Bittersüßer Nachtschatten – Notturno

Bittersüßer Nachtschatten – Notturno

Zombie A. Hamadryad


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 146
ISBN: 978-3-99107-503-5
Erscheinungsdatum: 18.03.2021
Serena, die ihr Leben in schläfriger Zufriedenheit verbringt, erfährt durch einen geheimnisvollen Unbekannten die Untiefen des Zwielichts. Sie weiß nicht - ist dies ihr Untergang oder ihre Rettung?
PROLOG

Die Welt war acht Quadratmeter groß. Sie bestand aus einem Boden aus roh behauenen, alten Holzbalken, auf denen zu gehen und zu sitzen schmerzhaft war, aus denen sich lange Splitter lösten und die Haut durchbohrten, die nur langsam und qualvoll vom Körper ausgetrieben werden konnten. Die Welt war auch die grob verputzten Steinwände, die das Quadrat des Bodens an drei Seiten umschlossen. Sie waren kalt und feucht, der dicke Verputz bröckelte, war von zahllosen Rissen durchzogen, graue Steinquader zeigten sich zwischen vergilbten Wasserflecken. Die vierte Wand war wie der Boden aus dicken, unregelmäßigen Holzbalken, ebenso die ferne Decke des Raumes. Die Holzwand war von großer Bedeutung, denn einmal am Tag wurde eine Schüssel mit geschmacklosem Eintopf durch eine kleine Luke geschoben, wurde der Eimer gewechselt. Die Welt war Eintönigkeit, war Wände, Boden, Eimer, Höhepunkt: Essen. Die Welt war Stille, denn selten drang ein Geräusch herein. Einer bewohnte diese Welt. Er kauerte in der Ecke, er ging im Kreis, er kletterte an der Holzwand, er verschlang den Eintopf mit der Gier eines halbverhungerten Tieres, er benützte den Eimer, er suchte einen Weg aus der klaustrophob kleinen Welt. Er schaffte es bereits, die Holzwand zur Hälfte zu erklimmen, dort kam er nicht weiter, hielt Ausschau nach möglichen Routen, doch fehlte ihm die Kraft, den Anstieg zu wagen. Auch der stumpfsinnige Marathon im Kreis war selten. Zumeist saß er still in einer Ecke, die feuchte, kalte Steinwand drückte gegen eine seiner Schultern, die unebene Holzwand gegen die andere. Aus diesem Winkel starrte er gegen die Wand, die der aus Holz gegenüberlag, starrte hoch hinauf. Dort, knapp unter der Decke, befand sich ein Fenster. Es war vernagelt, doch durch die gleißend hellen Ritzen drang frische Luft in seine dunkle Welt. Die Intensität der einfallenden Lichtstrahlen zwang ihn oft, die Augen zu schließen, doch war es dieses Fenster, das ihn am Leben erhielt. Die Monotonie der Existenz, der Zyklus von Essen und Eimerentleerung, von schmerzend hellem und erträglichem Licht, von periodisch wiederkehrenden, dumpfen Kopfschmerzen, mit denen er aus zeitlos schwerem Schlaf erwachte, und die ein Gefühl der Sauberkeit begleitete – diese Wiederholung hätte ihn ohne das Fenster in gedankenlose Teilnahmslosigkeit gestürzt. So hatte er das Interesse an seiner Umwelt nicht verloren, hielt die lauernde Gleichgültigkeit durch Gedankenspielereien in Schach. Rätsel, die zu lösen lohnend wären, gab es genug. Zum Beispiel jene unnatürlichen Schlafphasen: Sein Haar war danach wie von selbst gekürzt, seine Bartstoppeln verschwunden, die Nägel geschnitten, er war gewaschen und neu eingekleidet. Er vermutete, dass ihn seine unbekannten Wärter mit einem Schlafmittel im geschmacklosen Brei betäubten, um ihn zu reinigen, er verstand nicht, warum sie es taten. Er wusste auch nicht, weshalb sie ihn hier hielten wie ein Tier. Vielleicht wollten sie wissen, wie lange es bis zu seinem Tod dauerte, wann er dem ewig Gleichen der Welt erlag. Genau das geschah nicht, konnte nicht geschehen. Die Eintönigkeit der düsteren Welt hatte seine wachen Sinne weiter geschärft. Seine Augen verfolgten jede Veränderung mit größter Aufmerksamkeit, Spinnen, Asseln und Fliegen, die sich hereinverirrten, wurden zu Sensationen und gaben Beobachtungsstoff für Tage. Einmal hatte sich ein Schmetterling in den Raum gewagt, seine bunten Schwingen waren einem Weltwunder gleichgekommen. Wäre er auf diese Lebewesen angewiesen gewesen, wäre er wahrscheinlich dem Wahnsinn erlegen, der in den immer gleichen Sprüngen und Löchern des Verputzes lauerte. Das Fenster bot aber noch etwas: Gerüche trieben auf dem Lufthauch einher, manchmal sogar Geräusche. Sie riefen Erinnerungen in ihm wach, Erinnerungen, so alt, dass sie vage und schemenhaft waren, sich auf Gefühle und einzelne Bilder beschränkten. Waren die Wellen fremder Luft eisig und gesättigt mit dem feinen Duft nach Schnee, Rauch und feuchtem Leder, nach Benzin und gefrorener Erde, so erinnerte er sich an wirbelnde, weiße Flocken, an weiche, helle Schneedecken auf flachen Hügeln und an das schwarz-weiße Kontrastspiel des Winterwaldes. Geräusche hallten dann durch seinen Kopf, fernes Heulen, das flüsternde Stapfen von Pferdehufen in tiefem Schnee, das Knarren von Leder, das helle Klingen von Schellen an Geschirren und Schlitten. Er sah eingesunkene Dächer, Rauchfänge, aus denen dunkle, herb riechende Schwaden aufstiegen, sah grauen Schnee auf Straßen, vom kalten Schein elektrischer Laternen beleuchtet, hörte Autos im Schneechaos schleudern, hupen … All diese Fülle von Bildern, alt, neu, jedenfalls vergangen und unwirklich, unerreichbar, durch einen kaum spürbaren Lufthauch hervorgerufen. War der Luftzug lau, trug er den Duft nach Staub, Blüten, frisch geschnittenem Gras und Hitze mit sich, so suchten ihn Visionen heim von hitzeflimmerndem Asphalt, Vorgärten im Schatten großer Bäume, blühenden Büschen, die unter ihrer Pracht beinahe brachen, von Lagerfeuern in sternenklaren Nächten, von Leben und Tod, von Tragödie und Komödie, die im Leben so nahe beisammen lagen, um ahnungslose Wesen zu überfallen, wie sie ihn überfallen hatten, vor Menschengedenken, vor einer Ewigkeit.
Sie hatten ihm aufgelauert, hatten ihn gefangen, wenige Tage nach dem Ende seiner Ruhephase. Er wusste nicht, woher sie von seinem Ruheort gewusst hatten, wie sie ihn gefunden und überwältigt hatten. Es war zu lange her. Seit Generationen hielten sie ihn gefangen, seit Jahrzehnten hatte sich nichts in seiner Welt geändert. Die Welt draußen war anders, das sagten ihm seine Nase, seine Ohren, seine Augen, die bis vor einem oder zwei Jahren mit jenen seiner Schwester gesehen hatten. Doch seine Schwester war gestorben, getötet von einem derer, die ihn gefangen hielten, und seitdem war er blind für die Ereignisse und Eigenheiten der neuen Welt jenseits der seinen. Wie Träume erschienen die Erinnerungen an Weite und Freiheit, an Leben und Menschen. Die Zeit war für ihn stillgestanden, seine Wachperiode hatte noch nicht begonnen, sie hatten ihn im Zustand zwischen Schlaf und Leben gefangen – ein weiterer Grund für seinen erfolgreichen Widerstand gegen den Wahnsinn. Er würde erst später vollständig erwachen, wenn er aus seinem Gefängnis entkommen war. In der Zeit bis dahin konnte er nur warten, auch wenn das immer schwerer wurde, unmöglicher. Er musste bald wieder richtig leben, um nicht die nächste Ruhezeit zu versäumen, und das wollte er nicht. Er war sehr stolz darauf, noch nie eine Schlafperiode versäumt zu haben. Er hatte auch noch nie einen Menschen zu seinesgleichen gewandelt, doch das nahm er sich nicht übel. Sein Leben hing nicht davon ab. Und jetzt diese Schmach, diese Schande, gefangen zu sein, obwohl diese Art des Gefängnisses schon lange nicht mehr üblich war und nicht länger den herrschenden Gesetzen entsprach. Sehnsüchtig starrte er auf die Bretter vor dem Fenster. Sie sahen morsch aus, die Risse sprachen Bände. Wenn er dorthin vordrang, genügte wahrscheinlich eine Berührung, um seiner Gefangenschaft ein Ende zu bereiten. Doch er kam ihnen nicht nahe, scheiterte an den hohen Wänden, seiner Apathie, der unzureichenden Nahrung. So saß er in der Ecke und starrte auf den Lichtschein, versuchte seine Erinnerung wachzuhalten. Er kannte die Gesichter derer nicht, die aus der Geschichte seiner Existenz so unvorhergesehen eine Tragödie gemacht hatten, war zu benommen gewesen. Ihre Köpfe waren verhüllt gewesen, ihre Gestalten in unförmigen Gewändern verborgen. Sie waren unkenntlich gewesen. Es waren Menschen gewesen, er hatte sie gerochen, ihre Angst, ihre Wut, ihre Entschlossenheit, ihr wild pulsierendes Blut in den Adern. Er hatte getobt, war aber nicht an seine Gegner herangekommen. Ihre Kleidung war nicht nur optischer Schutz gewesen.
Ruhig kauerte er wie so oft in der Ecke, den Blick auf die Spalten und Ritzen des Fensters geheftet, die Nasenflügel bebend, jeden Lufthauch sog er auf. Es war eine schwüle Sommernacht, voller Leben und Schönheit, schwer vom Duft letzter Frühlingsblüten. Sie war so fern wie eine fremde Galaxie, obwohl wenige Meter und ein paar morsche Planken ihn von ihr trennten. Ein vergessen geglaubter Duft war im Wind. Er stand auf, streckte sein Gesicht dem Fenster entgegen, die Nasenflügel bebten stärker. Der Duft nach Mensch lag in der Luft, kaum wahrnehmbar, so schwach, und doch so unverwechselbar. Dieser Geruch, den man vergessen konnte, wenn man ihn lange genug nicht roch, und ihn hatten seit seiner Ankunft in seinem Gefängnis nur Menschenaffen oder Affenartige versorgt. Die Familie, die ihn seit Generationen gefangen hielt, musste sehr vermögend und einflussreich sein, denn Affen zu halten war seit geraumer Zeit verboten, das hatte er von seiner Schwester erfahren. Die Verbindung zu ihr würde ihm das Überleben sichern, wenn er in ansehbarer Zeit entkam. Denn sie war schon einige Jahre tot, gemordet wegen ihres Andersseins. Und so würde sein Wissen um die Welt draußen bald veraltet sein, wenn sie ihm auch wie ein Gebilde seiner Fantasie vorkam. Die einzige Realität, die er kannte, widersprach den Bildern, Gerüchen, Informationen, die ihm seine Schwester bis zu ihrem Tod gesandt hatte, die ihn überfallen hatten, ohne Vorwarnung, wie Träume. Doch jetzt kam für einige Augenblicke der Geruch nach Mensch mit dem Wind, und er sog ihn auf, erklomm die Holzwand, um dem Fenster näher zu sein. Mit aller Kraft klammerte er sich an die rauen Balken und witterte, bis der Duft verschwand und seine Kraft nachließ. Ungelenk ließ er sich auf den Boden zurückfallen und kauerte sich in die Ecke. Da drang ein neuer Geruch zu ihm vor, stark, beißend. Er nahm ihn erst jetzt wahr, weil er sich davor zu sehr auf den Menschenduft konzentriert hatte. Es war der Geruch nach Feuer. Er erstarrte und schloss die Augen, im Bemühen gefangen zu hören, zu fühlen, zu riechen. Es roch nicht nur stechend nach Rauch und Flammen, er hörte ihr fernes Knistern und Prasseln, spürte die Luft vibrieren. Ein erster heißer Hauch streifte ihn. Panik griff nach ihm. Feuer, das alles vernichtende, reinigende Feuer, konnte sein Leben beenden. Er stopfte die Socken in die Schuhe, band die Schuhbänder zusammen und hängte sie sich um den Hals. Draußen würde er sie brauchen, wenn er dieses magische „Draußen“ je erreichte, wenn es das „Draußen“ noch gab. Er begann, die Holzwand hinaufzuklettern. Er bewegte sich diesmal langsamer als sonst, vorsichtiger, wählte eine nie zuvor gewagte Route. Er war weitergekommen als bei vergangenen Versuchen, als nicht allzu fern ein lautes Krachen erschallte, gefolgt von brausendem Tosen und einem Schwall heißer Luft. Rötlich flackerndes Licht durchleuchtete die Ritzen der Holzwand, Hitze und Rauch durchzogen sie. Er erstarrte wie gebannt, kletterte weiter. Immer höher kam er, musterte abwechselnd die Wand über sich und die Decke. Heller wurde der Schein in den Ritzen, dicker der Rauch, der in seine Welt eindrang. Die Balken unter seinen Händen wurden heiß. Der glühende Atem des Todes streifte ihn. Er kämpfte gegen die aufsteigende Panik, ehe er überlegt und bedacht weiterklettern konnte. Seine Hände und Arme zitterten, Schweiß lief ihm über das Gesicht und in die Augen. Als er bei der Decke ankam, begann in einer unteren Ecke die Wand zu brennen. Er griff nach Spalten in der Decke. Jetzt musste sich seine Beurteilung der Ritzen als richtig erweisen, sonst war ihm der Tod sicher. Und die Kraft durfte seine Hände und Arme nicht verlassen. Griff um Griff bewegte er sich auf das Fenster zu, sein Körper hing frei in der Luft voller Rauch und Hitze und Flammen, die Hände klammerten sich an den Balken der Decke fest. Er fühlte sich so schwer, als hätte er Blei geladen. Der Rauch brannte ihm in den Augen, raubte ihm die Sicht. Verzweifelt verkrampfte er die Finger in den Ritzen, doch spürte er, wie er den Halt verlor. Er blinzelte Tränen aus den Augen und kletterte weiter. Die Hitze war beinahe unerträglich. Die Balken schienen unter seinen Händen zu schwelen. Da sah er das Fenster vor sich, so nahe wie noch nie zuvor. Er begann, seine Beine und den Körper vor- und zurückzuschwingen. Als die Füße schon fast die Mauer berührten, sammelte er ein letztes Mal alle Kraft und stieß mit angezogenen Beinen vor. Er verlor den Halt, seine Hände glitten von den schwelenden Balken. Er sah eine kleine Flamme direkt vor seinem Gesicht, sein Körper schwang wie ein Pendel nach unten, er fühlte seinen beginnenden Fall. Seine Füße schlugen gegen etwas Hartes. Schmerz durchfuhr ihn, er erwartete, in das tosende Inferno zurückzufallen. Doch ein kühler Lufthauch fuhr seinen schweißgebadeten Körper entlang, er fiel ein Stück, blieb an etwas hängen. Seine Füße und Beine waren im Kühlen, in taufeuchtem Gras, sein Oberkörper hing in dem glühenden, rauchigen Feuermeer. Er tastete nach der Wand, schob sich an ihr aus seiner Welt, die in Flammen aufgegangen war. Erschöpft taumelte er einige Schritte vom Fenster seines Gefängnisses fort, ließ sich in das hohe Gras fallen. Die Nacht, die ihm vor dem Feuer schwül und drückend vorgekommen war, schien ihm frisch nach der sengenden Hitze. Es roch nach Wald, nach Gras und Blüten. Das Tosen des Infernos war in beruhigender Ferne. Die Luft war weich und rein. Seine Arme und Hände schmerzten, seine Augen waren fast blind vom Glanz der Flammen. Er setzte sich auf, zog Socken und Schuhe an. Er musste fort von hier. Weit fort. So weit fort wie möglich.
Die Brandwunden an den Händen waren noch nicht verheilt, es staken Splitter vom alten Holz in seinen Füßen und ließen jeden Schritt zur Qual werden, doch der Hunger war übermächtig. Er hatte das Versteck gefunden, in dem seine Schwester die Papiere gelagert hatte, die für sein Leben in der Welt des ‚Draußen‘ nötig waren. Er hatte sich Kleidung und Geld gestohlen, ein Hotelzimmer in der Stadt genommen, in der der Verwalter des Testaments seiner Schwester sein Büro hatte, und sein Erbe eingefordert. Er weilte wieder unter den Lebenden. Sein Erwachen war vollendet an dem Tag, an dem eine neue Ruhephase hätte beginnen sollen. Zum ersten Mal sah er sich solchermaßen in die Welt gebannt, mit wunden Händen und Füßen und einem nagenden, alles vereinnahmenden Hunger in sich. Und dieser Hunger musste gestillt werden.



TEIL 1
ZWIELICHT

Die Sonne schien schräg durch die Fenster auf die Reihen der Regale, auf denen sich Bücher drängten. Der große Raum war still bis auf das Murmeln der Besucher, die vor den ungezählten Bücherrücken standen und beratschlagten. Die Türe schwang auf, so weit, dass sie gegen einen nahen Aufsteller schlug, auf dem die Bestseller des Monats präsentiert wurden. Die kleine, rundliche Bibliothekarin tauchte aus den sonnendurchfluteten Bücherschluchten auf, ihre Augen eulenhaft hinter dicken Brillengläsern vergrößert. Die Urheberin des Tumults war ein Mädchen. Sie war klein und zierlich, lange, goldblonde Locken umrahmten ein schmales Gesicht. Ihre blauen Augen strahlten, die blassen Wangen waren gerötet. Sie trug ein rotes T-Shirt und ausgewaschene Jeans, die engen Kleider betonten ihre fast unpassend weiblichen Formen. „Passen Sie doch auf!“, rügte die Bibliothekarin und rückte an den Büchern herum. „Verzeihen Sie mir, oh Gnädigste! Ich suche meine Schwester!“, rief das Mädchen, das Strahlen wich keinen Augenblick aus ihrem Gesicht. Die Bibliothekarin warf dem grellbunten Schal um den Hals des Mädchens, der den tiefen Ausschnitt des T-Shirts gekonnt betonte, einen missgünstigen Blick zu. Wie die Jungen heute herumliefen! „Sie ist im oberen Zimmer und ordnet Bücher“, gab sie Auskunft und sah hinter dem Mädchen her, das die Treppe hinauf verschwand. Was war es einmal für ein reizendes Kind gewesen … Sie seufzte und wandte sich einem ratlosen Kunden zu.
„Serena? Wo bist du?“, rief das Mädchen, das durch seine jugendliche Frische den Unmut der Bibliothekarin auf sich gezogen hatte, und stürmte in den Raum, in dem sie ihre Schwester vermutete, ohne Antwort abzuwarten. „Hier“, seufzte Serena und sah auf. Ihre kleine Schwester suchte sich prinzipiell die ungünstigsten Momente für ihre Besuche aus. „Serena, ich muss dir etwas erzählen“, verkündete das Mädchen. Sie liebte die große Geste der Dramatik, liebte es, etwas zu erzählen. Sie hatte ständig etwas zu erzählen. Und ihr Opfer war Serena. „Bitte, Sunna, setz dich“, sagte sie. Sie war größer als ihre Schwester und nicht so zierlich. Ihre Haare waren dicht und glatt, fielen in dunkelrot gefärbter Flut weit über ihren Rücken. Ihre Haut war nicht so exquisit hell wie Sunnas, ihre Augen braun, ihr Gesicht rund. Böse Zungen sagten ihr eine Knollennase nach, und wenn sie sich an schlechten Tagen im Spiegel sah, fiel es ihr schwer, ihre beschönigende Beschreibung des Sachverhalts (eine Stupsnase, die etwas zu breit geraten ist) aufrechtzuerhalten. Meist gab sie den Spöttern recht. Doch sie fand, sie sah Janis Joplin ähnlich, und das versöhnte sie mit ihrem Schicksal. Außerdem würde sie es ihrer strahlend hübschen Schwester nie genug danken können, dass sie die Blicke und Aufmerksamkeit der zahllosen alten Tanten und Großtanten auf sich gezogen hatte. Serena wusste zu gut, was an ihr vorübergegangen war. Sie würde ihrem optischen Vorbild Janis Joplin dereinst einen Altar stiften, schwor sie sich fast täglich; ihrer Schwester zahlte sie anders Tribut: Sie hörte ihr zu. Sunna ließ sich einem Paradiesvogel gleich auf einem Sessel nieder und strahlte ihre Schwester sonnig an. „Ich habe mich verliebt“, offenbarte sie. Serena hob nicht den Blick von ihrer Arbeit und schob die Brille den Nasenrücken hinauf. „Ach ja?“, murmelte sie und dachte sich, dass die Woche, in der sich ihre Schwester nicht in irgendein dubioses Wesen verliebte und zu diesem Zweck jenen der Vorwoche abservierte, zum Weltwunder erklärt werden müsste. Die Brille rutschte sofort wieder zur Nasenspitze. Serena fragte sich, wie Janis Joplin ihre Brille gleichen Modells am richtigen Ort gehalten hatte. Sunna schüttelte den Kopf, ihre Locken flogen. „Nein, diesmal wirklich!“, beteuerte sie. „Ach ja“, wiederholte Serena und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Diese blieb ebenso wenig wie die Brille am erwünschten Platz. „Er weiß es noch nicht einmal“, sagte Sunna. Diese Meldung ließ ihre Schwester innehalten und sie mustern. Das war ungewöhnlich. Normalerweise waren diejenigen, in die sich Sunna verliebte, junge Männer – oder etwas Ähnliches – aus ihrem Bekanntenkreis.
5 Sterne
Bittersüßer Nachtschatten - 01.11.2021
Dr. Rudolf Schaudy

Das Taschenbuch "Bittersüßer Nachtschatten - Notturno" habe ich mit Genuss und mancher Gänsehaut gelesen. Von der Darstellung einzelner Szenen war ich besonders begeistert, ebenso von der Fantasie der Autorin. Das gibt Hoffnung auf weitere Publikationen dieser Art im "Novum Buchverlag für neue Autoren", dem meine volle Anerkennung und Bewunderung gebührt.

5 Sterne
Atmosphärisch dicht - 10.06.2021
Everl Kaffeehäferl

Dieses atmosphärisch dichte Vampirmärchen aus der Zeit, bevor Vampire Mainstream waren, ist aus der authentischen Perspektive einer sehr jungen Frau in einer kleinen niederösterreichischen Weinstadt geschrieben - und aus der eines Vampirs. Meisterlich malt die Autorin mit der deutschen Sprache, die sie auf einem heute selten gewordenen Niveau beherrscht, düstere und hellere Bilder der menschlichen Seelen, der Natur, der Stadt und schauriger Vorgänge - Bilder, die einen auch nach dem Lesen des Buches noch lange Zeit nicht loslassen. Auch ein Lächeln kann man sich bei manchen Szenen nicht verkneifen.

5 Sterne
Überraschung über das Buch Bittersüßer Nachtschatten Notturno - 03.04.2021
Monika Triska-Schaudy

„Ich liebe Vampir Geschichten nicht. Um so erstaunlicher war es für mich, daß mich diese Geschichte von Beginn an faszinert und gefesselt hat. Es ist ein Blick auf eine völlig andersartige unbekannte Welt. Die Beziehung, die sich zwischen Simeon Amon und Serena entspinnt ist überaus spannend und wirft in der Folge auch ein klares Licht auf unsere Welt, so wie viele gute Fantasy Geschichten.“

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