Das Dorf der Anderen

Das Dorf der Anderen

Ursula Wihler


EUR 21,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 558
ISBN: 978-3-99038-797-9
Erscheinungsdatum: 19.03.2015

Leseprobe:

Der Traum

Schlagartig wurde Philipp sein Traum von vergangener Nacht bewusst. Eigentlich geschah es sehr selten bis gar nicht, dass er sich morgens so genau an den Inhalt seiner Träume erinnern konnte. Er hatte geträumt, er säße allein im Hörsaal bei seinem damaligen Lieblingsprofessor.
Professor Gauchi hatte ihn heute Nacht im Traum gebeten, die Frau zu retten – er werde heute nur zu einem einzigen Notfall gerufen werden. Rettung werde ihm nur gelingen, wenn er keinen Zwang anwende, keine Medikamente einsetze, die Frau nicht unterschätze und vor allen Dingen menschlich bliebe. Dann sagte Professor Gauchi noch, dass diese Frau ihn ohne Worte viel lehren und einen starken Einfluss auf sein Leben haben werde. Das war das, was Philipp beim Erwachen glasklar in Erinnerung gewesen war – und das, was Professor Gauchi als Allererstes gesagt hatte: jetzt käme eine ganz spezielle Prüfung für ihn, denn er sei sein bester Schüler.
Damals war er liebend gerne in die Vorlesungen bei Professor Gauchi gegangen, denn hier ging es nicht nur um Fakten, sondern Professor Gauchi verstand es, seine Studenten mit spannenden Geschichten, die das Leben schrieb, zu unterhalten und ganz nebenbei die Fakten einfließen zu lassen, sodass Philipp und seinen Kommilitonen oft erst später im Beruf Erinnerungen an die eine oder andere Geschichte kam, die dem vorliegenden Fall ähnelte. Der Kern der Erzählungen konnte oft weiterhelfen, den richtigen Schritt zu tun, die richtige Handlung auszuführen.
Philipp war seit acht Jahren leitender Notfallarzt. Prüfungen bei Professor Gauchi oder sonst jemandem brauchte er schon lange keine mehr zu machen. Außerdem war Professor Gauchi seit zwei Jahren tot. Während des Studiums war Philipp allerdings ein sehr guter Student mit exzellenten Noten bei ihm gewesen.
Er hatte auch nach dem Studium bis zum Tod des Professors regelmäßig an offenen Treffen mit anderen Absolventen teilgenommen, die unter Professor Gauchis Leitung gemeinsam schwierige Fälle diskutiert hatten. Der Professor konnte fast immer weiterhelfen, oft mit Geschichten, die er selbst erlebt oder erfunden hatte – das Letzte war Philipps Vermutung. Durch die Geschichten war das Wissen nie als Belehrung empfunden worden, sondern immer wie gutes Anschauungsmaterial, von dem man mitnehmen konnte, was man erkannte und wollte.
Zu Professor Gauchi hatte Philipp immer aufgesehen. Sein Tod vor zwei Jahren war ein wirklicher Verlust gewesen. Zum Glück war da Philipps Lebenspartner Björn, der Philipp tröstete und ihm gut zuredete, wenn Philipp über einem schwierigen Fall saß oder einen anderen Grund hatte, der ihn traurig stimmte. Philipp hatte Björn vor fünf Jahren kennengelernt und seitdem konnte man sagen, sie waren ein glückliches Paar. Björn war Pfleger auf einer anderen Station im gleichen Krankenhaus. Er hatte viel regelmäßigere Einsätze als Philipp, der manches Mal außerplanmäßig zu Notfalleinsätzen gerufen wurde.

Es war ein warmer Oktobertag, die Herbstferien hatten bereits begonnen. Viele Leute waren im Urlaub und es versprach, ein ruhiger Tag zu werden. Philipp schaute den Vormittag über Patienten von der gestrigen Aufnahme an, die über Nacht geblieben waren. Er konnte zwei von drei Patienten von der Intensivstation auf die normale Station verlegen, der dritte Fall war, soweit möglich, einigermaßen stabil. Bis zum Mittag hatte er keinen Neuzugang.

Beim Mittagessen scherzte Schwester Rosemarie mit ihm und fragte ihn so nebenbei, was er von Träumen hielte – sie hätte heute Nacht so einen lebhaften Unfug geträumt: Er, Philipp, werde von der Polizei gesucht als Mörder. Philipp schüttelte den Kopf und fragte, ob Schwester Rosemarie oft so lebhafte Träume hätte. Als sie verneinte und beschrieb, dass sich ein Traum selten so real und greifbar angefühlt habe, erzählte auch er ihr seinen außergewöhnlichen Traum.
Zu Schwester Rosemarie hatte er ein sehr gutes Verhältnis. Sie hätte vom Alter her seine Mutter sein können, sie hatte sehr viel Erfahrung und scheute sich nicht, auch mal einem Arzt mit ihrem Wissen und klugen Durchblick zu widersprechen. Schwester Rosemarie war so etwas wie ein Urgestein, sie war schon da gewesen, als Philipp hier mit der Arbeit begann, und er hatte sie vom ersten Tag an gemocht – das war gegenseitig, denn auch Schwester Rosemarie mochte Philipp vom ersten Moment an. Sie schätzte es sehr, dass er ihren Rat achtete, sie nie von oben herab behandelt hatte und manches Mal mit ihr in leidenschaftlich geführte Diskussionen geriet, wenn beide versuchten, ihrem Gegenüber den eigenen Standpunkt zu erklären. Hatten sie gemeinsam Dienst, verlief die Arbeit meist reibungslos. Andere Schwestern waren in der Regel viel jünger, blieben nicht lange und so manche versuchte, Philipp schöne Augen zu machen. Schwester Rosemarie wusste von Philipp und Björn und hatte so manche aufdringliche Schwester mit passenden Worten bedacht, sodass sie Philipp etwas Luft verschaffen konnte in dieser Hinsicht. Nur die ganz Hartnäckigen musste er selbst abwehren. Wenn sich eine der jüngeren Schwestern über Schwester Rosemaries Regiment beklagte, so wusste Philipp sie in die Schranken zu weisen.
So saßen Philipp und Schwester Rosemarie oft beieinander am Mittagstisch, sprachen über Patienten, jeder von seiner Warte aus, und hörten zu. Schwester Rosemarie erfuhr viel von Patienten, was ein Arzt nur selten zu hören bekam, steuerte dazu auch noch eine gute Portion Menschenkenntnis bei und lieferte Philipp damit oft wichtige Details. Philipp seinerseits hatte Ehrgeiz und probierte bei den Patienten, wo er nicht weiterkam, gerne auch mal etwas Neues oder Ungewöhnliches aus. Das, was er zu tun gedachte, besprach er dann gerne mit Schwester Rosemarie, die geduldig zuhörte und ihn meist unterstützte – aber ihm auch schon manches Mal gesagt hatte, wenn ihr etwas zu abstrus vorkam. Philipp hörte gerne auf sie und war damit bisher recht gut gefahren.

Heute und die kommende Nacht hatte er mit Schwester Rosemarie Dienst, Notfall nur bis 18.00 Uhr, danach hoffentlich einen ruhigen Nachtdienst. Dann fünf Tage Pikett für den Fall, ein anderer Arzt fiele aus oder sei überlastet. Auch Schwester Rosemarie hatte drei Tage Pikett, dann vier Tage Dienst.
Für den Nachmittag wollte Philipp Erkundungen über die anderen Patienten einziehen, die er im Laufe der letzten Woche verlegt hatte, entsprechende Berichte waren zu schreiben – alles, solange kein Notfall einging. So sollte es auch bleiben. Bis 17.30 Uhr hatte er die Schreibarbeiten bewältigt und nun freute er sich auf eine ruhige Nacht, dann Piketttage – viel Zeit, um sie mit Björn zu verbringen. Weit konnte er mit Björn nicht fort, denn er musste, falls ein Anruf ihn erreichte, innert 30 Minuten hier vor Ort sein, aber auf der Terrasse die letzten Herbsttage genießen, im Haus werken oder um die Ecke im kleinen Lädchen einkaufen oder kuschelige Stunden mit Björn verbringen … Das Klingeln des Notfalltelefons riss ihn aus seinen Gedanken – es war jetzt 17:45 Uhr. Hätte das nicht noch eine Viertelstunde oder länger warten können, dann hätte er den Hauptdienst abgegeben. Vielleicht war es ja nur eine Kleinigkeit.
Er organisierte alles Nötige und saß fünf Minuten später im Notarztwagen nach Lüdingen. Es würde etwa eine halbe Stunde dauern, bis er am Einsatzort wäre. Der Rettungswagen würde aus Kaiserstein kommen, wohin er vorher mit einer Patientenverlegung unterwegs war. Die beiden anderen Rettungswagen waren weiter fort mit Patientenverlegungen. Den Helikopter hatte er nicht anfordern können, denn inzwischen war dicker Herbstnebel aufgezogen, der eine Landung unmöglich gemacht hätte.
Normalerweise hätte er 20 Minuten für die Strecke gebraucht. 10 Minuten war er bereits unterwegs, konnte aber wegen des dichten Nebels nicht so schnell fahren, wie er hätte sollen. Ihm fielen wieder Geschichten von Prof. Gauchi ein, in denen Retter ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatten, statt besonnen zu handeln, und wo es später dann doppelten Rettungsaufwandes bedurft hatte. Also fuhr Philipp so schnell, wie es aus seiner Sicht der Nebel erlaubte. Im Geiste ging er noch einmal den Anruf durch: ein bewusstloser Mann, der vielleicht Kopfverletzungen oder innere Verletzungen hatte. Er war in seiner Wohnung von Arbeitskollegen gefunden worden. Der jetzt Bewusstlose hatte selber ungefähr eine halbe Stunde vorher die Kollegen gebeten zu kommen. Philipp hatte am Telefon Anweisungen gegeben, den Bewusstlosen in die stabile Seitenlage zu bringen, und versprochen, so schnell als möglich zu kommen. Zwei Rehe, die aus dem Nebel auftauchten und über die Straße liefen, rissen ihn aus seinen Gedanken. Er war froh, dass er mit dem Notarztwagen unterwegs war, der immer top gewartet war und gerade vor zwei Wochen neue Reifen bekommen hatte, sodass das Bremsmanöver für alle glimpflich ausging. Als er die Fahrt fortsetzte, musste er lächeln, als er an das Mittagsgespräch mit Schwester Rosemarie zurückdachte – Träume waren eben doch Schäume. Er hatte offensichtlich heute wirklich nur einen einzigen Notfall, aber es ging ja um einen Mann. Der Arbeitskollege würde sich wohl kaum über das Geschlecht seines Mitarbeiters getäuscht haben – oder vielleicht doch? Er musste an sich und Björn denken. Sie waren eindeutig Männer und hatten keine Allüren, sich als Frau zu verkleiden. Aber sie konnten miteinander wunderbar ihre weichen und sensiblen Züge leben, für die sie von anderen Männern immer verlacht worden waren und oft auch ausgeschlossen wurden.
Das GPS leitete Philipp sicher im Nebel zum Einsatzort, fast gleichzeitig traf der Rettungswagen ein. Die Polizei war, wie Philipp am Auto vor dem Gartenzaun erkannte, bereits eingetroffen. Was er zunächst mitzunehmen hatte, wusste er im Schlaf, die Tür wurde bereits offen gehalten. Der Bewusstlose hatte einen flachen Puls und Atem, äußerlich waren keine Blutspuren, Hämatome oder sonstige Verletzungen zu erkennen. Einer der Polizisten trat zu ihm, stellte sich als Kommissar Kreuzber vor und gab sich als Anrufer zu erkennen. Philipp fragte den Kommissar nach Einzelheiten des Geschehens, um dadurch auf mögliche innere Verletzungen schließen zu können. Der Kommissar konnte oder wollte jedoch dazu keine Angaben machen. Er fragte seinerseits Philipp nach den zu erwartenden Aussichten für seinen Kollegen, doch diesmal war es Philipp, der keine Angaben machen konnte. Neben all den einstudierten Abläufen, Handgriffen und Messungen, die Philipp zu machen hatte, bemerkte Philipp große Trauer und Besorgnis in dem Gesicht seines Gegenübers, die plötzlich in Hass umzuschlagen schienen. Schließlich gab Philipp die Anweisung, den Bewusstlosen auf die Bahre zu heben und weiter im Rettungswagen zu versorgen. Er überlegte, wie es ihm wohl gehen würde, wenn Björn plötzlich so bewusstlos daläge. Er hatte für den Moment alles Nötige getan, den Rest wussten die Rettungssanitäter mit sicheren Handgriffen zu erledigen. Er räumte gerade seine Sachen wieder zusammen, als seine Aufmerksamkeit von den Polizisten angezogen wurde. Sie hatten zu dritt eine Frau umringt, die mit dem Rücken zur Wand stand. Kommissar Kreuzber schrie sie an und ohrfeigte sie links und rechts, die Frau sackte zusammen – Kommissar Kreuzber versuchte, sie mit Fußtritten wieder zum Aufstehen zu bewegen. Jetzt sprang Philipp dazwischen und stellte eine scharfe Frage: „Meinen Sie nicht, Sie sind in Ihrem Beruf etwas zu weit gegangen?“ Das schien Kommissar Kreuzber einen Moment zur Räson zu bringen, er entschuldigte sich kurz bei den Umstehenden und ging hinaus, die beiden anderen Polizisten folgten ihm – hatte Philipp Tränen in seinen Augen gesehen?

Jetzt hatte Philipp Zeit, die Frau genauer zu betrachten und kurz zu untersuchen. Elend sah sie aus, ihr Haar leicht nass, jetzt war auch sie bewusstlos. Die rechte Hand der Frau war frisch verbunden. Sie trug zu kurze Männerkleidung, die mochte dem Bewusstlosen von der Größe her eher passen. Die Frau war ungeschminkt, keine lackierten Fingernägel, langes, braunes Haar, auf den ersten Blick auch nicht gefärbt, kein Schmuck, kein Ehering. Die Haut recht kühl. Philipp sah sich kurz um. Auf dem Couchtisch eine Spritze – Drogen? Auf der Couch eine unordentliche Decke – hier hatte jemand vor Kurzem gelegen.
Ein Polizist kam wieder herein. Er entschuldigte sich nochmals für Kommissar Kreuzber, die Gefühle seien halt mit ihm durchgegangen, so würden sie ihren Vorgesetzten nicht kennen. Philipp fragte, wer die Frau sei, aber das konnte ihm der Polizist nicht beantworten, gesagt hätte sie nichts, sie hätten keinerlei Papiere bei ihr gefunden – nur einen Haufen nasser Kleider im Badezimmer, die nicht ihrem Kollegen Petters gehörten. Petters hätte nie etwas von einer Frau erzählt, dass er gemeinsam mit irgendwem Drogen einnehme, sei undenkbar. Die Frau erbrach Blut. Philipp überlegte fieberhaft, was jetzt das Nächste sei – die Frau konnte er unmöglich bei Kommissar Kreuzber lassen. Bis Philipp einen neuen Rettungswagen organisiert hätte, würde bei dem Nebel wahrscheinlich für Hin- und Rückweg zum Krankenhaus eine Stunde vergehen, an den Helikopter brauchte er nicht zu denken. Er würde sie im Notarztwagen auf dem Beifahrersitz mitnehmen müssen. Nachdem er das Blut aufgewischt hatte, ging er hinaus, um den Beifahrersitz leer zu räumen und flach zu stellen. Kaum hatte er das soweit parat, hörte er drinnen Kommissar Kreuzber wieder schreien. Augenblicklich sprintete Philipp wieder ins Haus zurück und sah, wie die beiden Polizisten Kommissar Kreuzber festhielten, der die am Boden liegende Frau anschrie: „Schlampe, du hast ihn auf dem Gewissen …!“ Die Frau hatte sich nicht geregt. Kommissar Kreuzber war außer sich. Tränen liefen ihm über das Gesicht, während er weiter schrie und versuchte, seine Kollegen abzuschütteln. Philipp stellte sich vor ihn und schrie jetzt seinerseits: „Kommissar Kreuzber, reißen Sie sich zusammen!“ Augenblicklich wurde der Kommissar still und wandte sich ab. Philipp klopfte das Herz bis zum Hals – er hatte bisher noch niemanden auf diese Art zur Vernunft bringen müssen. So etwas nahm ihn mehr mit als riesige Mengen Blut oder gar Tote. Die beiden Polizisten gingen mit Kommissar Kreuzber wieder vor die Tür. Philipp betrat kurz das Badezimmer, um sich die Kleidung anzusehen. Die war keineswegs frisch gewaschen, sondern nass und schmutzig von Gras und Schlamm. Durchweichte Wanderschuhe daneben, in einer Schuhöse noch Algen.
Komisch, es war doch ein schöner, trockener Oktobertag heute gewesen. Verbandsmaterial stand am Boden. Gerne hätte sich Philipp noch länger in Ruhe umgesehen, um Informationen zu erhalten und Rückschlüsse daraus zu ziehen, aber er war hier nicht der Kommissar, sondern hatte sich nun unverzüglich mit der Frau in die Notaufnahme aufzumachen. Er trug sie zum Auto. Sie war schwer. Nicht in irgendeiner Form übergewichtig, einfach groß und schwer. Sobald Philipp sie abgelegt hatte, sah er wieder ihre Handschellen. Die Frau sah nicht aus, als wolle sie davonlaufen oder irgendwem etwas antun, und so bat er die Polizisten, ihr die Handschellen abzunehmen. Keiner war dazu bereit. Philipp wurde ungeduldig – er sollte sich eilends in die Notaufnahme aufmachen und nicht hier diskutieren. Es kostete ihn weitere wertvolle Minuten, bis die Polizisten sich bereit erklärten unter der Bedingung, dass sie hinter seinem Notfallwagen führen und im Spital vorerst einen Polizisten zur Überwachung der Frau einsetzten. Sie befahlen ihm zu warten, der Tatort wurde versiegelt – weitere Minuten gingen ins Land. Philipp hatte dadurch Zeit, die Handgelenke der Frau genauer zu betrachten. Sie waren wund und blutverkrustet – das konnte nicht von der kurzen Zeit in Handschellen kommen. Was sie wohl für Drogen genommen hatte – vielleicht war er auf der völlig falschen Fährte und es war Insulin oder … Endlich durfte er abfahren, mit den anderen drei Herren im Auto hinter ihm. Philipp war richtig sauer. Die hinter ihm meinten, die Frau hätte ihren Kollegen Petters auf dem Gewissen – obwohl der gar nicht tot war, als Philipp ihn vorhin das letzte Mal vor dem Rettungswagen überprüft hatte. Jetzt war unklar, ob nicht die gleichen Herren bald die Frau auf dem Gewissen hätten, wenn es noch lange ging, bis er endlich im Krankenhaus war. Er rief dort an. Der Rettungswagen war inzwischen eingetroffen, der Patient Petters bewusstlos, aber stabil. Sein Kollege Dr. Frontmann, der heute Nacht verantwortlich war, hatte den Patienten soeben zur gründlichen Untersuchung in die Aufnahme geschoben. Philipp gab seinem Kollegen noch die wenigen Informationen durch, die er zu dem Patienten machen konnte, und bat, in etwa 20 Minuten für ihn das andere Aufnahmezimmer parat zu halten und wenn möglich Schwester Rosemarie zu schicken. Mit ihr wollte er bei der Untersuchung über all das reden, was er gesehen und gehört hatte. Björn war für ein paar Tage zu seinen Eltern gereist, Philipp wollte ihn dort nicht stören. Aber er spürte, er brauchte jemanden zum Reden. Der Nebel war noch dicker geworden, er musste noch langsamer fahren.

Er schaute zur Patientin rüber, um sich zu vergewissern, dass sie ruhig atmete. Zu seinem Erstaunen hatte sie die Augen offen. Er sprach sie an, erhielt aber keinerlei Reaktion. Sah sie ihn an oder durch ihn hindurch? Er hielt an und sprach sie noch einmal an, noch immer keine Reaktion. Er hob die Hand und ging damit langsam auf ihr Gesicht zu – hinter ihm wurden Autotüren aufgerissen und in Sekundenschnelle standen links und rechts von seinem Auto die zwei Polizisten, die gezückten Waffen auf die Frau gerichtet. Ihre Augen waren wieder geschlossen. Philipp hatte den Zirkus so satt. Nein, es wäre nichts – alles in Ordnung, sie sollten doch wieder zurück in ihr Auto gehen.
Die Augen der Patientin blieben geschlossen. Philipp redete mit ihr; besser hätte man sagen können, er führte laute Selbstgespräche, denn er erhielt keine Reaktion, meinte aber, die Atemzüge würden ruhiger.
Endlich war die Notaufnahme erreicht und hilfreiche Hände betteten die Patientin auf die Bahre; bevor Philipp den Notarztwagen kehrte, sah er aus dem Augenwinkel, dass die Patientin versuchte, sich auf die Seite zu drehen – Rückenverletzung? Gleich würde er mehr wissen.
Als er ins Aufnahmezimmer kam, war Schwester Rosemarie schon dort, ebenso ein Polizist. Philipp bat ihn, draußen vor der Tür zu warten. Nein, er hätte von Kommissar Kreuzber Anweisung, hier drinnen zu sein, und wenn ihm, Philipp, das nicht passen würde, würde er die Schlampe da sofort mit ins Gefängnis nehmen. Philipp kochte vor Wut, Schwester Rosemarie hatte ihn selten in solcher Verfassung gesehen. Sie erkannte blitzschnell, dass es jetzt nur ihrer ruhigen Anwesenheit bedurfte, damit Philipp sich beruhigen konnte. Sie schlug vor, eine andere Schwester zu rufen und diese zur Krankenhausleitung zu schicken, um nach der Rechtmäßigkeit von Kommissar Kreuzbers Befehlen innerhalb des Krankenhauses zu fragen. Dem Polizisten holte Schwester Rosemarie einen Stuhl und platzierte ihn neben der Ausgangstür, möglichst weit weg von Philipp. Sie verpackte das Ganze geschickt: „Herr – wie war doch ihr Name?“ „Müllerson.“ „Herr Müllerson, Sie wollen doch sicher nicht die ganze Zeit stehen – es könnte länger dauern und Sie sind sicher heute schon viele Stunden auf den Beinen gewesen; setzen Sie sich, hier bei der Tür können Sie alles überblicken und sehen, wer herein- und herauskommt.“ Müllerson nahm dankbar an. Schwester Rosemarie fuhr fort: „Und wenn Sie jetzt einen guten Espresso brauchen oder sonst etwas zu trinken wünschen, so befindet sich die Cafeteria, wenn Sie hier zur Tür hinausgehen rechts am Gang ganz hinten, sie schließt in etwa fünf Minuten. In der Zeit passen wir hier auf, dafür verbürge ich mich.“ Philipp lachte leise, als Müllerson tatsächlich aus der Tür gegangen war. „Schwester Rosemarie, Sie sind klasse!“ Während er anfing, die Patientin gründlich zu untersuchen, referierte er in aller Kürze, was passiert war, und war noch nicht fertig, als Müllerson schon wieder reinkam – Kommissar Kreuzber im Gefolge. Philipp verdrehte die Augen. „Es ist zwar sehr aufmerksam von Ihnen, Kollege Müllerson zu einem Espresso zu verhelfen, aber ich bitte Sie, ihn nicht weiter von seiner wichtigen Aufgabe, nämlich der Überwachung dieses gefährlichen Subjektes, abzuhalten – gehen Sie doch bitte nächstes Mal selbst, ihm einen Kaffee zu holen, oder warten Sie, bis er abgelöst wird. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt! Ich wünsche Ihnen, Herr Dr. Manson, und Ihnen, Schwester Rosemarie, sowie mir in dieser Hinsicht eine ruhige Nacht; guten Abend!“ Philipp brachte nur ein Schnauben hervor. Dann gab Kommissar Kreuzber dem Kollegen Müllerson weiter Anweisungen und Zurechtweisungen. Philipp ballte die Fäuste, Schwester Rosemarie trat zu den beiden und bat sie, das Gespräch vor der Tür fortzusetzen, denn es falle Dr. Manson schwer, sich dabei zu konzentrieren. „Dann ist er wohl nicht im richtigen Beruf“, bemerkte Kommissar Kreuzber spitz und ging dann aber endlich. Müllerson bezog wieder seinen Posten neben der Tür.
Jetzt kam Schwester Rantijas herein. Sie war Vietnamesin; klein, flink und immer freundlich, ihr Deutsch war nicht perfekt. „Es tun mir leid, Chefarzt schwierige Operation, ich Zettel hingelegt, hoffe, er melden sich.“ Schwester Rantijas bekam nur ein Kopfnicken zur Antwort und merkte schell, dass die Luft hier ziemlich dick war. Philipp sagte: „Schwester Rantijas, ich muss mich konzentrieren – sorgen Sie dafür, dass ich und Schwester Rosemarie hier ungestört arbeiten können.“ Schwester Rantijas schaute einen Moment unschlüssig. Von dem Herrn dort in Uniform hatte Dr. Manson nichts gesagt. Das war nicht normal, dass so einer mit im Zimmer saß. Schwester Rantijas nahm sich einen weiteren Stuhl und setzte sich neben den Polizisten. Dem war das offensichtlich unbehaglich, er sagte jedoch nichts und so saßen die zwei still neben der Tür.

Der Traum

Schlagartig wurde Philipp sein Traum von vergangener Nacht bewusst. Eigentlich geschah es sehr selten bis gar nicht, dass er sich morgens so genau an den Inhalt seiner Träume erinnern konnte. Er hatte geträumt, er säße allein im Hörsaal bei seinem damaligen Lieblingsprofessor.
Professor Gauchi hatte ihn heute Nacht im Traum gebeten, die Frau zu retten – er werde heute nur zu einem einzigen Notfall gerufen werden. Rettung werde ihm nur gelingen, wenn er keinen Zwang anwende, keine Medikamente einsetze, die Frau nicht unterschätze und vor allen Dingen menschlich bliebe. Dann sagte Professor Gauchi noch, dass diese Frau ihn ohne Worte viel lehren und einen starken Einfluss auf sein Leben haben werde. Das war das, was Philipp beim Erwachen glasklar in Erinnerung gewesen war – und das, was Professor Gauchi als Allererstes gesagt hatte: jetzt käme eine ganz spezielle Prüfung für ihn, denn er sei sein bester Schüler.
Damals war er liebend gerne in die Vorlesungen bei Professor Gauchi gegangen, denn hier ging es nicht nur um Fakten, sondern Professor Gauchi verstand es, seine Studenten mit spannenden Geschichten, die das Leben schrieb, zu unterhalten und ganz nebenbei die Fakten einfließen zu lassen, sodass Philipp und seinen Kommilitonen oft erst später im Beruf Erinnerungen an die eine oder andere Geschichte kam, die dem vorliegenden Fall ähnelte. Der Kern der Erzählungen konnte oft weiterhelfen, den richtigen Schritt zu tun, die richtige Handlung auszuführen.
Philipp war seit acht Jahren leitender Notfallarzt. Prüfungen bei Professor Gauchi oder sonst jemandem brauchte er schon lange keine mehr zu machen. Außerdem war Professor Gauchi seit zwei Jahren tot. Während des Studiums war Philipp allerdings ein sehr guter Student mit exzellenten Noten bei ihm gewesen.
Er hatte auch nach dem Studium bis zum Tod des Professors regelmäßig an offenen Treffen mit anderen Absolventen teilgenommen, die unter Professor Gauchis Leitung gemeinsam schwierige Fälle diskutiert hatten. Der Professor konnte fast immer weiterhelfen, oft mit Geschichten, die er selbst erlebt oder erfunden hatte – das Letzte war Philipps Vermutung. Durch die Geschichten war das Wissen nie als Belehrung empfunden worden, sondern immer wie gutes Anschauungsmaterial, von dem man mitnehmen konnte, was man erkannte und wollte.
Zu Professor Gauchi hatte Philipp immer aufgesehen. Sein Tod vor zwei Jahren war ein wirklicher Verlust gewesen. Zum Glück war da Philipps Lebenspartner Björn, der Philipp tröstete und ihm gut zuredete, wenn Philipp über einem schwierigen Fall saß oder einen anderen Grund hatte, der ihn traurig stimmte. Philipp hatte Björn vor fünf Jahren kennengelernt und seitdem konnte man sagen, sie waren ein glückliches Paar. Björn war Pfleger auf einer anderen Station im gleichen Krankenhaus. Er hatte viel regelmäßigere Einsätze als Philipp, der manches Mal außerplanmäßig zu Notfalleinsätzen gerufen wurde.

Es war ein warmer Oktobertag, die Herbstferien hatten bereits begonnen. Viele Leute waren im Urlaub und es versprach, ein ruhiger Tag zu werden. Philipp schaute den Vormittag über Patienten von der gestrigen Aufnahme an, die über Nacht geblieben waren. Er konnte zwei von drei Patienten von der Intensivstation auf die normale Station verlegen, der dritte Fall war, soweit möglich, einigermaßen stabil. Bis zum Mittag hatte er keinen Neuzugang.

Beim Mittagessen scherzte Schwester Rosemarie mit ihm und fragte ihn so nebenbei, was er von Träumen hielte – sie hätte heute Nacht so einen lebhaften Unfug geträumt: Er, Philipp, werde von der Polizei gesucht als Mörder. Philipp schüttelte den Kopf und fragte, ob Schwester Rosemarie oft so lebhafte Träume hätte. Als sie verneinte und beschrieb, dass sich ein Traum selten so real und greifbar angefühlt habe, erzählte auch er ihr seinen außergewöhnlichen Traum.
Zu Schwester Rosemarie hatte er ein sehr gutes Verhältnis. Sie hätte vom Alter her seine Mutter sein können, sie hatte sehr viel Erfahrung und scheute sich nicht, auch mal einem Arzt mit ihrem Wissen und klugen Durchblick zu widersprechen. Schwester Rosemarie war so etwas wie ein Urgestein, sie war schon da gewesen, als Philipp hier mit der Arbeit begann, und er hatte sie vom ersten Tag an gemocht – das war gegenseitig, denn auch Schwester Rosemarie mochte Philipp vom ersten Moment an. Sie schätzte es sehr, dass er ihren Rat achtete, sie nie von oben herab behandelt hatte und manches Mal mit ihr in leidenschaftlich geführte Diskussionen geriet, wenn beide versuchten, ihrem Gegenüber den eigenen Standpunkt zu erklären. Hatten sie gemeinsam Dienst, verlief die Arbeit meist reibungslos. Andere Schwestern waren in der Regel viel jünger, blieben nicht lange und so manche versuchte, Philipp schöne Augen zu machen. Schwester Rosemarie wusste von Philipp und Björn und hatte so manche aufdringliche Schwester mit passenden Worten bedacht, sodass sie Philipp etwas Luft verschaffen konnte in dieser Hinsicht. Nur die ganz Hartnäckigen musste er selbst abwehren. Wenn sich eine der jüngeren Schwestern über Schwester Rosemaries Regiment beklagte, so wusste Philipp sie in die Schranken zu weisen.
So saßen Philipp und Schwester Rosemarie oft beieinander am Mittagstisch, sprachen über Patienten, jeder von seiner Warte aus, und hörten zu. Schwester Rosemarie erfuhr viel von Patienten, was ein Arzt nur selten zu hören bekam, steuerte dazu auch noch eine gute Portion Menschenkenntnis bei und lieferte Philipp damit oft wichtige Details. Philipp seinerseits hatte Ehrgeiz und probierte bei den Patienten, wo er nicht weiterkam, gerne auch mal etwas Neues oder Ungewöhnliches aus. Das, was er zu tun gedachte, besprach er dann gerne mit Schwester Rosemarie, die geduldig zuhörte und ihn meist unterstützte – aber ihm auch schon manches Mal gesagt hatte, wenn ihr etwas zu abstrus vorkam. Philipp hörte gerne auf sie und war damit bisher recht gut gefahren.

Heute und die kommende Nacht hatte er mit Schwester Rosemarie Dienst, Notfall nur bis 18.00 Uhr, danach hoffentlich einen ruhigen Nachtdienst. Dann fünf Tage Pikett für den Fall, ein anderer Arzt fiele aus oder sei überlastet. Auch Schwester Rosemarie hatte drei Tage Pikett, dann vier Tage Dienst.
Für den Nachmittag wollte Philipp Erkundungen über die anderen Patienten einziehen, die er im Laufe der letzten Woche verlegt hatte, entsprechende Berichte waren zu schreiben – alles, solange kein Notfall einging. So sollte es auch bleiben. Bis 17.30 Uhr hatte er die Schreibarbeiten bewältigt und nun freute er sich auf eine ruhige Nacht, dann Piketttage – viel Zeit, um sie mit Björn zu verbringen. Weit konnte er mit Björn nicht fort, denn er musste, falls ein Anruf ihn erreichte, innert 30 Minuten hier vor Ort sein, aber auf der Terrasse die letzten Herbsttage genießen, im Haus werken oder um die Ecke im kleinen Lädchen einkaufen oder kuschelige Stunden mit Björn verbringen … Das Klingeln des Notfalltelefons riss ihn aus seinen Gedanken – es war jetzt 17:45 Uhr. Hätte das nicht noch eine Viertelstunde oder länger warten können, dann hätte er den Hauptdienst abgegeben. Vielleicht war es ja nur eine Kleinigkeit.
Er organisierte alles Nötige und saß fünf Minuten später im Notarztwagen nach Lüdingen. Es würde etwa eine halbe Stunde dauern, bis er am Einsatzort wäre. Der Rettungswagen würde aus Kaiserstein kommen, wohin er vorher mit einer Patientenverlegung unterwegs war. Die beiden anderen Rettungswagen waren weiter fort mit Patientenverlegungen. Den Helikopter hatte er nicht anfordern können, denn inzwischen war dicker Herbstnebel aufgezogen, der eine Landung unmöglich gemacht hätte.
Normalerweise hätte er 20 Minuten für die Strecke gebraucht. 10 Minuten war er bereits unterwegs, konnte aber wegen des dichten Nebels nicht so schnell fahren, wie er hätte sollen. Ihm fielen wieder Geschichten von Prof. Gauchi ein, in denen Retter ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt hatten, statt besonnen zu handeln, und wo es später dann doppelten Rettungsaufwandes bedurft hatte. Also fuhr Philipp so schnell, wie es aus seiner Sicht der Nebel erlaubte. Im Geiste ging er noch einmal den Anruf durch: ein bewusstloser Mann, der vielleicht Kopfverletzungen oder innere Verletzungen hatte. Er war in seiner Wohnung von Arbeitskollegen gefunden worden. Der jetzt Bewusstlose hatte selber ungefähr eine halbe Stunde vorher die Kollegen gebeten zu kommen. Philipp hatte am Telefon Anweisungen gegeben, den Bewusstlosen in die stabile Seitenlage zu bringen, und versprochen, so schnell als möglich zu kommen. Zwei Rehe, die aus dem Nebel auftauchten und über die Straße liefen, rissen ihn aus seinen Gedanken. Er war froh, dass er mit dem Notarztwagen unterwegs war, der immer top gewartet war und gerade vor zwei Wochen neue Reifen bekommen hatte, sodass das Bremsmanöver für alle glimpflich ausging. Als er die Fahrt fortsetzte, musste er lächeln, als er an das Mittagsgespräch mit Schwester Rosemarie zurückdachte – Träume waren eben doch Schäume. Er hatte offensichtlich heute wirklich nur einen einzigen Notfall, aber es ging ja um einen Mann. Der Arbeitskollege würde sich wohl kaum über das Geschlecht seines Mitarbeiters getäuscht haben – oder vielleicht doch? Er musste an sich und Björn denken. Sie waren eindeutig Männer und hatten keine Allüren, sich als Frau zu verkleiden. Aber sie konnten miteinander wunderbar ihre weichen und sensiblen Züge leben, für die sie von anderen Männern immer verlacht worden waren und oft auch ausgeschlossen wurden.
Das GPS leitete Philipp sicher im Nebel zum Einsatzort, fast gleichzeitig traf der Rettungswagen ein. Die Polizei war, wie Philipp am Auto vor dem Gartenzaun erkannte, bereits eingetroffen. Was er zunächst mitzunehmen hatte, wusste er im Schlaf, die Tür wurde bereits offen gehalten. Der Bewusstlose hatte einen flachen Puls und Atem, äußerlich waren keine Blutspuren, Hämatome oder sonstige Verletzungen zu erkennen. Einer der Polizisten trat zu ihm, stellte sich als Kommissar Kreuzber vor und gab sich als Anrufer zu erkennen. Philipp fragte den Kommissar nach Einzelheiten des Geschehens, um dadurch auf mögliche innere Verletzungen schließen zu können. Der Kommissar konnte oder wollte jedoch dazu keine Angaben machen. Er fragte seinerseits Philipp nach den zu erwartenden Aussichten für seinen Kollegen, doch diesmal war es Philipp, der keine Angaben machen konnte. Neben all den einstudierten Abläufen, Handgriffen und Messungen, die Philipp zu machen hatte, bemerkte Philipp große Trauer und Besorgnis in dem Gesicht seines Gegenübers, die plötzlich in Hass umzuschlagen schienen. Schließlich gab Philipp die Anweisung, den Bewusstlosen auf die Bahre zu heben und weiter im Rettungswagen zu versorgen. Er überlegte, wie es ihm wohl gehen würde, wenn Björn plötzlich so bewusstlos daläge. Er hatte für den Moment alles Nötige getan, den Rest wussten die Rettungssanitäter mit sicheren Handgriffen zu erledigen. Er räumte gerade seine Sachen wieder zusammen, als seine Aufmerksamkeit von den Polizisten angezogen wurde. Sie hatten zu dritt eine Frau umringt, die mit dem Rücken zur Wand stand. Kommissar Kreuzber schrie sie an und ohrfeigte sie links und rechts, die Frau sackte zusammen – Kommissar Kreuzber versuchte, sie mit Fußtritten wieder zum Aufstehen zu bewegen. Jetzt sprang Philipp dazwischen und stellte eine scharfe Frage: „Meinen Sie nicht, Sie sind in Ihrem Beruf etwas zu weit gegangen?“ Das schien Kommissar Kreuzber einen Moment zur Räson zu bringen, er entschuldigte sich kurz bei den Umstehenden und ging hinaus, die beiden anderen Polizisten folgten ihm – hatte Philipp Tränen in seinen Augen gesehen?

Jetzt hatte Philipp Zeit, die Frau genauer zu betrachten und kurz zu untersuchen. Elend sah sie aus, ihr Haar leicht nass, jetzt war auch sie bewusstlos. Die rechte Hand der Frau war frisch verbunden. Sie trug zu kurze Männerkleidung, die mochte dem Bewusstlosen von der Größe her eher passen. Die Frau war ungeschminkt, keine lackierten Fingernägel, langes, braunes Haar, auf den ersten Blick auch nicht gefärbt, kein Schmuck, kein Ehering. Die Haut recht kühl. Philipp sah sich kurz um. Auf dem Couchtisch eine Spritze – Drogen? Auf der Couch eine unordentliche Decke – hier hatte jemand vor Kurzem gelegen.
Ein Polizist kam wieder herein. Er entschuldigte sich nochmals für Kommissar Kreuzber, die Gefühle seien halt mit ihm durchgegangen, so würden sie ihren Vorgesetzten nicht kennen. Philipp fragte, wer die Frau sei, aber das konnte ihm der Polizist nicht beantworten, gesagt hätte sie nichts, sie hätten keinerlei Papiere bei ihr gefunden – nur einen Haufen nasser Kleider im Badezimmer, die nicht ihrem Kollegen Petters gehörten. Petters hätte nie etwas von einer Frau erzählt, dass er gemeinsam mit irgendwem Drogen einnehme, sei undenkbar. Die Frau erbrach Blut. Philipp überlegte fieberhaft, was jetzt das Nächste sei – die Frau konnte er unmöglich bei Kommissar Kreuzber lassen. Bis Philipp einen neuen Rettungswagen organisiert hätte, würde bei dem Nebel wahrscheinlich für Hin- und Rückweg zum Krankenhaus eine Stunde vergehen, an den Helikopter brauchte er nicht zu denken. Er würde sie im Notarztwagen auf dem Beifahrersitz mitnehmen müssen. Nachdem er das Blut aufgewischt hatte, ging er hinaus, um den Beifahrersitz leer zu räumen und flach zu stellen. Kaum hatte er das soweit parat, hörte er drinnen Kommissar Kreuzber wieder schreien. Augenblicklich sprintete Philipp wieder ins Haus zurück und sah, wie die beiden Polizisten Kommissar Kreuzber festhielten, der die am Boden liegende Frau anschrie: „Schlampe, du hast ihn auf dem Gewissen …!“ Die Frau hatte sich nicht geregt. Kommissar Kreuzber war außer sich. Tränen liefen ihm über das Gesicht, während er weiter schrie und versuchte, seine Kollegen abzuschütteln. Philipp stellte sich vor ihn und schrie jetzt seinerseits: „Kommissar Kreuzber, reißen Sie sich zusammen!“ Augenblicklich wurde der Kommissar still und wandte sich ab. Philipp klopfte das Herz bis zum Hals – er hatte bisher noch niemanden auf diese Art zur Vernunft bringen müssen. So etwas nahm ihn mehr mit als riesige Mengen Blut oder gar Tote. Die beiden Polizisten gingen mit Kommissar Kreuzber wieder vor die Tür. Philipp betrat kurz das Badezimmer, um sich die Kleidung anzusehen. Die war keineswegs frisch gewaschen, sondern nass und schmutzig von Gras und Schlamm. Durchweichte Wanderschuhe daneben, in einer Schuhöse noch Algen.
Komisch, es war doch ein schöner, trockener Oktobertag heute gewesen. Verbandsmaterial stand am Boden. Gerne hätte sich Philipp noch länger in Ruhe umgesehen, um Informationen zu erhalten und Rückschlüsse daraus zu ziehen, aber er war hier nicht der Kommissar, sondern hatte sich nun unverzüglich mit der Frau in die Notaufnahme aufzumachen. Er trug sie zum Auto. Sie war schwer. Nicht in irgendeiner Form übergewichtig, einfach groß und schwer. Sobald Philipp sie abgelegt hatte, sah er wieder ihre Handschellen. Die Frau sah nicht aus, als wolle sie davonlaufen oder irgendwem etwas antun, und so bat er die Polizisten, ihr die Handschellen abzunehmen. Keiner war dazu bereit. Philipp wurde ungeduldig – er sollte sich eilends in die Notaufnahme aufmachen und nicht hier diskutieren. Es kostete ihn weitere wertvolle Minuten, bis die Polizisten sich bereit erklärten unter der Bedingung, dass sie hinter seinem Notfallwagen führen und im Spital vorerst einen Polizisten zur Überwachung der Frau einsetzten. Sie befahlen ihm zu warten, der Tatort wurde versiegelt – weitere Minuten gingen ins Land. Philipp hatte dadurch Zeit, die Handgelenke der Frau genauer zu betrachten. Sie waren wund und blutverkrustet – das konnte nicht von der kurzen Zeit in Handschellen kommen. Was sie wohl für Drogen genommen hatte – vielleicht war er auf der völlig falschen Fährte und es war Insulin oder … Endlich durfte er abfahren, mit den anderen drei Herren im Auto hinter ihm. Philipp war richtig sauer. Die hinter ihm meinten, die Frau hätte ihren Kollegen Petters auf dem Gewissen – obwohl der gar nicht tot war, als Philipp ihn vorhin das letzte Mal vor dem Rettungswagen überprüft hatte. Jetzt war unklar, ob nicht die gleichen Herren bald die Frau auf dem Gewissen hätten, wenn es noch lange ging, bis er endlich im Krankenhaus war. Er rief dort an. Der Rettungswagen war inzwischen eingetroffen, der Patient Petters bewusstlos, aber stabil. Sein Kollege Dr. Frontmann, der heute Nacht verantwortlich war, hatte den Patienten soeben zur gründlichen Untersuchung in die Aufnahme geschoben. Philipp gab seinem Kollegen noch die wenigen Informationen durch, die er zu dem Patienten machen konnte, und bat, in etwa 20 Minuten für ihn das andere Aufnahmezimmer parat zu halten und wenn möglich Schwester Rosemarie zu schicken. Mit ihr wollte er bei der Untersuchung über all das reden, was er gesehen und gehört hatte. Björn war für ein paar Tage zu seinen Eltern gereist, Philipp wollte ihn dort nicht stören. Aber er spürte, er brauchte jemanden zum Reden. Der Nebel war noch dicker geworden, er musste noch langsamer fahren.

Er schaute zur Patientin rüber, um sich zu vergewissern, dass sie ruhig atmete. Zu seinem Erstaunen hatte sie die Augen offen. Er sprach sie an, erhielt aber keinerlei Reaktion. Sah sie ihn an oder durch ihn hindurch? Er hielt an und sprach sie noch einmal an, noch immer keine Reaktion. Er hob die Hand und ging damit langsam auf ihr Gesicht zu – hinter ihm wurden Autotüren aufgerissen und in Sekundenschnelle standen links und rechts von seinem Auto die zwei Polizisten, die gezückten Waffen auf die Frau gerichtet. Ihre Augen waren wieder geschlossen. Philipp hatte den Zirkus so satt. Nein, es wäre nichts – alles in Ordnung, sie sollten doch wieder zurück in ihr Auto gehen.
Die Augen der Patientin blieben geschlossen. Philipp redete mit ihr; besser hätte man sagen können, er führte laute Selbstgespräche, denn er erhielt keine Reaktion, meinte aber, die Atemzüge würden ruhiger.
Endlich war die Notaufnahme erreicht und hilfreiche Hände betteten die Patientin auf die Bahre; bevor Philipp den Notarztwagen kehrte, sah er aus dem Augenwinkel, dass die Patientin versuchte, sich auf die Seite zu drehen – Rückenverletzung? Gleich würde er mehr wissen.
Als er ins Aufnahmezimmer kam, war Schwester Rosemarie schon dort, ebenso ein Polizist. Philipp bat ihn, draußen vor der Tür zu warten. Nein, er hätte von Kommissar Kreuzber Anweisung, hier drinnen zu sein, und wenn ihm, Philipp, das nicht passen würde, würde er die Schlampe da sofort mit ins Gefängnis nehmen. Philipp kochte vor Wut, Schwester Rosemarie hatte ihn selten in solcher Verfassung gesehen. Sie erkannte blitzschnell, dass es jetzt nur ihrer ruhigen Anwesenheit bedurfte, damit Philipp sich beruhigen konnte. Sie schlug vor, eine andere Schwester zu rufen und diese zur Krankenhausleitung zu schicken, um nach der Rechtmäßigkeit von Kommissar Kreuzbers Befehlen innerhalb des Krankenhauses zu fragen. Dem Polizisten holte Schwester Rosemarie einen Stuhl und platzierte ihn neben der Ausgangstür, möglichst weit weg von Philipp. Sie verpackte das Ganze geschickt: „Herr – wie war doch ihr Name?“ „Müllerson.“ „Herr Müllerson, Sie wollen doch sicher nicht die ganze Zeit stehen – es könnte länger dauern und Sie sind sicher heute schon viele Stunden auf den Beinen gewesen; setzen Sie sich, hier bei der Tür können Sie alles überblicken und sehen, wer herein- und herauskommt.“ Müllerson nahm dankbar an. Schwester Rosemarie fuhr fort: „Und wenn Sie jetzt einen guten Espresso brauchen oder sonst etwas zu trinken wünschen, so befindet sich die Cafeteria, wenn Sie hier zur Tür hinausgehen rechts am Gang ganz hinten, sie schließt in etwa fünf Minuten. In der Zeit passen wir hier auf, dafür verbürge ich mich.“ Philipp lachte leise, als Müllerson tatsächlich aus der Tür gegangen war. „Schwester Rosemarie, Sie sind klasse!“ Während er anfing, die Patientin gründlich zu untersuchen, referierte er in aller Kürze, was passiert war, und war noch nicht fertig, als Müllerson schon wieder reinkam – Kommissar Kreuzber im Gefolge. Philipp verdrehte die Augen. „Es ist zwar sehr aufmerksam von Ihnen, Kollege Müllerson zu einem Espresso zu verhelfen, aber ich bitte Sie, ihn nicht weiter von seiner wichtigen Aufgabe, nämlich der Überwachung dieses gefährlichen Subjektes, abzuhalten – gehen Sie doch bitte nächstes Mal selbst, ihm einen Kaffee zu holen, oder warten Sie, bis er abgelöst wird. Ich hoffe, ich habe mich klar genug ausgedrückt! Ich wünsche Ihnen, Herr Dr. Manson, und Ihnen, Schwester Rosemarie, sowie mir in dieser Hinsicht eine ruhige Nacht; guten Abend!“ Philipp brachte nur ein Schnauben hervor. Dann gab Kommissar Kreuzber dem Kollegen Müllerson weiter Anweisungen und Zurechtweisungen. Philipp ballte die Fäuste, Schwester Rosemarie trat zu den beiden und bat sie, das Gespräch vor der Tür fortzusetzen, denn es falle Dr. Manson schwer, sich dabei zu konzentrieren. „Dann ist er wohl nicht im richtigen Beruf“, bemerkte Kommissar Kreuzber spitz und ging dann aber endlich. Müllerson bezog wieder seinen Posten neben der Tür.
Jetzt kam Schwester Rantijas herein. Sie war Vietnamesin; klein, flink und immer freundlich, ihr Deutsch war nicht perfekt. „Es tun mir leid, Chefarzt schwierige Operation, ich Zettel hingelegt, hoffe, er melden sich.“ Schwester Rantijas bekam nur ein Kopfnicken zur Antwort und merkte schell, dass die Luft hier ziemlich dick war. Philipp sagte: „Schwester Rantijas, ich muss mich konzentrieren – sorgen Sie dafür, dass ich und Schwester Rosemarie hier ungestört arbeiten können.“ Schwester Rantijas schaute einen Moment unschlüssig. Von dem Herrn dort in Uniform hatte Dr. Manson nichts gesagt. Das war nicht normal, dass so einer mit im Zimmer saß. Schwester Rantijas nahm sich einen weiteren Stuhl und setzte sich neben den Polizisten. Dem war das offensichtlich unbehaglich, er sagte jedoch nichts und so saßen die zwei still neben der Tür.

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