldaten hatten vorerst den Rückzug angetreten, da sie nicht mit Vyrira gerechnet hatten und nicht unnötig Aufsehen erregen wollten. Sie konnten schließlich nicht wissen, ob nicht noch jemand in der Nähe war, um zu helfen. Trotzdem war er auch irgendwie stolz auf sie. Sie hatte trotz aller Ermahnungen, niemals eine Waffe in die Hände zu nehmen, höchstens als Selbstverteidigung oder Verteidigung für Unschuldige, ihren Kopf durchgesetzt. Er könnte sich selbst dafür beschimpfen, denn er war ja selbst schuld an der Misere. Schließlich war er es, der das Schwert besorgt hatte.
Nale stützte sich an der Tischplatte ab und fragte ruhig, den Blick auf die Tischplatte gerichtet: „Warum hast du mir nie erzählt, dass du mit dem Schwert übst?“
„Ich wollte nicht, dass du dir noch mehr Sorgen um mich machst.“
„Ich mache mir immer Sorgen. Es will mir gerade nicht in den Kopf, warum du das getan hast. Du hättest dich selbst verletzen können und ich hätte nichts davon bemerkt. Die ganze Zeit über hatte ich dir geglaubt und vertraute auf dein Wort!“
Stolz war er natürlich auch auf sie, auf ihren Mut und ihren Ehrgeiz, aber das sagte er ihr nicht, zumindest noch nicht. Damit er etwas ruhiger wurde, schlug Nale mit einer Faust auf den Tisch. Unglücklicherweise tat er dies mit der falschen Hand. Der Schmerz, der dabei entstand, war schlimm und Nale zuckte sogar etwas zusammen. Ansonsten ließ er sich nichts anmerken, dass etwas mit seiner Hand nicht stimmte. Hinter seinem Rücken vernahm der Alte die Stimme des Jungen und drehte sich zu ihm um.

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